Erneuerbare Energien - „Es geht um Akzeptanzgewinnung“

„Fit for 55“ – so lautet der Name des europäischen Klimaschutzprogramms, das heute von EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans vorgestellt werden soll. Auch in Deutschland soll bis 2030 einiges passieren. Im Gespräch mit Simone Peter vom BEE über nachhaltige Energien und zu niedrige Prognosen des Wirtschaftsministeriums.

Windpark „Odervorland“ im Landkreis Oder-Spree in Ostbrandenburg / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Simone Peter war bis 2012 Ministerin für Umwelt, Energie und Verkehr im Saarland und bis 2018 Co-Vorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Heute ist sie Präsidentin des Dach- und Lobbyverbands Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE).

Wirtschaftsminister Altmaier korrigierte gestern die Anfang 2020 veröffentlichten Zahlen zum voraussichtlichen Stromverbrauch Deutschlands im Jahr 2030. Von 580 Terawattstunden auf 645 bis 665 Terawattstunden ist das ein ganz schöner Sprung.

Ja, endlich erkennt das Bundeswirtschaftsministerium, dass die bisherigen Annahmen viel zu niedrig waren, um den wachsenden Strombedarf durch Elektromobilität, Wärmepumpen und Grünen Wasserstoff zu decken. Wir haben schon vor Jahren vor einer Ökostromlücke gewarnt und im Frühjahr diesen Jahres unser BEE-Szenario (Szenario über den Stromverbrauch 2030 des Bundesverbands erneuerbare Energien, Anm. d. Red.) für 2030 auch noch einmal an das höhere CO2-Minderungsziel der Bundesrepublik angepasst. Im Klimaschutzgesetz ist festgelegt, dass die CO2-Emissionen um 65 Prozent bis 2030 gesenkt werden müssen. Entsprechend müssen die Ausbauziele für erneuerbare Energien als Schlüsseltechnologien für den Klimaschutz erhöht werden. Aufgrund einer verstärkten Sektorenkopplung wird der Brutto-Stromverbrauch nach unseren Berechnungen von 571 Terawattstunden im Jahr 2019 auf 745 Terawattstunden im Jahr 2030 steigen.

Das sind knapp 100 Terawattstunden mehr als in der Prognose des Wirtschaftsministeriums. Wie kommt die Differenz zustande?

Wir glauben, dass wir viel mehr Wertschöpfung aus heimischem grünen Wasserstoff generieren können und nicht alles importieren müssen. Auch wenn es Importe geben muss, weil die Industrie – von Stahl bis Chemie – einen riesigen Bedarf hat. Der Aufbau eines Heimatmarktes von Elektrolyseuren und die entsprechende Infrastruktur sollte schon jetzt mitgedacht werden.

Wie sehr müssten erneuerbare Energien laut Ihrer Prognose bis 2030 ausgebaut werden? 

Wir müssten uns von 242 Terawattstunden grünem Strom im Jahr 2019 auf gut 575 Terawattstunden im Jahr 2030 steigern, was einem Anteil von 77 Prozent im Stromsektor entspricht. Das geht vor allen Dingen durch den massiven Zubau von Photovoltaikanlagen und Windanlagen an Land. Aber auch Bioenergie, Wasserkraft und Geothermie müssen ihren Beitrag leisten. Es gibt noch viel erschließbares Potenzial, wobei es derzeit besonders um die Bereitstellung von Flächen und Genehmigungen, aber auch um Akzeptanzgewinnung geht. Nur etwa zwei Prozent eines jeden Bundeslands ist mit Windenergieanlagen auszurüsten, und geeignete Dachflächen für Photovoltaik gibt es noch zuhauf.

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In den letzten Jahren ging der Ausbau erneuerbarer Energien aber zurück?

Nein, das war nicht stetig so. Bis zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2017 gab es beispielsweise einen hohen Zubau von ungefähr 5000 Megawatt Windenergie an Land pro Jahr. Von diesen Werten in den Jahren 2014 bis 2017 sind wir jetzt weit entfernt, weil sich die Bedingungen im EEG verschlechterten und zudem die Genehmigungsdauer immer länger wurde und Projekte beklagt wurden. Aber auch die Photovoltaik musste Einschläge hinnehmen und erholt sich erst langsam. Obwohl beide Technologien längst wettbewerbsfähig sind, wurden ihnen viele Hürden in den Weg gelegt.

Sind die erneuerbaren Energien von heute überhaupt ausgereift genug, um in Deutschland so viel Strom zu produzieren?

