Elefantenrunde - „Sagen Sie mal, war er betrunken?“

Der Kanzler wollte Krawall, die Herausforderin wirkte wie in Trance – die Elefantenrunde 2005 ist legendär. Sie rettete Merkel ihre erste Kanzlerschaft

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Gerhard Schröder war auf Krawall gebürstet / picture alliance
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Nikolaus Brender war von 2000 bis 2010 Chefre- dakteur des ZDF und zwei Mal Gastgeber der Elefantenrunde.

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Es ist immer die erste Frage: „Sagen Sie mal, war er betrunken?“ Auch zwölf Jahre nach der denkwürdigen Diskussion am Abend der Bundestagswahl 2005 stößt der geistige Zustand von Gerhard Schröder in der Elefantenrunde immer noch auf großes Interesse. Hartmann von der Tann und ich hatten nicht den Eindruck, dass es der Alkohol war, der Gerhard Schröder an diesem Abend in einen Kriegselefanten verwandelte. Es war das ausgebrochene Ego, das den Kanzler aufputschte und seine Attacken gegen die Kanzlerkandidatin Merkel, gegen die Moderatoren und gegen die Realitäten des Wahlergebnisses reiten ließ. Mit seinem wilden Auftritt rettete Schröder an diesem Abend aber auch den Nimbus eines untergehenden Fernsehformats: der sagenumwobenen Elefantenrunde.

Zwischen 1969 und 1987 kamen die Fernsehrunden der Parteivorsitzenden mit unspektakulären Titeln daher. Am Wahlabend wurden sie als „Bonner Runde“ angekündigt. Die Diskussionsrunden drei Tage vor der Wahl hießen schlicht und einfach „Drei Tage vor der Wahl“. Lediglich auf dem Fernsehschirm selbst wagten die Sender eine griffige Einblendung: „Kampf ums Kanzleramt“.

Mit allen Regeln der Debattierkunst

Es waren diese gemeinsam von ARD und ZDF ausgestrahlten Fernsehformate, die sich beim Publikum als „Elefantenrunde“ eingeprägt haben. Sie sprengten buchstäblich jedes Format. Nicht nur, weil die Vorsitzenden der Parteien und alle Kanzler es sich nicht nehmen ließen, an den Debatten teilzunehmen, sondern weil sich die Streitgespräche immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen um Grundsatzfragen nationaler und internationaler Politik auswuchsen. Bis zu vier Stunden dauerten sie an. Die Diskutanten schenkten sich dabei nichts. Die Redeschlachten zwischen Willy Brandt, Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Jutta Ditfurth, Johannes Rau und anderen durchmaßen alle Höhen und Tiefen des Debattenniveaus. Platte Provokation folgte auf hintersinnigen Witz, persönliche Beleidigung auf scharfe Analyse. Die Parteichefs versuchten auch noch in den letzten Stunden vor der Wahl, sich in Person und Programm von den Konkurrenten abzusetzen, um die unentschiedenen Wähler für sich zu gewinnen. 

So wie 1976. Die Union trat mit Helmut Kohl und dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt an. Schmidts rhetorische Empörungssalven peitschten die Stimmung auf. Sein Vergleich von CDU und CSU mit der antidemokratischen Harzburger Front von Alfred Hugenberg brachte Kohl und Strauß auf die Palme. Sie geißelten Schmidts „unerträgliche Arroganz“ als Politik der verbrannten Erde und als Gefahr für die Gemeinsamkeit der Demokraten. So wurden die Elefantenrunden zu Lehrstunden und zu Stunden persönlicher Abrechnung. In der Runde nach der NRW-Wahl 1985 beschimpfte Willy Brandt den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als einen Hetzer, „den schlimmsten Hetzer seit Goebbels“. Geißler hatte zuvor Willy Brandt und den Sozialdemokraten die Verwischung von Freiheit und Diktatur vorgeworfen.

Dompteure ohne Erfolg

Die Moderatoren, meist die Chefredakteure von ARD und ZDF, versuchten sich auch damals schon als Dompteure, meist aber ohne Erfolg. Und auch damals schon gerieten sie immer wieder ins Sperrfeuer der Diskutanten.

