Elke Twesten - Volksvertreterin oder Volksverräterin?

Der Wechsel der Abgeordneten Elke Twesten von den Grünen zur CDU hat die Regierung in Niedersachsen zu Fall gebracht, für den 15. Oktober sind Neuwahlen angesetzt. Die Empörung über Twesten ist bei vielen Politikern und Journalisten groß. Aber ist sie auch gerechtfertigt?

Die Aufregung über Elke Twesten zeigt bedenkliche Entwicklungen unserer Demokratie / picture alliance
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Autoreninfo

Rudolf Adam war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. Von 2004 bis 2008 leitete er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er ist Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. Foto: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Hannover, 4. August 2017: Die Abgeordnete Elke Twesten, seit 1997 Mitglied der Grünen, seit 2006 im Kreistag Rotenburg (Wümme), im Januar 2007 zur stellvertretenden Vorsitzenden der Grünen in Niedersachsen gewählt, seit 2008 für die Grünen im niedersächsischen Landtag, verlässt die Fraktion der Grünen und schließt sich der CDU-Fraktion an. Damit bricht die Ein-Stimmen-Mehrheit von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zusammen. CDU und FDP haben seither zusammen eine Mehrheit im niedersächsischen Landtag. Neuwahlen sind für den 15. Oktober 2017 angesetzt.

Vorwurf des Verrats

Die Kommentare fielen entsprechend vernichtend aus: „Dreister Egoismus, Missachtung und Verfälschung des Wählerwillens, unwürdiges, schmutziges Spiel, unsäglicher Vorgang, Verfall politischer Moral“, das alles war von verschiedenen Stellen zu hören. Übertroffen werden diese vernichtenden Urteile vom Vorwurf des Verrats, den SPD-Generalsekretär Hubertus Heil und der Journalist Jakob Augstein Twesten machten. Augstein verdammt die Abgeordnete mit großinquisitorischer Geste als „gewissenlose Egoistin“, der es nicht ums „Gewissen, sondern um Geltungssucht“ gehe. „Vertrauen  jenes kostbare, politische Gut, ist hier restlos verspielt worden“, so Augstein weiter.

Geht’s noch selbstherrlicher? Hier verdammt ein Journalist eine Politikerin, der er vermutlich nie begegnet ist, und spricht ihr nicht nur Ehre, sondern auch Charakter und Moral ab. Dass Augstein sich mit dem Vorwurf von „Egoismus, Gewissenlosigkeit und Verrat“ in eine äußerst bedenkliche Tonlage begibt, scheint ihm verborgen zu bleiben. Adolf Hitler sprach im Juli 1944 von „ehrgeizigen, gewissenlosen Offizieren“, Konrad Adenauer sprach 1962 nach der Spiegel-Affäre von einem „Abgrund von Landesverrat“.

Auch ich kenne Elke Twesten nicht. Anders als Jakob Augstein fühle ich mich deshalb gehemmt, ein moralisches Urteil zu fällen. In diesem Fall und in den Reaktionen darauf spiegeln sich jedoch typische Elemente des gegenwärtig dominierenden Demokratie- und Repräsentationsverständnisses. Es läuft darauf hinaus, die Persönlichkeit des Repräsentanten zu entwerten und die Parteien zu den eigentlichen Repräsentanten des Volkes und Depositaren der Souveränitätsrechte des Volkes zu machen.

Twesten ist nicht die erste Seitenwechslerin

Aber zunächst einmal Fakten: Elke Twesten ist keineswegs die erste und einzige Abgeordnete, die die Fraktion gewechselt hat. Im Bundestag ist das immer wieder vorgekommen. In der ersten Legislaturperiode haben 53 Abgeordnete die Fraktion gewechselt, in der zweiten waren es noch 40. Berühmte Parteiwechsler waren Gustav Heinemann, Oskar Lafontaine, Günther Verheugen und Otto Schily. Die SPD verdrängt ferner, dass ihre prekäre Mehrheit im Thüringer Landtag darauf beruht, dass ein AfD-Abgeordneter im April 2016 zur SPD-Fraktion übergetreten ist. Was ist anrüchiger: Von den Grünen zur CDU zu wechseln oder von der AfD zur SPD? Oder ist ein Parteiwechsel zur CDU anders zu bewerten als einer zur SPD?

Elke Twesten wird unterstellt, sie habe sich allein von egoistischen Karriereaussichten leiten lassen. Das ist doppelt falsch. Denn erstens sind alle Parteilisten für die Landtags- und Bundestagswahl bereits eingereicht. Dort wird kein Platz mehr für sie sein. Und um sich bei anderen Wahlen (Europa?) durchzusetzen, müsste sie einige langjährige Aspiranten aus dem CDU-Stall verdrängen. Ob die sich einfach verdrängen lassen? Was immer es für Absprachen gegeben haben mag, sie können nicht konkret gewesen sein.

Die Grünen haben Twesten jahrzehntelang gefördert

Erstaunlich ist die Leichtfertigkeit und die Entrüstung, mit der Frau Twesten abgesprochen wird, nach ihrem Gewissen gehandelt zu haben. Wenn die Vorwürfe von Charakterlosigkeit, Opportunismus, Egoismus und Karrierismus zutreffen, dann fallen diese doch zuallererst auf das Personalmangement der Grünen zurück. Wer hat denn diese Frau gefördert, sie zur Vizevorsitzenden gemacht und fast zehn Jahre in den Landtag entsandt? Wenn diese Frau derartig schwere Charaktermängel aufweist, hätte sie niemals in diese Positionen aufsteigen dürfen.

