Einwanderungsland Deutschland - Was bedeutet Integration?

Wenn sogar ein Integrationsrat durch Nicht-Integration auffällt, sollten wir darüber nachdenken, woran wir Integration eigentlich bemessen. Für Ex-BND-Vize Rudolf G. Adam reichen der Zugang zum Arbeitsmarkt und Sprachkenntnisse allein nicht aus

Protest am Rande einer Sondersitzung des Integrationsrates Duisburg / picture alliance
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Autoreninfo

Rudolf Adam war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. Von 2004 bis 2008 leitete er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er ist Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. Foto: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Seit dem gewaltigen Zustrom von Migranten ist Integration zu einem Schlüsselbegriff geworden. Welche Probleme Zuwanderer auch mitbringen mögen – es genügt das Zauberwort „Integration“, und sie sind gelöst. In den nächsten Jahren werden Milliardenbeträge in Integrationsprojekte fließen.

So weit, so gut.

Weniger gut ist, was sich in Duisburg abgespielt hat: Dort hat der Rat der Stadt einen Integrationsrat ernannt, der ihn in Integrationsfragen beraten soll. Am 7. Juni beschloss dieser Rat eine Resolution mit dem Titel: „Eine Lüge ist eine Lüge und bleibt eine Lüge. Gegen die Verleumdung der Türkei!“

Die Resolution beschimpft und bedroht die Bundestagsabgeordneten, die den Bundestagsbeschluss vom 2. Juni zum Armenier-Genozid mitgetragen haben. Fakten werden in Abrede gestellt, türkischstämmige Abgeordnete, die für die Resolution gestimmt haben, namentlich genannt und des Verrats beschuldigt. Ihr Verrat könne nur durch Nähe zum kurdischen Terrorismus erklärt werden. Rachedrohungen sind unüberhörbar.

Der Bürgermeister hat diese Resolution mit der Begründung annulliert, sie überschreite die Befugnisse des Gremiums und sei in Wortwahl und Aussagen inakzeptabel. Am 20. Juni hat der Integrationsrat daraufhin den Beschluss förmlich zurückgenommen, allerdings erst, nachdem lautstarke Demonstranten vor dem Gebäude auf Distanz gebracht, Protestanstecker der Überstimmten abgenommen und Zwischenrufer und Plakate im Zuschauerbereich entfernt worden waren.

„Ein Abgrund von Nicht-Integration“

Weshalb verdient der Zwischenfall Beachtung? Im Integrationsrat sind Personen mit Migrationshintergrund versammelt. Elf Mitglieder werden vom Rat ernannt, die übrigen 18 gewählt, und zwar von „Ausländern, Deutschen mit doppelter Staatsangehörigkeit oder die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erhalten oder als Kinder ausländischer Eltern durch Geburt im Inland erworben haben“ (so der Gesetzestext). Für die Wählbarkeit gelten die gleichen Kriterien.

Die gewählten Mitglieder tragen ausnahmslos türkische Namen, die meisten von ihnen sind Doppelstaatler, viele haben ihr Leben in Deutschland verbracht. Von anderen Mitbürgern mit Migrationshintergrund, Polen oder Chinesen, Vietnamesen oder Palästinensern, Syrern oder Afghanen beispielsweise, findet sich in diesem Gremium keine Spur, obwohl Gruppen aus allen diesen Ländern ebenfalls in Duisburg wohnen

Die Reaktionen auf die Resolution hätten gegensätzlicher nicht sein können: „Wir in Duisburg haben ein Zeichen gesetzt. Das haben wir gut gemacht!“ So äußerte sich ein Mitglied des Integrationsrates. „Was bleibt, ist der Einblick in einen Abgrund von Nicht-Integration. Dass ausgerechnet ein Beirat, zuständig für Integration, ein solcher Ort für Intoleranz, Ressentiment, Ausgrenzung und Schmähung von unserer Demokratie und unserem Parlament sein würde, war für uns, die Bürger von Duisburg, bis vorletzte Woche undenkbar.“ So ein Kommentar aus dem Umfeld ohne Migrationshintergrund.

Was macht Erfolg oder Misserfolg von Integration aus?

Der Vorgang zeigt beispielhaft, wie wenig klar unsere Vorstellungen von Integration sind und von den Wegen, die dahin führen. Man braucht sich nicht die Worte vom „Abgrund von Nicht-Integration“ zu eigen zu machen, um zu sehen, dass hier etwas grundsätzlich falsch gelaufen ist.

Vermutlich werden jetzt neue, zusätzliche Integrationskonzepte und -mittel gefordert. Das Problem ist, dass Projekte und Konzepte Erfolgskriterien oder Benchmarks bieten müssen. Wir brauchen einen Maßstab, um Erfolg und Misserfolg zuverlässig voneinander zu unterscheiden.