Dass sie ausgereift sind, zeigen die günstigen Preise an der Strombörse. Deshalb müssen gerade Solar und Windenergie überall noch mehr ausgebaut werden, flankiert von den anderen Erneuerbaren Energien sowie von Speichern und grünem Wasserstoff. Besonders in Süddeutschland besteht großer Nachholbedarf, denn dort sitzen die großen Verbraucher, die nicht länger Atom- oder Kohlestrom nutzen wollen, sondern verstärkt erneuerbaren Strom einsetzen, um ihre Klimaziele zu erfüllen. Letztlich scheint immer irgendwo die Sonne oder es weht der Wind.

Simone Peter / BEE

Und was passiert, wenn das mal nicht der Fall ist?

Dann springen Bioenergie, Geothermie und Wasserkraft flexibel ein, zunehmend auch Speicher. Außerdem muss europäisch gedacht werden: Wir sind in einem europäischen Energienetz und können gemeinsame Stromerzeugungs-, verteilungs- und Speicherkapazitäten intelligent nutzen. Mit Erneuerbaren Energien, Speichern und grünem Wasserstoff sowie zunehmender Digitalisierung werden wir in Zukunft dieses Energiesystem sicher und zuverlässig tragen können. Peter Altmaier hat auch gerade in der Pressekonferenz deutlich gemacht, dass wir weltweit mit die geringsten Stromausfallzeiten in Deutschland haben und das, obwohl der Anteil erneuerbarer Energien im Netz schon rund 50 Prozent beträgt. Jetzt muss der Strommarkt noch mehr den Bedürfnissen der Erneuerbaren angepasst werden. Denn er wird flexibler und weniger nach den starren fossilen Großkraftwerken ausgerichtet. Das bringt enorme Effizienzgewinne.

Aber in der Realität ist es doch momentan so, dass im Falle von Energieengpässen auch gerne mal Strom aus Frankreich importiert wird. Das heißt Atomstrom.

Das stimmt zu manchen Zeiten, aber unterm Strich exportieren wir nach wie vor mehr Strom nach Frankreich und in andere europäische Länder. Wenn im Sommer die französischen Flüsse zu trocken sind und es nicht genug Kühlwasser für die Atomkraftwerke gibt zum Beispiel. Die Zukunft ist auch in puncto Strom europäisch und vernetzt. Mit der Energiewende in ganz Europa können wir zusammen ehrgeizige europäische Ziele erreichen und in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten die Versorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren schaffen.

Stichwort Akzeptanz: Viele Menschen haben nichts gegen nachhaltige Energie, aber wehren sich dagegen, ein Windrad hinter ihrem Haus oder auf dem nächsten Hügel stehen zu haben.

Nun, wir müssen stärker für die Bedeutung der Energiewende als Schlüssel für den Klimaschutz, Job- und Innovationsmotor werben. In vielen Regionen Deutschlands erleben wir, dass Bürgerinnen und Bürger toleranter gegenüber baulichen Veränderungen sind, wenn sie in der Planung beteiligt werden. Die direkte Beteiligung an Anlagen, ob über Genossenschaften oder Stadtwerke, erhöht die Akzeptanz weiter. Auch Kommunen können jetzt besser beteiligt werden. Deutschland sollte auch endlich die europäischen Vorgaben zu „Energie Sharing“ umsetzen, um die bürgernahe Energieerzeugung und -verteilung vor Ort zu fördern. Prozesse für den Bau von Windrädern und anderen technischen Anlagen müssen schlanker und leichter werden, aber eben nicht auf Kosten des Umweltschutzes. Beides ist miteinander vereinbar.

Auch beim Artenschutz?

Ja, wenn man zukünftig stärker bedenkt, dass nicht einzelne Vögel relevant sind für den Erhalt der Art, sondern der Schutz der ganzen Population dieses Vogels und Veränderungen zudem großräumiger gesehen werden, lassen sich Klima- und Artenschutz verbinden. Klimaschutz ist auch Artenschutz, das sehen wir, wenn Wälder brennen aufgrund von Hitze und Trockenheit durch die zunehmende Erderwärmung. Es bräuchte zudem eine standardisierte Artenschutzbetrachtung, die über Bundesländergrenzen hinweg gilt. Das schafft mehr Planungssicherheit für Investoren, aber auch für Naturschutzverbände.

