Evidenzbasierte Medizin in der Corona-Krise - „Wir können von einem Versagen der Wissenschaft sprechen“

Empirie, Evidenz, eine Kultur des Hinterfragens - all das fehlte in der Corona-Krise von Anfang an, sagt der Epidemiologe und IQWiG-Chef Jürgen Windeler. Stattdessen herrschten in Politik und Medien eine blinde Autoritätsgläubigkeit sowie eine selektive Wahrnehmung wissenschaftlicher Studien vor. Wesentliche Daten zum Infektionsgeschehen fehlen bis heute.

Wissenschaft lebt von Wiederholbarkeit / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Der 1957 geborene Arzt und Epidemiologe Jürgen Windeler leitet seit 2010 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Das Institut wurde 2004 unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gegründet, um die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Patientenversorgung in Deutschland zu verbessern. Das IQWiG kümmert sich vorwiegend um eine evidenzbasierte Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes sowie um Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen. Genug Knowhow für eine Pandemie, sollte man meinen. Doch in der aktuellen Corona-Krise hat Windelers Institut interessanterweise keine Rolle gespielt.

Herr Windeler, als mehr oder minder passiver Beobachter der Corona-Krise hat man in den vergangenen zwei Jahren interessante Buchstabenkombinationen lernen dürfen: DIVI, RKI, PEI. IQWiG indes, das von Ihnen geleitete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen war in der Regel nicht mit dabei. Woran lag das?

Das IQWiG ist eine auch international anerkannte HTA-Institution, die sich mit der Bewertung von medizinischen Maßnahmen beschäftigt. Das Institut ist aber im System der Gesetzlichen Krankenversicherung angesiedelt, und die Pandemie ist nur indirekt eine Angelegenheit der Krankenkassen. Da das IQWiG seine Aufträge in der Regel vom Gemeinsamen Bundesausschuss bekommt, hatte es in der Abwicklung der Pandemie keine speziellen Aufgaben und also keine wesentliche Rolle.

Aufgrund Ihrer Verfasstheit könnten Sie aber durchaus Aufträge vom Bundesgesundheitsministerium bekommen.

Ja, das Ministerium kann uns Aufträge erteilen. Wir haben in den letzten Jahren auch solche Aufträge bearbeitet. In Zusammenhang mit der Pandemie gab es aber keine Kontaktaufnahme. Auch andere Institutionen der evidenzbasierten Medizin, etwa die Cochrane-Zentren in Freiburg und Österreich, sind von den jeweiligen Regierungen nicht einbezogen worden.

Heißt das, die Politik hat in der aktuellen Krise kein Interesse an Evidenz?

Evidenzbasierte Medizin (EbM) hat in der Pandemie in der Tat keine große Rolle gespielt. Ich habe sogar den Eindruck, dass viele, die derzeit als wissenschaftliche Player auftreten oder als solche angesprochen werden, nicht einmal wissen, was sich hinter evidenzbasierter Medizin verbirgt.

Herr Drosten hat in einem seiner frühen Corona-Podcasts sogar gesagt, dass er nicht wisse, was sich hinter dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin verberge, dem sie selbst ja von 2005 bis 2007 vorgestanden haben.

„... so ein Papier von einem Netzwerk“, nannte er die Stellungnahme einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft – ein typisches Beispiel für die Diskussionskultur in der Pandemie. Aber auch schon in den Jahren vor der Pandemie war EbM nicht ausreichend präsent und verankert. Die aktuelle Situation hat das Problem nur noch einmal verdeutlicht. 

Woran liegt das?

Das hat mehrere Gründe. Wir haben hierzulande keine Kultur der empirischen Betrachtung und des ruhigen Hinguckens. Da sind die Engländer oder die Skandinavier viel besser. Wir glauben gerne, dass die Autoritäten und Kapazitäten das schon irgendwie sortieren. Zudem gibt es eine durchaus verständliche Unlust an dem Thema. Denn evidenzbasierte Erkenntnisse schränken auch die Freiheit der Entscheider ein – eine Konsequenz, die ja gewollt ist. Und zuletzt mag Evidenz auch Interessen stören, die man mit „Industriestandort Deutschland“ zusammenfassen kann. Denn wenn wirklich nur die zuvor geprüften Dinge auf den Markt kommen, dann baut man Hürden auf. 