Typisch ist die Beschreibung der Aufgaben des Integrationsrates: „In enger Zusammenarbeit mit dem Rat der Stadt engagieren sich die Mitglieder des Integrationsrates für die Interessen und Anliegen der Duisburger Migrantinnen und Migranten. Der Integrationsrat nimmt ihre Interessen wahr und setzt sich für ein friedliches, partnerschaftliches und gleichberechtigtes Zusammenleben aller Nationalitäten in unserer Stadt ein.“ Der schlichte Indikativ verschleiert, dass es sich hier um eine Aufgabenbeschreibung, nicht um Tatsachen, um eine „Soll“-, und keineswegs um eine „Ist“-Aussage handelt. Damit bleibt kein Raum, das „Soll“ mit dem „Ist“ zu vergleichen. Diese Sprache lässt keinen Raum für Kritik am Konzept oder seiner Verwirklichung.

Integration zielt auf Überwindung von Abgrenzungen. Sie sollen im täglichen Zusammenleben keine erhebliche Rolle mehr spielen. Macht es Sinn, um dieses Ziel zu fördern, eine gesonderte Wählergruppe mit eigenem Repräsentationsorgan zu schaffen und damit gerade die Trennlinien zu institutionalisieren, die es zu überwinden gilt?

Spracherwerb allein reicht nicht

Integration ist ein so erfolgreicher Begriff, weil er so unscharf ist und sich mit unterschiedlichsten Vorstellungen füllen lässt. Assimilation, Einbürgerung, Akkulturation sind da schärfer. Integration kann einen bloßen modus vivendi, eine innerstaatliche Form friedlicher Koexistenz, oder aber vorbildliche Leistung in der Gastkultur bedeuten: Cem Özdemir, Marina Weisband, Helene Fischer, oder, um den Bogen weiter zu schlagen: Romano Guardini oder Adalbert von Chamisso.

Nach 1933 mussten tausende jüdische Deutsche ihr Land verlassen. Die meisten haben sich höchst erfolgreich in ihren Gastländern integriert. Ähnliches lässt sich von denjenigen sagen, die den kommunistischen Regimen den Rücken gekehrt haben: Leszek Kolakowski, Isaiah Berlin, Robert Maxwell, Ota Sik.

Einigkeit scheint zu bestehen, dass der Erwerb der Sprache des Gastlandes unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche Integration ist. Allerdings sollten nur um des statistischen Erfolgs willen Kriterien nicht zu niedrig angesetzt werden. Ein „Pidgin-German“, die typische Kiez-Sprache, kann mehr zu Ghettoisierung und Stigmatisierung beitragen als gänzlich fehlende Sprachkenntnisse. Wer Pidgin-German spricht, wird vielleicht im deutschen Prekariat akzeptiert, bleibt aber auf andere Weise ausgegrenzt.

Sprachlich sind Serdar Somuncu und Abdelkarim Vorbilder, weil sie nicht nur Deutsch perfekt beherrschen, sondern, was noch viel schwerer ist, die Assoziationen und Emotionen hinter den Begriffen kennen und damit souverän ironisch-humoristisch umgehen können.

Die unsichtbaren Kriterien

Woran lässt sich erfolgreiche Integration noch festmachen? An Äußerlichkeiten: Kleidung (Burka, Niqab), Speisen (Schweinefleisch), Getränken (Alkohol)? Welche Widerstände haben Frauen in Hosen oder im Bikini in unseren eigenen Gesellschaften ausgelöst! Sind Vegetarier nicht integrierbar? Alkohol ist ein Sonderfall, weil mit Ächtung des Alkohols auch die traditionelle Gaststättenkultur verschwindet. In Großbritannien fehlen in Stadtvierteln mit muslimischer Mehrheit  die Pubs – und damit ein zentrales Element britischer Lebens- und Kommunikationsform.

Oder ist der Erfolg von Integration eher an unsichtbaren (und deshalb schwer ermittelbaren) Kriterien festzumachen? Dem Respekt vor dem Recht zum Beispiel, dessen Normen nicht nur formal auswendig gelernt, sondern im täglichen Handeln verinnerlicht werden müssen? Der Achtung vor Wissenschaft und Rationalität als Kern der Aufklärung und Grundlage toleranten Zusammenlebens? Der Unterscheidung zwischen Person und Amt, zwischen öffentlichem und privatem Interesse und dem Prinzip öffentlicher Verantwortung, ohne die Korruption, Klientelismus, Nepotismus und mafiöse Strukturen blühen? Dem Prinzip, dass alle gesellschaftlichen Positionen, vor allem die mit Machtfülle, nur auf Zeit verliehen und ständiger, auch satirischer Kritik unterzogen sind?

Vielleicht spielen Geschichte und Literatur, Philosophie und Kunst bei der Vermittlung kultureller Werte eine größere Rolle als das einer funktionalistisch denkenden Umgebung erscheinen mag. Vielleicht lernt man Toleranz (und Intoleranz) besser anhand von Lessings Nathan als anhand theoretischer soziologischer Seminare.

