FDP - Zwischen Höhenflug und Absturz

Weil die FDP nicht das Anhängsel von Union und Grünen werden wollte, hat Parteichef Christian Lindner die Jamaika-Sondierungen platzen lassen. Der Kurs birgt Risiken – aber für die Zeit nach Merkel sieht sich die Partei gerüstet

Keine Partei hat eine solche Achterbahnfahrt hingelegt wie die FDP / Illustration: Martin Haake
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Der Mann, den Christian Lindner einmal seinen „Beichtvater“ genannt hat, setzt sich auf den einfachsten lehnenlosen Stuhl der Sitzgruppe, aufrecht und gerade wie sein makelloser Scheitel. Der akkurate Krawattenknoten wird eingefasst vom V-Ausschnitt eines Genscher-Pullovers, allerdings nicht in Gelb, sondern in Dunkelblau. 

Hermann Otto Solms ist das Kontinuum an der Spitze der FDP, der Mann im Hintergrund und ein Mann buchstäblich aus dem vorigen Jahrhundert. Zuständig für die langen Linien und einer der vier Väter der Wiederauferstehung der Liberalen. Parteichef Christian Lindner und sein Stellvertreter Wolfgang Kubicki stehen im Rampenlicht, Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, ist der Stratege. Der 77-jährige Solms kümmert sich in der Partei um die Finanzen. Irgendwie war er schon immer dabei. In der Ära Genscher und auch in der Ära Westerwelle. Als er 1980 erstmals in den Bundestag einzog, regierten noch SPD und FDP miteinander. Jungspund Lindner war damals gerade ein Jahr alt. In der christlich-liberalen Ära war Solms von 1991 bis 1998 Vorsitzender der FDP-Fraktion. 

Drei strategische Ziele

Solms spricht bedächtig. Sein Schnauzer bewegt sich dabei kaum. Er redet über die liberale Achterbahnfahrt der vergangenen vier Jahrzehnte. Über die Katastrophe von 2013, das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde und die Erkenntnis: Wenn wir es richtig machen, dann kann das auch eine Chance für uns sein. Er redet über die Lehren aus dem Absturz nach vier Regierungsjahren an der Seite von Angela Merkel und über die drei zentralen strategischen Ziele, auf die sich die neue Spitze um Christian Lindner verpflichtet hat. Die FDP muss glaubwürdig sein, sich vom Stigma des billigen Mehrheitsbeschaffers befreien. Und sie muss in der Lage sein, aus eigener Kraft zweistellige Ergebnisse zu erzielen. 

Wenn Hermann Otto Solms den großen historischen Bogen schlägt, ist vom lauten Knall der Nacht des 19. Novembers nicht mehr viel zu hören. Dann ist vor allem von der medialen Aufgeregtheit, von all dem Gesumme und Gebrumme nach dem Auszug der FDP-Verhandler aus den Sondierungen über die Bildung einer Jamaika-Koalition nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Solms ist zutiefst von der Richtigkeit dieses Schrittes überzeugt. Die FDP wäre nur ein Anhängsel von Union und Grünen gewesen, Erfüllungsgehilfe für schwarz-grüne Tagträume. Die drei strategischen Ziele der FDP wären in Gefahr geraten. Auch hätte sich die FDP nicht erlauben können, Angela Merkel zu einer vierten Amtszeit zu verhelfen, ohne vor allem in der Europa-, der Steuer- und der Klimapolitik die Handschrift der FDP im Koalitionsvertrag zu hinterlassen. „Wenn wir die Kanzlerin, die das Volk zu seinem größeren Teil nicht mehr will, an der Macht halten, dann werden wir am Ende dafür abgestraft“, sagt Solms. Die zunächst leicht sinkenden Umfragewerte nach dem Scheitern von Jamaika hält er für verkraftbar, das kurze Tief schon für überwunden. 

Eine politische Zäsur

Das Nein der FDP zu einem Bündnis mit Union und Grünen ist eine politische Zäsur. Diese Entscheidung vom 19. November hat das politische Gefüge in Deutschland mehr verändert als die Wahl vom 24. September mit dem Einzug der AfD in den Bundestag. Seither ist manches aufgebrochen. Vor allem die CSU hat ihren personellen Erneuerungsprozess eingeleitet. Die beiden Wahlverlierer Angela Merkel und Martin Schulz hingegen versuchen, den Status quo in die neue Zeit zu verlängern und entgegen apodiktischer Aussagen auf beiden Seiten eine neue Große Koalition zu schmieden. Aber das Ancien Régime ist geschwächt. Vielleicht wird eines Tages deutlich werden, dass der FDP-Chef Lindner derjenige war, der den ersten entscheidenden Stein aus der scheinbar festen Mauer gezogen hat, die Merkel um sich und ihre Macht errichtet hat. Deren Statik ist seither beschädigt. 

