Fernsehansprache von Angela Merkel - Feldpredigt mit großen Lücken

Angela Merkels Fernsehansprache zur Coronavirus-Krise gehört in die Gattung der protestantischen Feldpredigt. Die Kanzlerin sprach mit einer für sie ungewöhnlichen Emphase. Doch fünf große Lücken offenbarten sich in der Rede.

Angela Merkel bei ihrer - abgesehen von Neujahrsansprachen - ersten Fernsehansprache ihrer Amtszeit / dpa
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Am 18. März 2020 stieg die Zahl der in Deutschland mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Menschen auf über 12000, den fünften Rang weltweit, verhängte mit der bayrischen Gemeinde Mitterteich die erste deutsche Stadt eine Ausgangssperre, stritt der Berliner Senat mit den Berliner Bezirken, ob man Spielplätze schließen solle, kündigte die österreichische Regierung verschärfte Kontrollen an der Grenze zu Deutschland an, meldete Italien 475 Todesopfer an einem einzigen Tag, über 3000 bisher insgesamt, gab die amerikanische Notenbank bekannt, Dollar-Scheine unter Quarantäne zu stellen, sofern sie aus Europa zurückgeliefert werden, gestand die EU-Kommissions-Vorsitzende Ursula von der Leyen, das Virus unterschätzt zu haben, kollabierten die Öl- und Aktienmärkte abermals. Und am Abend dieses denkwürdigen 18. März 2020 wandte sich Angela Merkel im 14. Jahr ihrer Kanzlerschaft mit einer Ansprache an die Nation. Und was bekam sie zu hören, die Nation? „Diese Situation ist ernst, und sie ist offen.“

Wie „diese Situation“ sich darstellt, ist kein Geheimnis, und ihre Offenheit besteht in der Frage, ob und wie und wann Deutschland sie überwinden wird. Jedem, der in diesen Tagen einkaufen geht, mit Familienangehörigen, Freunden, Ärzten, Behörden, Arbeitskollegen spricht, erschließt sich die Situation unmittelbar. Deutschland geriet in eine fundamentale Krise, auf die das Land schlecht vorbereitet ist. Die Fallzahlen explodieren, vor allem in Nordrhein-Westfalen, und es mangelt an koordiniertem Vorgehen, an Beatmungsgeräten, an Schutzmasken, mancherorts an Lebensmitteln, bald vermutlich schon an Krankenhausbetten und fast überall an Vernunft. Im Dezember vergangenen Jahres verbreiteten sich die Nachrichten vom Coronavirus aus dem chinesischen Wuhan um den Globus. Das ist drei Monate her. Jeden Tag seitdem verliert die Rechtfertigung für spätes Handeln, man habe da etwas unterschätzt, an Plausibilität. Eine ruhige Hand kann Kompetenz und Empathie nicht ersetzen. Vor diesen Hintergrund sticht ein zweiter Satz aus Merkels zwölfminütiger Rede hervor: „Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als IHRE Aufgabe begreifen.“

Deutschlands erste Krankenschwester 

Der Adressat der Rede war die Bürgerschaft, die viermal und für Merkel ganz untypisch als „Gemeinschaft“ bezeichnet wurde, die Gattung der Rede eine protestantische Feldpredigt. Die Regierungschefin sprach zu den Regierten, und zwar „in Zeiten der Not“. Es ging, anders als bei Merkels wurschtigen Auftritten vor wenigen Tagen in der Bundespressekonferenz und im Bundeskanzleramt, nicht um „einschneidende Maßnahmen“ (16. März) im „europäischen Verbund“ (11. März) oder das „gute Konzert“, in dem sich Deutschland „europäischerseits“ (17. März) befinde. Am 18. März sprach nicht die Notarin einer internationalen Ausnahmesituation, sondern Deutschlands erste Krankenschwester. Sie tat es mit für ihre Verhältnisse außergewöhnlicher Emphase. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." Eine dramatische, wenngleich zwiespältige Formulierung: Für wen war denn der Zweite Weltkrieg eine besondere „Herausforderung“, wenn nicht für die vom Deutschen Reich in Brand gesteckten Nachbarn?