In der Corona-Krise scheint uns diese Feindlichkeit gegenüber Evidenz nun aber auf die Füße zu fallen. Ist nicht die oftmals fehlende Evidenz mitverantwortlich für lückenhafte, ja teilweise sogar falsche Daten?

Es ist international viel geforscht worden. Dadurch haben sich die Erkenntnisse über die Pandemie natürlich verbessert. Aber wichtige Dinge wissen wir noch immer nicht. Und die offenen Fragen haben in Deutschland nicht zu einer Wertschätzung der evidenzbasierten Medizin geführt. In den ersten Wochen der Pandemie waren alle sehr aufgeregt. Auch die Medien haben nur auf die virologisch versierten und die modellierenden Frauen und Männer geguckt. An Evidenz hat kaum jemand gedacht. Das kann ich in dem initialen Alarmzustand sogar noch verstehen. Aber an dieser Situation hat sich auch später nichts verändert. Zumindest in der letzten Legislatur hat Evidenz, wie wir sie verstehen, keine spürbare Rolle gespielt.

Vielleicht definieren Sie noch einmal kurz, wie Sie diesen Begriff genau mit Inhalt füllen.

Jürgen Windeler / IQWIG

Evidenzbasierte Medizin meint eine medizinische Versorgung, die sich nicht allein auf Meinungen, Übereinkünfte und Grundlagenwissen stützt, sondern auf Belege in der Anwendung – auf Evidenz. Solche Belege finden sich in aussagekräftigen wissenschaftlichen Studien. Evidenz bedeutet, dass man sich um die Vor- und Nachteile, um den Nutzen und Schaden von getroffenen Entscheidungen, von Maßnahmen und Interventionen kümmert. Am besten macht man das vor der jeweiligen Entscheidung, indem man entsprechende Studien mit Vergleichsarmen aufsetzt, damit die Ergebnisse auch aussagekräftig sind. In der Pandemie war eine vorgelagerte Evidenz aus naheliegenden Gründen nicht immer möglich; aber dann hätte man wenigstens begleitend für Evidenz sorgen müssen. Da ist bei uns sehr, sehr wenig passiert. Im Herbst 2021 wurde der initiale Plan zur Evaluation der Pandemie-Entscheidungen kurz thematisiert, aber die allgemeine Zögerlichkeit war mit Händen zu greifen. Ich habe nicht den Eindruck, dass wirklich Interesse an aussagekräftigen empirischen Ergebnissen besteht.

Erwarten Sie sich eine Kurskorrektur durch den neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach – immerhin war der einst Gründungsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierter Medizin?

Die Frage kann ich mit einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten. Und ich setze dahinter noch ein Ausrufezeichen. Karl Lauterbach hat noch im Oktober in einem Interview betont, dass er einer der Gründungsväter unseres Instituts unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gewesen ist. Und auch in seiner ersten Twitter-Botschaft als Gesundheitsminister hat er die Evidenzbasierung seiner Politik zum Ausdruck gebracht. Dass er noch während der Pandemie das Ruder rumwirft, kann ich mir zwar nur schwer vorstellen. Aber was die kommenden Jahre angeht, da erwarte und wünsche ich mir in der Tat mehr Evidenzbasierung. 

Am Beginn jeglicher Evidenz stehen Fragen und Zweifel. Oft hat man den Eindruck, schon die sind in der aktuellen Situation nicht wirklich gewünscht. 