In Turnschuhen, enger grauer Jeans und in taillierter blauer Strickjacke sitzt Christian Lindner halb auf und steht er halb vor einem Tisch in einem Nebenraum der Schwabenlandhalle in Fellbach bei Stuttgart. Es ist der Vorabend des traditionellen Dreikönigstreffens der Liberalen im Stuttgarter Staatstheater, und Lindner tut, was er seit dem 20. November ständig tut: Er erklärt sich, er rechtfertigt sich. Wie der Referendar vor seiner Klasse lehnt er da an dem Tisch und beantwortet die Fragen der angereisten Journalisten. Wenn er innerlich unter Druck stehen sollte, überspielt er dies gekonnt. Ein mokantes Lächeln umspielt seine Lippen, wenn er ohne ausdrückliche Nennung auf einen Artikel aus dem Spiegel Bezug nimmt. Darin war ihm autoritäres Gebaren innerhalb der FDP vorgeworfen worden. Oder wenn er auf Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger antwortet. Die hatte in der Süddeutschen Zeitung zu Dreikönig sein Nein zu Jamaika kritisiert und vor einer zu großen inhaltlichen Nähe zur AfD gewarnt. 

Lindner mit sich und seinem Tun im Reinen

Bei Lindner derselbe Eindruck wie bei Solms: Der Mann ist im Reinen mit seinem Tun, mit dieser weitreichenden Entscheidung. Nichts ist mehr zu sehen von den leicht zittrigen Händen, nichts erinnert mehr an das hölzerne State­ment, das er in jener Nacht vor der baden-württembergischen Landesvertretung vom Zettel ablas. Stattdessen anderntags wieder eine frei gehaltene Rede, die Parteifreunde und Sympathisanten mitreißt. Lindner beklagt eine „vordemokratische“ politische Romantik, was einen Zuschauer im Saal zum Zwischenruf: „Biedermeier!“ animiert. Sagt, man könne ein Land politisch überfordern, aber auch „durch Ambitionslosigkeit unterfordern“. Die Schlagzeile des Aufmachers der ortsansässigen Stuttgarter Zeitung vom Vortag trifft den Geist dieser Rede ganz gut. „FDP will regieren – ohne Merkel“. Selbst eine Minderheitsregierung scheut Christian Lindner nicht. Dann müsse Angela Merkel tun, was sie sonst nie tue: im Parlament ihre Politik erklären, für sie werben und Mehrheiten organisieren. 

Gerhart Baum ist nicht nach Stuttgart gekommen. Er war Innenminister unter Helmut Schmidt und saß bis 1994 in der Fraktion, die Hermann Otto Solms damals geführt hat. Da enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Baum hatte sich unmittelbar nach dem Jamaika-Aus kritisch dazu in einem Radiointerview geäußert. Jetzt sagt er, es sei nicht mehr zu ändern, die Partei müsse sich „mit den Folgen dieser Entscheidung, für die sie die Verantwortung trägt, beschäftigen“. Die Folge sei, „dass die FDP keine politische Gestaltungskraft hat“. Den Verweis darauf, dass die FDP auch über den Bundesrat auf die Bundespolitik Einfluss nehmen könne, hält er für nicht stichhaltig. Die Oppositionsrolle im Bundestag sei vielmehr mühsam und undankbar. Und dann sei da noch die Sache mit den Flüchtlingen. Lindner habe die Flüchtlingspolitik Merkels „sehr heftig kritisiert und lehnt sie heute als Bundeskanzlerin ab“. Nur wie, fragt Baum, „erwehrt sich die FDP da des Beifalls von der falschen Seite?“ Protestwähler aus den Reihen anderer Parteien herauszulösen, sei für die Liberalen „riskant“. Es bestehe die Gefahr, als „Brandbeschleuniger für die AfD“ zu fungieren. Irritationen erkennt Baum auch bei Wählern, die ihn ansprächen: „Wir haben zum ersten Mal FDP gewählt. Was haben die denn da jetzt mit unserer Stimme gemacht?“ Die FDP müsse künftig unter Beweis stellen, „dass sie eine Regierungspartei ist“. 

Der Erfolg der FDP eine Scheinblüte?

Unterschätzt Christian Lindner die Risiken seines Anti-Merkel-Kurses? Verdrängt Hermann Otto Solms die Gefahr, zwischen Union und AfD zerrieben zu werden? Erwarten die Wähler der FDP nicht vielmehr, dass die Partei ihre staats­politische Verantwortung wahrnimmt, auch in einer Jamaika-Koalition? Ist der Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl also doch nur eine Scheinblüte? 

Linda Teuteberg ist eine jener 80 Bundestagsabgeordneten, die davon rofitiert haben, dass viele Wähler im September vergangenen Jahres erstmals die FDP gewählt haben. Sie ist wie viele andere für die FDP als Neuling in den Bundestag eingezogen. Die 36-jährige Brandenburgerin war zuvor Abgeordnete im Potsdamer Landtag und gehört zu jenen jungen Frauen, die in der FDP in den vergangenen Jahren besonders gefördert wurden. 

