En Passant - Ein Menschenleben und sein Preis

Der Preis eines Menschenleben lässt sich berechnen. Und das ungeachtet des Artikel 1 Absatz 1 unseres Grundgesetzes: Die Menschenwürde ist antastbar

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Antje Stiehler/Jutta Fricke
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Das mit der Menschenwürde ist eine großartige Idee. Die Vorstellung, dass der Mensch durch seine bloße Existenz über diese Würde verfügt, dass er einen unschätzbaren Wert, aber keinen Preis hat, ist uns zum ersten Gebot geworden. Und obwohl der Begriff aus den trockenen Zeiten der Aufklärung stammt, hat er für uns eine magische Aura. Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ist die Zauberformel des modernen Westens.

Wir stellen uns das nämlich so vor: Wir verteilen einfach nur das Grundgesetz in arabischer Sprache, und schon entfaltet Artikel 1 in den überfüllten Flüchtlingsheimen, zwischen frustrierten und traumatisierten Asylbewerbern, seine unwiderstehliche Strahlkraft, ganz ohne Kant, Locke und Descartes. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben klappt das ja auch: Sie drucken die Fahrpläne auf Arabisch, und schon finden sich die Flüchtlinge in der Fremde zurecht. 

Kürzlich konnte ich beobachten, wie schwierig sich das dann doch gestaltet. Und zwar nicht in Kulturen, in denen Frauen gelegentlich gesteinigt werden, sondern bei uns, bei jungen deutschen Bildungsbürgern, die schon als Kind im Zaubertrank der Aufklärung gebadet haben. 

Der Preis eines Menschenlebens

Es war im Erste-Hilfe-Kurs. Dort saßen Fahrschüler um die achtzehn und lernten alles über die stabile Seitenlage. Einleitend erinnerte der Kursleiter, der die Teilnehmer natürlich duzte, an die gesetzliche Pflicht, im Notfall Erste Hilfe zu leisten. Dann fragte er, ob man unter bestimmten Umständen an einem Unfallort vorbeifahren dürfe.

Eine junge Frau, die gerade ihr Abitur gemacht hatte, meldete sich. Lange Haare, French Nails, schicke Brille, Typ Klassensprecherin.
„Also wenn ich deswegen meinen teuren Flug nach Neuseeland verpassen müsste, dann würde ich schon daran vorbeifahren“, sagte sie.

Der Kursleiter, filziger Zopf, zerbeulte Jeans, fragte nach: „Auch wenn es um ein Menschenleben geht?“
Die junge Frau zupfte an ihrem Merino-Ärmel. Statt ihr gehörig Bescheid zu sagen, korrigierte der Kursleiter ungerührt, dass sie anhalten und helfen müsse. Aber noch ausführlicher erläuterte er, wie sie sich das Flugticket anschließend erstatten lassen könnte.
Was wir daraus lernen? Ein Menschenleben hat auch bei uns sehr wohl einen Preis, und der liegt bei 636,10 Euro. So viel kostet ein Flug von Berlin nach Auckland, Economy Class.

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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