Wir haben vollkommen ausgeblendet, dass Fragen und Zweifeln wichtig ist. Schlimmer noch: Es wurde in den letzten zwei Jahren ein Bild von Wissenschaft gezeichnet und bejubelt, das großenteils ein Zerrbild ist. Wir könnten genauso gut von einem Versagen von Wissenschaft sprechen, wenn man diese als beständige Suche und stetes Hinterfragen ansieht und nicht als das Verkünden letztgültiger Wahrheiten. Vielleicht wird es jetzt gerade ein bisschen besser. Aber bei zu vielen Themen wurden die Fragensteller in der Vergangenheit gleich in eine bestimmte Ecke gestellt. 

An welche Fragen denken Sie da?

Generell an die Fragen, ob die politischen Entscheidungen und Expertenempfehlungen zum Pandemiemanagement sinnvoll, „alternativlos“, waren, welche Folgen sie außer auf Inzidenzwerte gehabt haben und ob die Vorteile die negativen Konsequenzen überwogen. War es z.B. sinnvoll und notwendig, Schulen, Universitäten und Kultureinrichtungen monatelang zuzumachen? Mittlerweile haben wir da ja mehr und mehr interessante Erkenntnisse. Aufschlussreich wird daher sein, wie offen man später über diese wird diskutieren können. 

Fragen muss man sich aber auch leisten können. Sie selbst haben Ende letzten Jahres auf eine interessante Studie der Universität Basel verwiesen, die unter anderem zu dem Ergebnis kam, dass die meisten Studien zu Corona und Covid-19 pharmafinanziert waren. Ist in einer solchen Gemengelage offenes Fragen überhaupt möglich und gewollt? 

Die Hauptaussage der Studie war, dass es überhaupt nur marginale Beiträge aus Deutschland gab. Auch schon vor der Pandemie wurden klinische Studien in Deutschland vorwiegend von der Pharmaindustrie finanziert und dienten dazu, die Zulassung von Medikamenten vorzubereiten. Andere Studien, die auf Grundlage evidenzbasierter Methoden durchgeführt werden und deren Ergebnisse somit einigermaßen belastbar sind, sind dagegen bei uns Mangelware. Das „offene Fragen“ wird aber nicht durch die Industrie behindert, sondern durch eine weitgehend fehlende Fragekultur, vor und in der Pandemie. Sie äußert sich darin, dass Erkenntnisse aus guten Studien nicht nachgefragt werden. Dann macht sie auch keiner. 

Welche Daten und Studien fehlen denn Ihrer Meinung nach?

Es fehlen Daten zum eigentlichen Infektionsgeschehen. In der ersten Phase der Pandemie waren zum Beispiel regelmäßig Handwerker bei mir daheim. Die hielten von Masken und Schutzmaßnahmen relativ wenig. Ich habe dennoch nie eine Auswertung gesehen, nach der Handwerker übermäßig häufig von Corona infiziert gewesen wären. Ähnliches gilt für Kassiererinnen im Supermarkt. Die Frage also, wer sich wo infiziert, liegt eigentlich immer noch im Nebel. Zudem ist auch immer noch nicht geklärt, welche Maßnahmen unter der Abwägung aller Vor- und Nachteile am sinnvollsten sind. Es gibt Dinge, die leuchten ein: Wenn ich mir etwa eine neue FFP2-Maske sorgfältigst aufsetze, ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf diese Weise Viren abgehalten werden, hoch. Gilt das aber auch noch für den alltagsüblichen Umgang mit derlei Masken, wie ich ihn in meiner direkten Umgebung beobachte? Auch hat man sich nur selten um die Nebenwirkungen der Maßnahmen gekümmert. Im Gegenteil: Es gab Phasen, da wurden allein Fragen danach als Häresie angesehen. Bei jedem Arzneimittel würde man sagen: Wir untersuchen Wirkung und Nebenwirkung und dann setzen wir sie ins Verhältnis. Das ist in der Pandemie aber kaum passiert. Auch die Diversität zwischen – sogar innerhalb - der Bundesländer ist nicht für Vergleiche und Erkenntnisgewinn genutzt worden. Und so wissen wir außer über die sehr vordergründigen Erfolgsmeldungen sehr wenig über die Konsequenzen der vielen Entscheidungen. 