Das Handeln, das nun ansteht, soll eine neue Gemeinschaft formen und die Distanz zwischen Regierenden und Regierten aufheben im gemeinsamen Tun, denn „niemand ist verzichtbar. Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengung.“  Um die „Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen“, gelte für jede und jeden: „Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge.“ Die Entkoppelung der Menschen schreitet voran, parallel zur Entzahnung der Staaten. Bis auf Weiteres gebe es „keine Veranstaltungen mehr, keine Messen, keine Konzerte und vorerst auch keine Schule mehr, keine Universität, kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz. Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen. Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.“

Festspiele der Sorglosigkeit

Indem Merkel ausdrücklich das „Spiel auf einem Spielplatz“ unter die suspendierten Vergnügungen zählt, markiert sie scharf den Berliner Sonderweg. Die Festspiele der Sorglosigkeit, die Berlins rot-grün-dunkelroter Senat unter Michael Müller (SPD) veranstaltet, verlassen den Boden der neuen deutschen Gemeinschaft. Müller hatte wenige Stunden zuvor noch erklärt, Spielplatzschließungen unterblieben in Berlin, weil sie „schwierig“ zu kontrollieren seien, wogegen prompt fünf Berliner Bezirke aufbegehrten und doch ein Verbot aussprachen. Wollte man Merkels Feldpredigt als Handlungsanweisung deuten, müsste Berlin nun vom Bund zwangsverwaltet werden. In den Augen der Kanzlerin hat sich die Berliner Stadtregierung ebenso aus dem „solidarischen Handeln“ verabschiedet wie der hamsterkaufende Supermarktegoist. 

Die fünf großen Lücken der Rede liegen offen zutage. Merkel gab sich erstens keine Mühe, ihre programmatische 180-Grad-Wende zu erläutern. Die biografische Anekdote, sie habe „Reise- und Bewegungsfreiheit“ als „ein schwer erkämpftes Recht“ erfahren, musste genügen. Dabei ist kein größerer, kein radikalerer Wandel denkbar von „Sie können die Grenzen nicht schließen“ (7. Oktober 2015) und „Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv,“ (11. März 2020) hin zu den nun verteidigten „verschärften Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen zu einigen unserer wichtigsten Nachbarländer“. Merkel hat ihr vergangenes Reden durchgestrichen und als Gerede entlarvt. Wird das auch einmal für ihre Rede vom 18. März gelten? Zweitens war das Lob für das deutsche „exzellente Gesundheitssystem, vielleicht eines der besten der Welt,“ zu pauschal. Schon jetzt ächzen die Ärzte und Hospitäler unter politischer Fehlallokation. Kann es eine größere Kapitulation geben als die Düsseldorfer Entscheidung, nur noch ausgewählte Verdachtsfälle auf das Coronavirus zu testen

Drittens steht Merkels Plädoyer, „keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen“ Glauben zu schenken, mit einem Bein selbst auf der Seite der Fake-News. Bekanntlich hatte das Bundesgesundheitsministerium offiziell noch am 14. März erklärt, es sei gelogen, wenn jemand behaupte, „massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens“ seien geplant.

Zwei Tage später verkündete die Kanzlerin selbst die bewussten „einschneidenden Maßnahmen“, darunter das Verbot von touristischen Übernachtungen im Inland und das Schließen von Kinos, Theatern, Museen. Wird dieses peinliche Schicksal auch Jens Spahns Beteuerung vom 17. März widerfahren, Privatpersonen bräuchten „für ihren Alltag weder Masken noch Desinfektionsmittel“? 

Appellatives Vakuum

Viertens fehlte der global entscheidende Satz diese Tage: Stay at home! Bleiben Sie zuhause! Dieses appellative Vakuum ist unverzeihlich. Wie konnte das nur geschehen, Frau Merkel, Herr Seibert? Fünftens sparte die Feldpredigt den konkreten Beitrag der Predigerin aus. „Die Bundesregierung tut alles, was sie kann, um die wirtschaftlichen Auswirkungen abzufedern“, hieß es. Alles aber, wissen wir längst, ist die aufgetakelte Schwester von Nichts, zumal das regierungsamtliche Alles eingeschränkt wird durch den Verweis auf die Grenzen des Möglichen. Zwischen Ankündigung und Ausführung läuft ein Graben, den keine Rede überbrückt, besonders in der Kanzlerschaft Merkels.

Nach der Rede wurde bekannt: Auch EU-Bürger können künftig an der Grenze abgewiesen werden. Deutschland schottet sich ab. Der Nationalstaat kehrt zurück. Spät. Zu spät? Das werden die kommenden Tage zeigen, wenn das Virus seinen „Weg durch Deutschland“ (Merkel) fortsetzt. 

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