Illegale Einwanderung - Im gelobten Land

In Deutschland leben zwischen 200.000 und 500.000 Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Ihre Motive, hier zu sein, sind so unterschiedlich wie ihre Biografien. Der Kampf um ihre Legalisierung gleicht einer Lotterie

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„Papierlose“: Sie sind da, aber man sieht sie nicht und sie tauchen in keiner Ausländerstatistik auf / Tobias Kruse
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Neulich wäre er beinahe aufgeflogen. Es passierte in der U-Bahn. Salman Boussoufa (Name geändert) sagt, er sei auf dem Weg zu Freunden gewesen. Plötzlich hätten zwei Männer vor ihm gestanden. „Fahrscheinkontrolle!“ Boussoufa besitzt ein Monatsticket für Busse und Bahnen. An diesem Tag, sagt er, hätte er es vergessen. Ihm sei schlecht geworden vor Angst. Denn jetzt passierte etwas, wovor er sich immer gefürchtet hatte: Die Kontrolleure wollten seinen Ausweis sehen. Boussoufa besitzt keinen. Er lebt illegal in Deutschland, ohne gültigen Aufenthaltstitel, ohne Papiere. Jede Kontrolle kann so sein Leben in Deutschland gefährden, in Abschiebehaft enden. Es ist ein Leben in ständiger Ungewissheit.

Salman Boussoufa gehört zu jenen Menschen, die in der aktuellen Migrationsdebatte nicht vorkommen. Auch die Politik hat sie nicht im Blick. Es gibt nur grobe Schätzungen darüber, wie viele Menschen hierzulande ohne Papiere leben. Zwischen 200 000 und 500 000, vermutet die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Hinzu kommt: Es ist keine homogene Gruppe. Die Menschen kommen aus der ganzen Welt, aus Afghanistan, Moldawien, Ukraine, Türkei oder Kolumbien. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Biografien: Flucht vor Krieg, Terror oder Armut; die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Arbeit und eine gute medizinische Versorgung.

Der Zufall entscheidet

Seit der Asylweg ins gelobte Land steinig geworden ist, versuchen Migranten ihn zu umgehen. Manche entschieden sich von Anfang an für ein Leben in der Illegalität. Andere tauchten erst unter, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde, sagt Pro-Asyl-Sprecher Bernd Mesovic. Wobei das mit dem Untertauchen gar nicht so leicht sei. „Mit seinem dichten Netz an Meldebehörden ist Deutschland ein schwieriges Pflaster für Menschen ohne Papiere.“ Mitunter jedoch ist es nur ein schmaler Grat, der den legalen Aufenthalt von der Illegalität trennt. Oft hängt es von Zufällen ab, ob es den Menschen am Ende doch gelingt, von dem einen Leben ins andere zu wechseln. Und es ist möglich, den Staat auszutricksen.

Salman Boussoufa ist 32, ein schmaler Mann mit einem sorgfältig rasierten Dreitagebart in einem müden Gesicht. Ein warmer Junimorgen, er sitzt auf einer Parkbank in Berlin-Friedrichshain. Er senkt die Stimme, wenn er erzählt, wie ihn die Kontrolleure in der U-Bahn um ein Haar geschnappt hätten. Schwarzfahren kostet 60 Euro. Wer gleich bar zahlt, muss sich nicht ausweisen. Boussoufa sagt, er habe Glück gehabt. Doch es war ziemlich knapp. Er hatte nur 59 Euro im Portemonnaie. Ein Euro fehlte. Eine Frau schenkte ihm den fehlenden Euro. Boussoufa lächelt, zum ersten Mal in diesem Gespräch. Er sagt, das sei es, was ihn immer noch in Berlin halte. „Es gibt hier unglaublich nette Leute.“

Das Leben in der Illegalität hat Salman Boussoufa misstrauisch gemacht

Boussoufa kommt aus der Westsahara, einem Land, das spanische Kolonie war, bevor Marokko es 1975 annektierte und weite Teile der Bevölkerung vertrieb. Seit 1991 herrscht dort Waffenstillstand. Aber die Lage sei hoffnungslos, sagt er. Es gebe dort kaum Arbeit und keine Perspektive. Aber das Schlimmste sei die Angst vor der marokkanischen Polizei. Einmal hat er schon im Gefängnis gesessen. Mit Tausenden anderen hat er gegen die marokkanischen Besatzer demonstriert.