Teuteberg räumt ein, die Reaktionen auf das Jamaika-Aus seien in ihrem Umfeld „gemischt“ gewesen. Sie selbst hält sich mit einem dezidierten Urteil zurück, plädiert dafür, die Entscheidung weder in die eine noch in die andere Richtung zu überhöhen. Bei ihr an der Basis in Brandenburg habe es allerdings nur einen Austritt gegeben, der unmittelbar darauf Bezug nahm. Überwiegend gebe es verständnisvolle und wohlwollende Reaktionen. 

Das ist überhaupt das Muster der Stimmung, wie man sie auch in Stuttgart zu spüren bekommen kann: Die enorme Erregung, die Lindners Nein in der medialen Öffentlichkeit ausgelöst hat, lässt sich in den Reihen der FDP nicht so recht nachvollziehen. In dem Hotel, in dem Linda Teuteberg übernachtet, trifft sie am Vorabend von Dreikönig auf ein Grüppchen Liberaler aus Thüringen, das zusammen mit dem Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich eigens angereist ist. Denen, so wird schnell klar, ist eher ein Stein vom Herzen gefallen. Eine Koalition mit den Grünen wäre vor allem im ländlichen Raum in Thüringen, außerhalb der großen Städte wie Jena oder Erfurt, schwer vermittelbar gewesen. 

Deutschland kann sich Merkel nicht mehr leisten

In der Woche nach Dreikönig. Marco Buschmann hat in seinem Parlamentsbüro mit Blick auf den Reichstag gerade seinen Schreibtisch eingeräumt. Als Bundesgeschäftsführer der FDP war Buschmann verantwortlich für die viel gelobte Wahlkampagne der Liberalen und damit Regisseur des Wahlerfolgs. Jetzt ist er als Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion dort die rechte Hand Lindners und zugleich erster Ansprechpartner der Abgeordneten. Der PGF ist in der Fraktion eine Art Majordomus, der Hausmeier. Auch Buschmann verteidigt die Absage der FDP an Jamaika und verweist auf die inhaltlichen Knackpunkte Europa, Klima und Innovation. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass am Tag des Gesprächs mit ihm die Union und die SPD in ihren Sondierungsgesprächen einräumen müssen, dass die Klimaziele 2020 nicht mehr zu erreichen seien. Es war einer jener Punkte, auf den die FDP immer hingewiesen und an dem sich Jamaika verkantet hatte.

Es geht Buschmann beim Nein der FDP an die Adresse Merkels allerdings vor allem um etwas, das der vorlaute Zuschauer in Stuttgart „Biedermeier“ genannt hatte und Buschmann in einer anderen historischen Anleihe „Quietismus“ nennt. Die Ruhe des gemütlichen Nichts. Merkel ruhe sich auf der Tatsache aus, dass die allgemeine und vor allem die wirtschaftliche Lage in Deutschland so komfortabel seien. „Aber große Erfolge zeugen große Krisen“, sagt Buschmann und setzt etwas sauer lächelnd hinzu: „Wer wüsste das besser als wir Freidemokraten?“ In all jenen Belangen, in denen Deutschland einmal führend gewesen sei, „werden wir von anderen überholt“. Präzision, Perfektion, Innovation. 

Deutschland kann sich eine Kanzlerin Merkel nicht länger leisten: Das ist die Grundmelodie, die aus der FDP schallt in den Tagen und Wochen nach dem Aus von Jamaika. Keinem Auslaufmodell zu einer Ehrenrunde verhelfen – das ist das Prinzip, nach dem sich Christian Lindner und die FDP einer Koalition mit Angela Merkel verweigert haben. Neuwahlen, so hat es Lindner in Stuttgart verkündet, fürchte seine Partei nicht. Gemeint ist: nicht politisch und auch sonst nicht. 

Das erinnert an den Besuch bei Hermann Otto Solms, den Mann mit dem Pullover über der Krawatte. Abgesehen von zwei Unterbrechungen ist Solms seit 30 Jahren Schatzmeister der Partei. Und noch nie hat er über eine so prall gefüllte Spendenkasse verfügt wie dieser Tage. Die staatliche Parteienfinanzierung angesichts eines zweistelligen Wahlergebnisses sowie steigende Beiträge angesichts eines Mitgliederzuwachses von 20 Prozent übers vergangene Jahr tun ein Übriges. Jederzeit wäre die FDP in der Lage, einen weiteren Wahlkampf zu finanzieren, sagt Solms – im Unterschied zu ihren Wettbewerbern. Es ist das einzige Mal, dass sich der Schnurrbart bei einem leisen Lächeln bewegt. 

 

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