Epidemiologe Mansmann zur Corona-Pandemie - „Jens Spahn hat aufs falsche Pferd gesetzt“

Vor Weihnachten wurde viel spekuliert über stark ansteigende Corona-Zahlen. Jetzt ist 2020 vorbei. Der Epidemiologe Ulrich Mansmann zieht im Interview ein erstes Fazit über die Festtage und bewertet die deutsche Impfkampagne.

„In den nächsten drei Monaten werden wir vier bis fünf neue Impfstoffe dazu bekommen“ / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Prof. Dr. Ulrich Mansmann ist Direktor des Instituts für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBM) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Herr Mansmann, vor der Weihnachtszeit wurde viel spekuliert, dass uns das Weihnachtsfest viele Neuinfektionen bringen wird. Die Weihnachtszeit jetzt vorbei. Was ist Ihr bisheriges Fazit von Weihnachten?
Ich habe das Gefühl, dass die Leute sehr aktiv waren. In meinem Ort, in dem ich lebe, war auf den Straßen und in den Geschäften sehr viel los, auf den Autobahnen war viel Verkehr. Hier in Bayern sind die Leute in die Skigebiete geströmt, anderswo zum Wandern. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Leute sehr vorsichtig verhalten haben. Ich bin gespannt. 

Aber die Menschen auf der Autobahn fahren zu ihren engen Familienangehörigen und bleiben dann unter sich, es gehen nur wenige Leute zur Arbeit, die Schulen sind geschlossen. Eigentlich leben wir doch gerade im perfekten Lockdown.
Ein perfekter Lockdown ist das nicht. Das kann noch härter werden. Viele haben sich Schnelltests besorgt, wenn sie sich gegenseitig besucht haben. Die Leute haben sich also auf die Situation eingestellt, aber ob es einen durchschlagenden Erfolg hatte, ist schwer abzusehen. 

Sie können sich also viele Infektionen durch das Weihnachtsfest vorstellen?
Ich kann mir zumindest vorstellen, dass es nicht zu einem massiven Rückgang der Zahlen kommt. Jetzt über die Weihnachtszeit hatten wir 4 Tage, an denen es wenige Testmöglichkeiten gab, an denen Gesundheitsämter geschlossen waren und an denen wenige Infektionen gemeldet wurden. Dieser Rückstand wird in den nächsten Tagen sicher wieder aufgeholt. Wir haben derzeit kein klares Bild über die wirklichen Neuinfektionen der letzten zwei Wochen.

Wenn jetzt viele Infektionen unter dem Radar laufen, müssten die Todeszahlen in ein bis zwei Wochen einen Sprung nach oben machen. Wenn die Infizierten, die man jetzt nicht auf dem Schirm hat, versterben. Wird man einen solchen Sprung sehen?
„Unter dem Radar“ wird es nicht geben. Es gibt bei Infektionen eine gesetzliche Meldeplicht. Die Infektionen werden im Verlauf der nächsten Woche nachgetragen. Heute fand auch ein Nachtragen statt, wodurch wir bei etwa 33.000 Neuinfektionen liegen. Es ist nicht klar, wie viel davon aus dem Nachtragen kommt, aber die Zahl ist nicht beruhigend. Und es wird nach dem Neujahrswochenende sicher noch ein paar Tage dauern, bis sich ein klares Bild ergibt. Aus diesem Gesichtspunkt ist auch die Ministerpräsidentenkonferenz am 5. Januar zu früh. Die Datenlage wird dann noch nicht bereinigt sein. 

Wie lange wird es dauern, bis die Zahlen wieder brauchbar sind?
Wenn es zu einer Meldung kommt, gab es irgendwann davor eine Infektion. Bis die Person das merkt, dauert es circa sieben Tage. Zwischen Tag 7-10 wird die Person zum Arzt gehen. Der Arzt wird einen Test machen lassen, der ein bis zwei Tage zur Auswertung im Labor ist. Wenn das Testergebnis positiv ist, muss es ans Gesundheitsamt gemeldet werden. Von dort wird es an die Landesbehörde gemeldet. Und die Landesbehörde meldet ans Robert-Koch-Institut. Der Meldeprozess allein hat noch einmal ein bis zwei, manchmal auch drei, Tage Verzug. Es gibt Tricks, mit denen das RKI den Zeitsprung zu überbrücken (Nowcasting) versucht, aber auch dann müssen die Zahlen ständig angepasst werden. 