Jeder Vierte wird abgeschoben

„Komm nach Deutschland“, schrieb ihm ein Freund, der schon geflohen war. Jeder könne hier einreisen, und wenn man erst mal einen Fuß in der Tür habe, bliebe man auch drin. Das Asylrecht sei so löchrig wie ein Schweizer Käse. Als schutzbedürftig anerkannt zu werden, ist allerdings immer schwieriger geworden, seit 2015 die große Flüchtlingswelle nach Deutschland geschwappt ist und in den vergangenen drei Jahren rund 1,5 Millionen Menschen ins Land gekommen sind. Die Anerkennungsquote ist um die Hälfte gesunken, von 62,4 Prozent auf 32,5 Prozent. Abgeschoben wird aber dennoch nur jeder vierte abgelehnte Asylbewerber.

Und der Rest? Der muss keine Angst davor haben, durch die Maschen des Sozialstaats zu rutschen. Ein enges Netz aus Schutztiteln, Folgeanträgen, Duldungsgründen und Härtefallkommissionen fängt Menschen auf, die unerlaubt eingereist sind. 75 Prozent der abgelehnten Asylbewerber bekommen eine Duldung. Das ist zwar noch kein rechtmäßiger Aufenthaltstitel. Die Abschiebung wird nur vorübergehend ausgesetzt. Doch vielen verschafft das die nötige Atempause, um gegen ihre Abschiebung zu klagen. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht. 2017 lag die Erfolgsquote bei 44 Prozent. Einen Versuch ist es also wert. Man braucht nur unendlich viel Geduld und einen guten Anwalt.

Nur drei enge Freunde wissen, dass er keinen gültigen
Aufenthaltsstatus hat

Den Asylantrag von Salman Boussoufa lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017 ab. Dabei war der Mann aus der Westsahara auf dem besten Weg, ein Berliner zu werden. Er hatte ein Zimmer in einer WG mit zwei deutschen Studentinnen gefunden. Er hatte eine Ausbildung zum Koch in einem Hotel begonnen. Zuverlässiges Personal in der Gastronomie ist rar geworden. Boussoufa galt als freundlich und fleißig. Sein Chef wollte ihn behalten.

Nachrechtlicher Rechtsstatus für illegal Eingereiste

Er rutscht unruhig auf der Bank hin und her, wenn man ihn fragt, warum er gegen seine Ablehnung nicht geklagt hat. Er sagt: „Ich hatte keine Kraft mehr.“ Boussoufa krümelt Tabak auf ein Blättchen, um sich eine Zigarette zu drehen. Es ist schon die dritte an diesem Vormittag. Der Stress zehrt an seinen Nerven. Er schlägt sich jetzt mit Gelegenheitsjobs durch, als Babysitter, auf dem Bau oder als Verkäufer auf dem Flohmarkt.

Die Schwarzarbeit ist ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Das zeigt zum Beispiel eine Statistik der Grenzzolldirektion. Danach wurden 2016 Bußgelder in Höhe von 48,7 Millionen Euro gegen Arbeitgeber verhängt, die Menschen ohne Steuerkarte beschäftigten. 2017 belief sich diese Summe schon auf 64,4 Millionen Euro – ein Anstieg von fast 25 Prozent. Die Statistik differenziert zwar nicht nach Schwarzarbeitern mit oder ohne Aufenthaltstitel. Aber dass ein Großteil der Beschäftigten ohne gültige Papiere hier ist, davon geht Bernd Mesovic von Pro Asyl aus. Ganze Wirtschaftszweige sind auf Illegale angewiesen. Vor allem der Bau, die Landwirtschaft und die Gastronomie profitieren von illegaler Beschäftigung, erwirtschaften Extraprofite. Nicht zu vergessen private Haushalte. 90 Prozent aller Frauen, die als Putzfrauen beschäftigt sind, arbeiten schwarz. Es sind fast alles Jobs, die kein Deutscher haben will. Insgesamt 60 Milliarden Euro Steuereinnahmen, schätzen Experten, gingen dem Land durch diese Schattenwirtschaft verloren.