Heterogenität akzeptieren lernen

Die gegenwärtigen Probleme liegen auch darin, dass Migranten, die aus homogenen Gesellschaften kommen, mit dem hier gebotenen Multikulturalismus wenig anfangen können. Wenn Menschen mit deutschem Pass und türkischem oder russischem Namen noch in der zweiten und dritten Generation betonen, dass sie zwar in Deutschland arbeiten und wohnen, wählen und gegebenenfalls soziale Unterstützung erhalten, aber dennoch Türken oder Russen bleiben, hat irgendetwas im Integrationsprozess nicht funktioniert. Das mag daran liegen, dass in der Türkei und in Russland ein ausgeprägt nationalistisches, wenn nicht chauvinistisches Denken vorherrscht, verstärkt durch schwer auflösbare religiöse Bezüge: ein Türke ist Muslim, ein Russe orthodox.

In Russland und der Türkei genießen kritische Denker, Minderheiten oder Opposition wenig Respekt. Für Landsleute jenseits der eigenen Grenzen wird ein Vertretungsrecht in Anspruch genommen: Tschetschenien, die Krim, Donezk und Lugansk und der endlose Kampf gegen die Kurden sind traurige Beispiele. Gerade den Deutschen sollten die unseligen Folgen einer ausgreifenden Volkstumspolitik und von „heim-ins-Reich“-Forderungen bewußt sein. Umso beängstigender ist es, daß derlei Ansätze von politischen Gruppen auch in Deutschland aufgegriffen werden.

Nicht die religiösen Vorschriften des Islam sind das Hauptproblem. Es ist der unbedingte, unreflektierte und dogmatische Umgang mit ihnen, der nicht in säkulare Gesellschaften passt. Und hierfür sind staatliche und kulturelle Aspekte nicht weniger verantwortlich als religiöse.

Der Islam als Gleichmacher

Die erstaunlichste Leistung des Islam ist doch, dass er den bunten Teppich, den der antike Orient bot, wo sich Griechen und Syrer, Lyder, Aramäer, Nabatäer, Phönikier, Kolcher, Armenier und Phryger mit ihren jeweiligen Kleidungen, Sitten, Gottheiten und Kulten drängten und wo auf den Basaren Dutzende von Sprachen durcheinander schwirrten (es ist kein Zufall, dass der legendäre Turm in Babel stand), binnen weniger Jahrhunderte kulturell völlig vereinheitlicht hat: Ein Staat, ein Kalif, eine Sprache, eine Religion. Damit hat der Islam für den Orient eine größere Vereinheitlichung geleistet als Rom für den Okzident.

Wir vergessen zu schnell, wie heterogen die Gebiete waren, die heute als arabisch-muslimisch gelten. Auch Juden- und Christentum hatten dort ihre Wurzeln. Wer aus einer zwangsweise homogenisierten Kultur kommt, in der religiös und politisch nur ein Glaube richtig ist, in der Nonkonformismus geächtet oder mit dem Tode bestraft wird, der tut sich mit Meinungsvielfalt, Relativismus und Pluralismus schwer und empfindet Skeptizismus, Satire oder Zynismus als Bedrohung.

Arbeit, Bildung, politische Teilhabe

Die Grundlagen der modernen Welt teilen wir mit Amerika, Australien, Neuseeland, Japan, Singapur, Südkorea. Sie haben sich längst von den heutigen christlichen Kirchen oder Sekten abgelöst und stehen Nicht-Christen aus aller Welt ebenso offen wie christlichen (und agnostischen) Europäern. Deshalb paßt der Begriff „christliches Abendland“ nicht in moderne politische Debatten. Es schwingen in ihm zu viele rückwärtsgewandte und bedenkliche Assoziationen mit.

Integration ist weniger eine Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt, zum beruflichen Bildungssystem oder zu, wie sich in Duisburg gezeigt hat, fragwürdigen politischen Aktivitäten. Das alles ist wichtig. Aber es muss einhergehen mit der Herausbildung einer Geisteshaltung, die mit kritischer Rationalität und dem Verständnis für die rechtlichen Grundlagen friedlich-geordneten Zusammenlebens einhergeht.

Wo sich Ausbildung darin erschöpft, heilige Texte auswendig zu lernen, ohne ihren Hintergrund zu analysieren und über ihre Bedeutung zu reflektieren, wo die Welt eingeteilt wird in diejenigen, denen das Paradies bestimmt ist, und alle übrigen, die zur Hölle verdammt sind, können sich Toleranz, Respekt und Achtung der Menschenwürde nicht durchsetzen. Und wo die Identifikation mit einer anderen Nation und deren Werte- und Rechtskanon stärker ist als mit der Gesellschaft, in der man lebt, kann von erfolgreicher Integration keine Rede sein.

Integration ist mehr als konfliktfreies Zusammenleben. Die Menschen in Syrien haben vor 2011 konfliktfrei zusammengelebt – wie die in Russland vor 1917. Frieden ist mehr als Abwesenheit von offenem Konflikt. Wo es Dissens über die Grundlagen darüber gibt, was zu respektieren ist und was nicht, was erlaubt ist und was nicht, was einer Diskussion entzogen ist und was nicht, dort gerät das Fundament des Friedens in Gefahr.

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