So gehörte es beinahe schon zur Traditionspflege der Elefantenrunden, dass wir Moderatoren am Abend des Wahlsonntags 2005 die Ersten waren, an denen sich Gerhard Schröder versuchte. Gegen 19.45 Uhr trafen wir im Foyer des ZDF-Hauptstadtstudios aufeinander. Mit Hartmann von der Tann, dem Chefredakteur der ARD, hatte ich im Nebenzimmer noch die letzten Varianten unserer Diskussionsstrategie durchgesprochen. Prognosen und Hochrechnungen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine klare Mehrheit für oder gegen ein Koalitionslager errechnet. Deutlich war aber schon, dass CDU/CSU mit ihrer gemeinsamen Kanzlerkandidatin Merkel im Vergleich zu den Meinungsumfragen vor der Wahl dramatisch an Zustimmung verloren und die SPD mit Kanzler Schröder in einer rasanten Aufholjagd kräftig zugelegt hatte. 

Auf dieser Jagd schien der Kanzler immer noch zu sein. „Sie Held, Sie!“, raunzte er mich an und versuchte auch nicht, seine Verachtung zu verstecken. Dass Schröder auf Krawall gebürstet war, konnte man zuvor schon an der herausfordernden Pose erkennen, die er bei einem umjubelten Auftritt im Willy-Brandt-Haus in lautem Siegesgebrüll vertonte. Ich war also gewarnt. „In diesem Heldenepos spiele ich keine Rolle“, gab ich ihm zurück, als er seine mir entgegengestreckte Hand demonstrativ wieder einzog. 

Schröder konnte den Kampf kaum erwarten

Gegen alle Gewohnheiten war der Kanzler sehr früh ins ZDF-Studio gekommen. Mehr als 40 Minuten vor Beginn und lange vor dem Eintreffen der anderen Elefanten. Ein Zeichen dafür, dass er den Kampf kaum erwarten konnte. Über die Monitore im Foyer liefen die neuesten Hochrechnungen. Kann er es doch noch schaffen? So wie am Wahlabend 2002, als sich die für ihn mageren Zahlen noch während der Fernsehrunde zu seinen Gunsten drehten und den stolzgeschwellten Kontrahenten Edmund Stoiber vor aller Augen körperlich zusammenschrumpfen ließen. Sollte sich dies drei Jahre später wiederholen? Mit gerade mal 8864 Stimmen lag die SPD am Ende vor der Union, dazu gewann sie vier Überhangmandate. Zusammen mit gestärkten Grünen war drei Jahre zuvor in letzter Minute der Wahlsieg noch gelungen. 2005 waren die Grünen schon aus dem Rennen, es ging nur noch darum, wer würde stärkere Partei werden, denn die stärkere Partei würde in einer Großen Koalition den Kanzler stellen. „Überhangmandate“, raunte ihm deswegen sein Regierungssprecher zu. „Überhangmandate!“ Den Hinweis meines Kollegen von der Tann, er solle sich nicht auf die Analysen seiner Entourage verlassen, wischte Schröder verärgert und unwirsch zur Seite.

Ist dieser Grobian heute der echte Schröder, dachte ich mir, der eigentliche Schröder hinter dem Kanzler? Und war der Schröder, den von der Tann und ich vor drei Jahren am Wahlabend 2002 in einer vergleichbaren Situation auf den Fluren des ARD-Studios erlebt haben, ein falscher Schröder? Der hatte damals vor der Elefantenrunde eine mögliche Niederlage einkalkuliert und seine Bemerkung, „so ist eben Demokratie“, zeigte, dass er bereit schien, sie gelassen hinzunehmen. In den Minuten vor der Elefantenrunde wurde mir klar: Das ist nicht der Schröder, der in der Fernsehdiskussion 2002 seine Arroganz im Zaume hielt, auch als er von einer Niederlage seines bayerischen Konkurrenten noch nicht ausgehen konnte.Doch jetzt wollte Schröder es allen noch einmal zeigen, den Journalisten vor allem und auch der Kandidatin, der er das Kanzleramt nie zugetraut hat.