Und wenn Sie die Zahl der Toten betrachten, ist die auch nicht unbedingt zurückgegangen. Die Toten, die jetzt gemeldet werden, beziehen sich auf Infektionen von vor drei bis vier Wochen. Man wird erst in der zweiten Januarhälfte sehen, wie sich die Weihnachtszeit auf Erkrankungen und Todesfälle ausgewirkt hat.

Ich hatte schon die derzeit geschlossenen Schulen angesprochen. In Hamburg kam eine Untersuchung zu dem Schluss, dass ein Schüler im September 40 weitere Mitschüler angesteckt hat. Sind Schulen ein stärkerer Infektionstreiber als bisher angenommen oder war das ein Einzelfall?
Meiner Einschätzung nach ist das ein Einzelfall. Hier in Bayern sind solche Vorfälle nicht aufgetreten.

Wenn es nur ein Einzelfall war, müssten die Schulen also so schnell wie möglich wieder geöffnet werden?
Meiner Meinung nach schon. Bei Kindergartenkindern und Grundschülern erwartet man kein erhöhtes Infektionsgeschehen. Ältere Schüler behandelt man wie Erwachsene und empfiehlt Distanzunterricht. Das einzige Problem ist der Umgang mit den 10-14 jährigen. Für diese Gruppe ist kein deutschlandweites evidenzbasiertes Konzept vorhanden. 

Hat die Entscheidung, Kindergartenkinder und Grundschüler an die Schule zu lassen und ältere Schüler nach Hause zu schicken mit dem Infektionsgeschehen zu tun oder liegt es daran, dass kleine Kinder schwerer zu betreuen sind als Abiturienten?
Das hat mit dem Infektionsgeschehen zu tun. In Hamburg hat eine Studie nachgewiesen, dass bei jüngeren Schülern die Infektionsbelastung geringer ist als bei älteren Schülern. Zudem brauchen Kinder und Grundschüler soziale Interaktion. Insgesamt werden Schulschließungen vor allem bei sozial benachteiligten Gruppen massive Bildungsnachteile bewirken.

Ulrich Mansmann / privat

Eine weitere Zahl, die häufig zu hören ist, ist die Sieben-Tage-Inzidenz. Oft heißt es, dass sie bei 50 liegen soll. Karl Lauterbach fordert sogar bloß 25. Das RKI meldet derzeit einen deutschlandweiten Wert von 140. Ist es überhaupt sinnvoll von 25 zu sinnieren, wenn wir trotz harter Maßnahmen seit November immer noch bei 140 liegen?
Ich beginne mal mit der 50. Die ist pragmatisch zustande gekommen. Sie quantifiziert eine Belastung, bei der ein Gesundheitsamt noch Nachverfolgung von Fällen durchführen kann. Die Nachverfolgung ist immer noch eine der wirksamsten Methoden, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren. Aktuell ist die Nachverfolgung jedoch unmöglich geworden. Die Zahl 25 wäre natürlich super; da wäre nicht viel los. Aber für die nächsten drei Monate wird das eher ein frommer Wunsch sein.

Ein Inzidenzwert von 25 ist utopisch?
Das ist utopisch. Herr Lauterbach sagt häufig, dass er irgendetwas ausgerechnet hat und zu dem und dem Schluss kam. Es wäre schön zu wissen, aufgrund welcher Überlegungen er sich mit der 25 angefreundet hat. Im Frühjahr wurde oft die Zahl 30 genannt, als eine Marke, unter der Entspannung der Infektionslage angesagt war.

Wird die Nachverfolgung mittlerweile eigentlich noch versucht oder hat man bei so großen Zahlen aufgegeben?
Man hat nicht aufgegeben, aber man versucht jetzt zielgerichtet, Cluster zu verfolgen. Jeden einzelnen kann man nicht mehr nachverfolgen. Aber gerade ihr Beispiel der Untersuchung in Hamburg mit dem Schüler, der 40 Mitschüler angesteckt hat, zeigt, dass man immer noch nachverfolgt. 

Wie bewerten Sie die aktuelle Impfkampagne Deutschlands?
Es ist ordentlich angelaufen. Es musste eine enorme Infrastruktur sehr schnell aufgebaut werden. Das ist gelungen. Das Problem bei uns wird sein, wie man die Leute zur Impfung einlädt und wie man es schafft, sie in dem geforderten dreiwöchigen Abstand zweimal zu impfen, damit sie den vollen Impfschutz bekommen. Dafür werden in Deutschland gerade die Strukturen aufgebaut. Großbritannien oder Schweden, die einen sehr gut ausgebauten öffentlichen Gesundheitsdienst haben, sind momentan gut aufgestellt und können die Impfkampagne gut ausrollen. Bei uns mussten erst einmal Impfzentren gegründet werden.