Illoyal, egoistisch, unzuverlässig? Bei einer Parteikarriere von 20 Jahren hätte das doch früher auffallen müssen! Die Grünen müssen sich wahltaktische Vorteile versprochen haben, wenn sie mit Frau Twesten bei den Wahlen angetreten sind. Im Übrigen sollte auch innerhalb von Parteien demokratische Meinungsfreiheit gelten. Wenn die Grünen bürgerlich-pragmatische Mitglieder der eigenen Partei nicht mehr aufstellen wollen, dürfen diese sich dann nicht für die Ideen, von denen sie überzeugt sind, eine andere Plattform suchen?

Hat die Partei immer Recht?

Nach Auffassung von SPD und Grünen übergibt der Wähler offenbar seine Stimme der Partei. Die Partei entscheidet darüber, was mit dieser Stimme geschieht. Dem liegt das Verständnis einer Kader- und Funktionärspartei zugrunde. Eine Partei, die immer Recht hat? Nach dieser Vorstellung verleiht die Partei aus dem in Wahlen gewonnen Kapital einem ihrer Mitglieder einen Sitz im Parlament, der Sitz bleibt aber Eigentum der Partei. Wenn dieser Abgeordnete sich der Fraktionsdisziplin widersetzt oder gar die Fraktion wechselt, hat er sein Mandat zurückzugeben. Es ist ein Verständnis, das sich bedenklich dem eines imperativen Mandats nähert.

Diese Argumentation geht in mehrfacher Weise an der Verfassung vorbei. Erstens: Bei der Aufstellung ihrer Listen ist jede Partei frei. Die Verantwortung, charakterlich und moralisch qualifizierte Kandidaten aufzustellen, liegt bei der Partei. Wenn diese sich täuscht oder aus opportunistischen Erwägungen Kandidaten aufstellt, die Stimmen bringen, aber nicht auf Parteilinie liegen, ist dies ein Problem der Partei.

Zweitens: Jeder Abgeordnete, ob direkt oder über Liste gewählt, ist direkter und unmittelbarer Vertreter des Volkes. Er bleibt einzig und allein seinem Gewissen verantwortlich und ist an keine Aufträge oder Weisungen gebunden. (Art. 12, Niedersächsische Landesverfassung; Art. 38,1 Grundgesetz).

Drittens: Der Abgeordnete ist in dem Moment, wo er aus einer Parteifunktion in ein Staatsamt wechselt, Vertreter des gesamten Volkes - also weder ausschließlich seines Wahlkreises noch seiner Wähler. Er wird seine eigenen politischen Präferenzen und Ansichten behalten, aber er muss als Abgeordneter auch die Interessen derjenigen einbeziehen, die gegen ihn oder gar nicht gestimmt haben.

Viertens: Demokratische Repräsentation beschränkt sich nicht auf den punktuellen Wahlvorgang alle fünf Jahre (Niedersachsen hat eine fünfjährige Legislaturperiode). Repräsentation erfordert im Gegenteil einen ständigen Angleichungs- und Abgleichungsprozess zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, einen ununterbrochenen Prozess gesellschaftlicher Meinungsbildung und Interesssenartikulation, um eine Entfremdung zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten zu verhindern. Vielleicht hatte Elke Twesten ein besseres Gespür für die Meinungsströmungen in der Bevölkerung als ihre Parteigenossen? Die vorgezogenen Wahlen werden es zeigen.

Bedenkliche Entwicklungen

Noch absurder ist der Vorwurf, hier sei Vertrauen verspielt worden. Vertrauen ist nur zwischen Personen möglich. Vertrauen verdient nur ein Mensch, keine Institution und schon gar keine Partei. Darüber, ob sie der Abgeordneten Twesten Vertrauen schenken oder nicht, entscheiden Wähler und Kollegen. Sie mag das Vertrauen ihrer ehemaligen Fraktion verloren haben. Aber die Bereitschaft der CDU, sie in ihre Fraktion aufzunehmen, zeigt, dass sie dort Vertrauen genießt. Durch nichts würde die CDU ihre guten Aussichten auf einen Wahlsieg in den bevorstehenden Landtagswahlen mehr schmälern als durch eine „schäbige Intrige“, wie Stephan Weil diesen Vorgang beschreibt. Der vernünftigste Kommentar kam von Augsteins Spiegel Online-Kollegen Stefan Kuzmany: „Wir wählen keine Parteisoldaten, sondern Individuen... Wir wählen freie Menschen, und auch nach der Wahl bleiben sie frei.“

Die Aufregung im Fall Elke Twesten zeigt zwei bedenkliche Entwicklungen unserer Demokratie. Erstens: Das Denken in reinem Parteienproporz, das alle persönlichen Beziehungen zwischen den Bürgern und ihren politischen Vertretern durch die Parteien filtert und mediatisiert. Verdienen es Wahlen, noch direkt genannt zu werden, wenn Parteien wie Wahlmännergremien Stimmen einsammeln und sie dann auf Kandidaten verteilen? Zweitens: Die Polarisierung und Skandalisierung politischer Vorgänge. Empört werden Handlungen sofort moralisch verdammt, angeprangert, verurteilt. Die Stärke der Emotion ersetzt die Stärke des Arguments. Für abwägende, vermittelnde Überlegungen, die über die vordergründige menschliche Aktualität den Blick auf Schwächen in strukturellen Grundlagen unseres Gemeinwesens lenken, bleiben weder Raum noch Zeit. Eine Demokratie, in der Parteien alles sind und Menschen zu bloßen Vollzugsorganen der Parteilinie werden, ist keine politische Umgebung, in der ich leben möchte.

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