Es gibt indes Wissenschaftler und Ärzte – gerade auch aus dem Bereich der evidenzbasierten Medizin –, die scheinen vielleicht sogar zu viel gefragt zu haben. Jüngst etwa sorgte der Fall des deutschen Mediziners Andreas Sönnichsen für Furore. Der hat seinen Lehrstuhl an der MedUni Wien verloren, weil er zu starke Vorbehalte und Fragen gegenüber der Covid-Impfung hatte. Hat sich hier nicht ein Skeptiker verrannt?

Die interessante Frage ist für mich, wie ein Mensch eigentlich an solch einen Punkt kommt, wo er sich „verrennt“, wenn man es denn so nennen will. Letztlich hat vermutlich auch dieser Fall mit einer mangelnden Diskussions- und Fragekultur zu tun. Und so ist vielleicht erklärlich, dass die Frustration viele Wissenschaftler in die Resignation und einen verbreiteten Zynismus geführt hat, während andere irgendwann derart bedrückt sein mögen, dass sie in eine inhaltlich fragwürdige Offensive gehen. 

Kehren wir noch einmal zu den offenen Fragen zurück. Sie selbst haben sehr früh darauf hingewiesen, dass für Sie die Frage der Infektionssterblichkeit vollkommen offen sei. Haben Sie da mittlerweile Antworten erhalten?

Ich behaupte, dass kein Mensch die Infektionssterblichkeit wirklich kennt und dass die genaue Zahl auch heute niemanden mehr interessiert.

Bitte? Das ist doch der Dreh- und Angelpunkt der Debatte.

Nein. Ein sehr wichtiger Aspekt ist zweifellos, wer durch die Infektion besonders, mehr als andere, gefährdet ist. Auch die Relation – mit 80 ist es x-mal gefährlicher als mit 20 – ist von Interesse. Aber unter Infektionssterblichkeit verstehe ich die Sterblichkeit nach einer Infektion. Da wir zwar die Zahl der an Corona verstorbenen Menschen kennen oder kennen könnten, aber die Zahl der Infektionen aufgrund der Dunkelziffer nicht kennen, kennen wir auch die Rate nicht. Es gab verschiedenste seriöse Abschätzungen, die zwischen grob 0,2% und 2% lagen, sich also schon im Faktor 10 unterschieden. Aber unter Impfungen, neuen Virusvarianten, verbesserten Therapien und geänderten Verhaltensweisen gelten diese Zahlen sicher nicht mehr. „Kennen“ im Sinne von ausrechnen können werden wir die Infektionssterblichkeit nicht. 

Es gibt noch eine andere Frage, auf die es keine Antwort gibt: Warum hat es nie die immer wieder geforderte repräsentative Kohortenstudie zum Infektionsgeschehen gegeben? Werden wir auch hier für immer auf eine Antwort warten müssen?

Ich kann Ihnen die Frage nach dem „Warum“ auch nicht beantworten. Ich kann nur feststellen, dass explizite Bemühungen – sogar mit Vorstelligwerden bei den relevanten Ministerien  – abschlägig beschieden wurden. Man hat gesagt, dass man daran kein Interesse habe und auch nicht zuständig sei. Auch die bestehende Nationale Kohorte wurde nicht genutzt. Jetzt könnte man natürlich unterstellen, dass die Verantwortlichen das nicht gewollt haben. Ich vermute indes, dass den Beteiligten einfach nicht klar gewesen ist, wozu man derlei Zahlen gebrauchen kann. Ich wiederhole mich da, aber ich merke immer wieder, dass es in Deutschland die Haltung gibt: „Hingucken? Daten erheben? Vergleichen? Was soll das bringen? Das haben wir doch noch nie gemacht!“ Das ist eine weit verbreitete Grundhaltung. Und die spielt eine weit größere Rolle als interessegeleitete Überlegungen. 

Die Fragen stellte Ralf Hanselle.

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