Heute nicht wissen, was morgen kommt. Die Ungewissheit macht ihm das Leben schwer

Der britische Ökonom und Migrationsforscher Paul Collier fordert deshalb, die Behörden sollten Menschen, die bereits illegal eingereist seien, nachträglich einen Rechtsstatus verleihen, der es ihnen erlaubt, auf Steuerkarte zu arbeiten. In den USA, wo rund elf Millionen Illegale leben, hatte sich der ehemalige Präsident Barack Obama dieses Ziel bereits 2008 auf die Fahnen geschrieben. Er wollte bevorzugt solche Migranten legalisieren, die schon als Kinder in die USA gekommen waren, hier einen Schulabschluss erlangt und schon jahrelang Steuern gezahlt hatten – ein lückenhaftes Meldewesen und gefälschte Sozialversicherungsausweise machen es möglich. Immerhin, haben Experten ausgerechnet, zahlen die Illegalen im Jahr zusammen elf Milliarden US-Dollar an Steuern – ohne davon zu profitieren. Das Vorhaben scheiterte am Widerstand der Republikaner. Sie erklärten, der Staat würde gesetzeswidriges Verhalten nicht nur belohnen, sondern zudem noch mehr Menschen ermutigen, illegal einzureisen. Paul Collier hält solche Ängste für unbegründet. Er vertraue auf die Grenzkontrollen, schreibt der Ökonom in seinem 2015 erschienenen Buch „Exodus – warum wir Einwanderung neu regeln müssen“.

Das wirtschaftliche Potential illegaler Einwanderer

Salman Boussoufa verdient mit seinen Gelegenheitsjobs etwa 700 Euro im Monat. Er hat ein Bett in einer Vier-Mann-WG. Krank werden darf er nicht. Denn als Papierloser hat er keine Kranken-, Renten- und Sozialversicherung. Papierlose sind ihren Arbeitgebern ausgeliefert. Boussoufa sagt, er kenne Leute, die um ihren Lohn geprellt wurden. Anzeige erstatten können sie nicht. „Keiner traut sich, zur Polizei zu gehen.“ Aber er jammert nicht. Das verbietet ihm sein Status. Nicht auffallen, große Menschenmengen meiden, Kontrollen in jedem Fall aus dem Weg gehen. Dieses Verhalten ist ihm zur zweiten Natur geworden. Man bemerkt dies erst, wenn er Fotos aus der Westsahara zeigt. Salman mit seinen Brüdern auf Jeep-Safari. Beim Picknick oder beim Reifenwechsel. Er trägt den Kopf nicht zwischen den Schultern, sondern hoch erhoben. Dort im Nordwesten Afrikas war er ein anderer Mensch.

Der Salman, der jetzt in Berlin lebt, hat einige Kilos abgenommen. Er hat tiefe Ringe unter den Augen. Er sagt, er schlafe nachts nicht besonders gut. So viele Fragen gingen ihm durch den Kopf. „Komm zurück“, sagen seine Brüder. Aber so einfach geht das nicht. Er hat noch immer Angst vor den marokkanischen Sicherheitsbehörden. Und wovon sollte er leben? Bevor er nach Europa kam, hat er mit Autos gehandelt. Doch das Geschäft lief schleppend.

Einsamkeit macht Menschen ohne Papiere anfällig für Halluzinationen

Aber es könnte sein, dass Boussoufa sein Glück schon bald in Spanien sucht. Als erstes EU-Land hatte Spanien im Jahr 2005 das wirtschaftliche Potenzial illegaler Einwanderer erkannt. Wer einen Arbeitsvertrag, eine Bescheinigung der Sozialversicherung und eine Bestätigung des Einwohnermeldeamts vorlegen konnte, bekam einen Aufenthaltstitel. 90 Prozent der Papierlosen nahmen dieses Angebot an. Zwar hat das Land seine Grenzen unter dem wachsenden Ansturm der Flüchtlinge aus Afrika wieder dichtgemacht. Aber Salman Boussoufa schreckt das nicht ab. Freunde von ihm leben auf den Kanarischen Inseln. Er sagt, es gäbe dort eine Community von Migranten aus der Westsahara. Menschen, die sich gegenseitig bei der Job- und Wohnungssuche helfen. In Deutschland, da macht er sich nichts vor, wird es so bleiben, dass er keine Rechte und keine Papiere bekommt. In Deutschland hat er keine Zukunft.