Posen im Studio

In entsprechender Pose saß er denn auch im Studio, weit zurückgelehnt, den rechten Arm über die Lehne nach hinten geschoben, ungeduldig Merkel erwartend. Links neben ihm hatte Joschka Fischer Platz genommen. Leiser Auftritt, kurzes Gespräch mit dem Kanzler. Merkel war immer noch nicht da. Den beiden gegenüber spielte sich derweil ein anderer Stellungskrieg ab. Wortlos, aber mit Symbolkraft. Der FDP-Vorsitzende und seines Zeichens auch Kanzlerkandidat Guido Westerwelle steuerte mit langen Schritten auf den Sessel rechts neben der CDU-Vorsitzenden und zukünftigen Kanzlerin Angela Merkel zu. Er stellte sich breitbeinig hinter den Stuhl und hielt die Rückenlehne fest. Jahrzehntelang war dieser Stuhl den CSU-Vorsitzenden vorbehalten.

Als Edmund Stoiber seinen angestammten Platz einnehmen wollte, sah er ihn von Westerwelle besetzt. Es musste ihm wie eine feindliche Okkupation vorgekommen sein. Verunsichert ob dieser überraschenden Situation stockte er hinter dem Rücken des FDP-Chefs, hielt kurz inne und fügte sich dann in die ihm von Westerwelle zugewiesene Platzierung. Es war die Rache des Guido Westerwelle an Edmund Stoiber, der der FDP die Schuld für seine Niederlage bei den Bundestagswahlen 2002 zugeschoben hatte.

Dann kam Angela Merkel. Es waren nur noch sehr wenige Minuten bis zum Beginn der Sendung. Versteinertes Gesicht, suchende Augen in das grell ausgeleuchtete Fernsehstudio, vages Kopfnicken. Sie wollte gerade auf dem Stuhl rechts neben mir Platz nehmen, als sie auf der linken Seite Schröder und Fischer erkannte. Nochmals verließ sie das Podest. Eher stolpernd als gehend bewegte sie sich auf den Kanzler und den Außenminister zu, gab ihnen kurz die Hand und ging wie in Trance wieder auf ihren Platz zurück. Nur noch wenige Sekunden blieben zum Beginn der Sendung. 

Schröder siegestrunken, Merkel in Schockstarre

Ich hatte in diesem Augenblick das Gefühl, dass die Frau neben mir die Realität um sich herum nicht wahrnimmt. Benommen wirkte Merkel, absorbiert von einer anderen Wirklichkeit. Man konnte sich vorstellen, was zu dieser Zeit im Konrad-Adenauer-Haus vor sich ging. Denn Merkel weiß, dass sie das zweitschlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der CDU eingefahren hat. Die Hochrechnungen trafen die Partei und ihre Kanzlerkandidatin wie Hammerschläge. Gerade mal knapp über 35 Prozent stand die Union. Noch schlechter als Stoiber drei Jahre zuvor. Und sie weiß sehr genau, dass ihr in diesen Minuten die Kanzlerschaft aus den Händen zu gleiten droht, weggerissen von ihren eigenen Parteifreunden. So saßen sich in diesem Moment zwei Entrückte gegenüber: der Kanzler, der siegestrunken die Wahl verloren, und die Kanzlerkandidatin, die in Schockstarre gefallen die Wahl gewonnen hatte.

Gongschlag. Die Runde wird Punkt 20.15 Uhr eingeläutet. Hartmann von der Tann stellt die erste Frage an Angela Merkel. So hatten wir Moderatoren es verabredet. Wenn Merkel weit hinter das erwartete Ergebnis zurückfallen sollte, wird erst sie nach den Ursachen der Schwäche gefragt, nach ihrem persönlichen Anteil daran und nach der eingeschränkten Freiheit, einen Koalitionspartner zu finden. Merkel wirkt unkonzentriert, wie von einem Autopiloten gesteuert, floskelhaft spricht sie von der stärksten Fraktion und dem Auftrag zur Regierungsbildung.