Unterschätzen Sie nicht ein bisschen die Widerstandskraft von Bürgerinitiativen, die sich gegen den Bau von Windparks in ihrer Nachbarschaft wehren?

Das lässt sich ändern. In der Vergangenheit wurde oft zu negativ über Erneuerbare Energien gesprochen: zu teuer, zu viele Umweltauswirkungen, nicht sicher genug. Dabei ist das Gegenteil längst bewiesen. Also muss die Notwendigkeit von grüner Energie und deren Chancen für die Klimaziele und auch ihre Wertschöpfung vor Ort besser kommuniziert werden. Durch erneuerbare Energien können weitere neue Arbeitsplätze entstehen, und durch die stärkere Kopplung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität auch im Automobilbereich oder der Industrie. Deswegen ist die Energiewende wichtig.

Seit 2007 sinkt der Stromverbrauch in Deutschland kontinuierlich. Aber werden wir nicht irgendwann ein Maximum unseres Stromeinsparpotenzials erreichen?

Nein, wir sind längst noch nicht am Ende der Effizienzentwicklung. Wir gehen von einer weiteren positiven Entwicklung im Sinne der Effizienz aus, wenn innovative Technologien zum Einsatz kommen. Allein der Wechsel von der Verbrennung von Kohle hin zu erneuerbaren Energien macht die Stromherstellung effizienter. Dazu kommen die vielen intelligent verbundenen Technologien im Alltag, zum Beispiel der Batterie im Elektroauto mit Haushaltsgeräten. Dieser Energieträgerwechsel muss aber auch bei Mineralöl und Gas geschehen. Hierzu stehen Erneuerbare Wärmetechnologien und alternative Treibstoffe aus erneuerbaren Energien zur Verfügung.

Nun haben wir in Deutschland den zweithöchsten Strompreis in Europa, gerade aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen erneuerbarer Energien.

Das stimmt vor allem für private Verbraucher, aber auch kleine und mittlere Unternehmen. Für große Teile der Industrie gibt es viele Entlastungen von der EEG-Umlage, den Netzentgelten und anderen Gebühren.

Aber für private Haushalte ist das ja ärgerlich genug.

Es ist grundsätzlich richtig, dass der Strompreis gesenkt werden muss. Er steht nämlich auch der Sektorkopplung, also beispielsweise dem Einsatz von Wärmepumpen, entgegen. Doch die neuen erneuerbaren Energieanlagen tragen lediglich zu 0,1 Cent pro Kilowattstunde in diesem Jahr zur EEG-Umlage bei. Es wäre deshalb besser, wenn die Entlastungen der Industrie nicht mehr über die Umlage, sondern direkt als Wirtschaftsförderung über den Bundeshaushalt finanziert würden. Wenn zudem die Stromsteuern auf das europäische Minimum gesenkt würden, käme es zu Ersparnissen von 3,5 Cent pro Kilowattstunde.

Aber gibt eine solche Änderung der Strommarkt überhaupt her?

Wir arbeiten derzeit an einem völlig neuen Strommarktdesign, das auf erneuerbare Energien ausgerichtet ist. Die erneuerbaren Energien führen heute schon dazu, dass der Strompreis an der Börse massiv gesenkt wird. Das Problem dabei ist, dass die Differenz zwischen dem Einkaufspreis für Strom und den Zahlungen für die Einspeisevergütung stetig steigt und so den Strompreis verteuert. Deswegen brauchen wir eine Reform der Abgaben und Umlagen, um nach einer neuen Systematik die Kostenvorteile der erneuerbaren Energien auch an die Verbraucher zurückzugeben.

Peter Altmaier sprach auch davon, dass der Stromverbrauch abhängig von den gewählten Energieträgern in der Produktion und Industrie ist. Sollte also in der Industrie eher mit grünem Wasserstoff oder mit Strom gearbeitet werden?

Unseren Berechnungen nach ist es besser, Strom direkt einzusetzen. Das sieht man auch beim Fokus der Automobilindustrie auf Elektromobilität anstatt Wasserstoffmobilität. Wasserstoff ist ein tertiärer Energieträger, das heißt, er wird dreimal umgewandelt, bis er dann im Auto ist. Und das kostet Energie und Geld. Nichtsdestotrotz brauchen wir auch große Mengen an grünem Wasserstoff, aber eben vor allem für die Industrie und nicht prioritär für Autos oder Heizungsanlagen. Zumal es hier günstigere Alternativen gibt. 

Die Fragen stellten Moritz Gathmann und Alissa Kim Neu.

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