Ich finde aber die Diskussion, ob Geimpfte gewisse Privilegien bei der sozialen Teilhabe bekommen sollen, im Moment unangebracht.

Warum genau?
Wir wissen nicht, ob durch die Impfung auch gesichert ist, dass Geimpfte SARS-Cov-2 auch nicht übertragen.

Derzeit können gar nicht alle geimpft werden. Bis alle eine Chance hatten, die Impfung zu erhalten, muss Rücksicht aufeinander genommen werden. Die, die das Glück haben, früher dran zu sein, sollten Nachsicht mit denen haben, die erst später geimpft werden.

Es gibt eine Priorisierung und die „Jüngeren“, die bei der Einräumung solcher Privilegien den meisten Nutzen haben, sind erst in Stufe 4 dabei. Das wird im Sommer sein. In der zweiten Jahreshälfte sind solche Überlegungen angemessen. Da wird man fragen, wie man mit Leuten, die sich aus Prinzip nicht impfen lassen, umgeht. Es gibt aber auch immer noch wichtige Fragen zur Impfung, die noch gar nicht beantwortet sind. 

Welche?
Neben dem oben genannten Punkt, ob ein Geimpfter nicht weiterhin noch ansteckend ist, kommt noch die Frage, wie lange der Impfschutz überhaupt anhält. Solange das nicht geklärt ist, können wir Geimpften ohnehin keine besonderen Rechte geben.

Es gibt im Moment nur den Fall des Masenimpfschutz-Gesetzes, das Geimpften gewisse Dinge erlaubt und Nicht-Geimpften Dinge verweigert: Etwa die Ausübung gesundheitlich relevanter Berufe.

Vielen gehen die Impfungen zu langsam. Es sind zu wenige Impfdosen zur Verfügung. Christian Lindner hatte deswegen angeregt, dass auch andere Pharmakonzerne den Impfstoff von Biontech in Lizenz herstellen können sollen. Ist das sinnvoll?
Nein, das ist nicht sinnvoll. Dafür muss ein Zertifizierungsprozess durchlaufen werden, der die Qualität der Herstellung sicherstellt (Good Manufacturing Practice - GMP). Für eine Firma bedeutet es Aufwand, bis sie diese Zertifizierung für ein neues Produkt erhält. Man kann einen Impfstoff nicht einfach mal so herstellen lassen. Qualitätsnachweise sind notwendig. Beruhigend ist, dass in den nächsten drei bis vier Monaten weitere neue Produkte auf den Markt kommen. Ich denke an die Impfstoffe von Moderna oder AstraZeneca. Die sind oder werden bald zugelassen. Es gibt weltweit momentan etwa 270 laufende Projekte zu Corona-Impfstoffentwicklung

Wenn man sich fragt, warum der Biontech-Impfstoff nicht in größeren Mengen verfügbar ist, dann liegt das daran, dass Herr Spahn bei der Bestellung von Impfdosen auf das falsche Pferd gesetzt hat. Herr Spahn hat sich anfangs explizit für den alternativen Impfstoff von AstraZeneca entschieden und wollte den für Deutschland in großen Mengen haben. Bei diesem Impfstoff gab es jedoch in der Entwicklung einige Rückschläge und somit zeitliche Verzögerungen. Biontech hatte er nicht priorisiert und deswegen hat sich Biontech auch nicht in besonderem Maße auf die Situation in Deutschland vorbereitet. Die Firma versucht sich anzupassen und hat in Zusammenarbeit mit Novartis eine neue Produktionsstelle in Marburg eingerichtet.

Kann man Jens Spahn da einen Vorwurf machen? Man kann nicht ahnen, welcher Impfstoff am schnellsten ist.
Es ist ein Roulette-Spiel, wer als erster durch die stark regulierte Produktentwicklung kommt. Bei der Entscheidung für einen Impfstoff wurde Herr Spahn beraten. Er hat sich gegen ein innovatives Konzept und für ein schon bekanntes Prinzip entschieden. Aber bei den Studien von AstraZeneca kam es zu Nebenwirkungen, deren Ursachen geklärt werden mussten. 

Ich denke, dass wir in den nächsten drei Monaten vier bis fünf neue Impfstoffe dazu bekommen werden, die die Lage weiter entspannen. Das Produkt von Biontech wird dann nicht mehr das Einzige und wichtigste sein. 

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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