Schröder beobachtet sie, wittert ihre Schwäche. Der Ausdruck Raubtiergrinsen passte zu seinem Mienenspiel. Und er hob auch sofort seine Pranken, als ich meine Frage an ihn mit „Herr Bundeskanzler“ einleitete. „Ist ja schön, dass Sie mich schon ansprechen“, unterbrach er mich pikiert. Er war sichtlich verärgert, dass er nicht als Erster gefragt wurde. Dann ging es Schlag auf Schlag. Gegen die Presse, gegen die Merkel. „Auch wenn Sie dagegenarbeiten, ich bleibe Bundeskanzler.“ „Verglichen mit dem, was in dieser Republik geschrieben und gesendet worden ist, gibt es einen eindeutigen Verlierer, und das ist Frau Merkel.“ Und: „Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner Sozialdemokratischen Partei hinkriegen, das ist eindeutig, machen Sie sich gar nichts vor.“

Der Kanzler außer Rand und Band

Der Kanzler war außer Rand und Band geraten. Im Studio verstanden alle seine Drohgebärden als Versuch der Einschüchterung und als letzte Rechtfertigung. Es waren ja nicht nur die Statements, die jeglichen Realitätsbezug vermissen ließen, es war auch seine Mimik, die der Diskussion ihren zivilisierten Charakter zu rauben suchte. 

Natürlich lassen sich solche Situationen für Moderatoren nicht vorausplanen. So hatten wir instinktiv eine Arbeitsteilung vorgenommen. Hartmann von der Tann arbeitete die Sachthemen ab, und ich konzentrierte mich auf die Person des Kanzlers und auf die Richtigstellung seiner unangemessenen Medienschelte. Doch Schröder wäre nicht Schröder, hätte er mit seinem Auftritt keine Botschaft verbinden wollen. Diesen Auftritt inszenierte er als Abtritt. Wir erlebten einen Mann, der dabei war, sich zu häuten. Vom Staatsmann zum Privatmann. Er fiel nicht aus der Rolle, er wechselte sie. In Habitus und Ton verabschiedete er sich live aus der öffentlichen Verantwortung und aus der Amtswürde eines Kanzlers. Dies deutlich zu machen, verstand ich als meine journalistische Aufgabe. Deswegen sprach ich ihn in der Sendung auch nicht mehr mit Herr Bundeskanzler an, sondern fortan als Herrn Schröder. „Sie können auch Otto zu mir sagen“, war seine Reaktion, passend zu seiner neuen Rolle.

Abgesagter Putsch im Adenauer-Haus 

Der Sitznachbar zu Schröders Linken, Joschka Fischer, war der Elefantenrunde und der Sprüche des Kanzlers offensichtlich müde. Er fühlte, dass der Kanzler sich um Kopf und Kragen redete und der Kandidatin Merkel damit das Fundament zur Kanzlerschaft goss. Als Schröders Opfer stand Angela Merkel fortan unter besonderem Schutz ihrer Parteifreunde. Den Frondeuren in ihrer eigenen Partei waren nun die Hände gebunden. Der Putsch im Adenauer-Haus musste abgesagt werden.

Schröder und die Elefantenrunde 2005 mögen Angela Merkel die Kanzlerschaft gerettet haben. Der Verlauf der Runde hat sie aber vor der Unberechenbarkeit solcher Fernsehdiskussionen gewarnt. Vor dem Wahltag 2009 hatte sie deshalb alles dafür getan, sich und ihre Politik nicht in einer Elefantenrunde zur Diskussion stellen zu müssen. Sie drückte sich davor und war in dieser Verschleierungspraxis gelehrige Schülerin von Helmut Kohl. Der Bundeskanzler setzte nach der Bundestagswahl 1987 den Elefantenrunden „Drei Tage vor der Wahl“ ein Ende. Weitere Elefanten wollte er nicht neben sich haben. Den gefährlichsten hatte Kohl am Abend der Bundestagswahl 1987 in die Büsche geschlagen: Das Wahlergebnis hatte Franz Josef Strauß die Stimmung verdorben, sodass er gar nicht in die Elefantenrunde kommen wollte. Als die Runde gerade zu Ende ging, war er doch noch aus München zugeschaltet, bedingt sendebereit. „Schminken Sie sich doch den Bart ab“, beschied er dem ARD-Moderator mit schwerer Zunge und bescheinigte dessen Fragen Dummheit und Sinnlosigkeit. Kohl lachte. Er wusste, dass sein ewiger Widersacher Strauß sich mit diesem Auftritt in der Elefantenrunde aus dem Ring gelallt hatte.


 

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