Isolation und Depression

Wie hält man ein solches Leben überhaupt durch? Den Druck, die Ungewissheit, die Verleugnung der eigenen Bedürfnisse? Es ist ein Balanceakt, der Kraft kostet und der krank macht, weiß Hans-Jürgen Fellmann. Fellmann ist Psychiater. Er engagiert sich ehrenamtlich für „Ärzte der Welt“. In Berlin-Zehlendorf betreibt die Organisation zusammen mit dem Verein „Medizin hilft“ eine Notfallambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung. Die Räume befinden sich versteckt im Souterrain eines Verwaltungsgebäudes in einer Einkaufsstraße. Wer hier landet, kommt auf Empfehlung. Es sind Obdachlose, Flüchtlinge oder Zugewanderte aus anderen EU-Ländern.

Ärzte unterliegen zwar der Schweigepflicht. Aber viele Menschen ohne Papiere trauen sich trotzdem nicht hierher. Fellmann hat jeden Dienstag Sprechstunde. Er sagt, es seien zu 90 Prozent Männer, die seine Hilfe suchten. Viel kann er nicht für sie tun, vielleicht ein Antidepressivum verschreiben und ihnen so „eine kurze Pause von diesem Daueralbtraum ermöglichen“.

Und er kann sich ihre Geschichten anhören. Sie erzählen von Krieg, Armut und Gewalt und von Träumen und von Sehnsüchten. Und von dem Schock, den sie in Deutschland erleiden. Denn hier rennen sie gegen geschlossene Türen. Viele sind Analphabeten und traumatisiert. „Die Männer sind enorm vereinsamt“, sagt Fellmann. Hier eine Matratze in der Wohnung von Menschen, die sie kaum kennen, dort ein paar Euro als Entgelt für einen Job in einer Küche: Das seien die einzigen Kontakte, die sie hätten. Aus Angst aufzufliegen, trauten sie sich kaum aus ihrer Isolation heraus. Einige litten unter Halluzinationen. „Sie befinden sich in so einem tagtraumähnlichen Zustand“, sagt Fellmann.

Drogendealer in Berlin-Kreuzberg

Im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg trifft man Männer wie die, von denen der Psychiater erzählt. Sie verdienen ihr Geld dort als Drogendealer. Wer sie sind, das interessiert hier kaum noch jemanden. Die meisten Anwohner macht es wütend, dass die Afrikaner in aller Öffentlichkeit Drogen an Touristen aus aller Welt verkaufen – mit dem stillschweigenden Einverständnis des rot-rot-grünen Senats, der auf Dialog statt auf Repression setzt. Man kann sagen: Im Görlitzer Park hat die Politik vor der Drogenkriminalität und vor den afrikanischen Drogenhändlern kapituliert.

Setzt Kreuzberg damit nicht ein falsches Signal? Brigitta Varadinek überrascht diese Frage nicht. Die Rechtsanwältin ist ein Rettungsanker für viele der jungen Drogendealer. Eine Mittfünfzigerin, die etwas Mütterliches ausstrahlt. Die meisten Afrikaner seien über Italien nach Deutschland gekommen. „Asyltouristen“, so heißen sie im Jargon der CSU. Varadinek hilft diesen Männern bei ihren Asylanträgen und bei der Suche nach einem Job. Sie sagt: „Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass wir halb Afrika hier aufnehmen können. Aber wenn diese Männer schon hier sind, muss man denen doch irgendwie helfen. 80 Prozent würden lieber legal arbeiten als mit Drogen dealen, wenn sie die Chance hätten.“

Papierlose führen im Schatten der Gesellschaft ein Leben ohne Rechte

Die Afrikaner vom Görlitzer Park gehören nicht zu der Klientel, die die Bundesregierung im Visier hat, wenn sie über ein Zuwanderungsgesetz streitet. Dabei wäre es allemal besser, ihnen eine Perspektive aufzuzeigen, als sie in die Schwarzarbeit und Kriminalität zu drängen sowie Schattenwirtschaft und mafiöse Strukturen zu stärken. Für eine solche Politik der Legalisierung wirbt der britische Migrationsforscher Paul Collier, der auch die Bundesregierung berät. Illegale Einwanderer seien andernfalls immer Quelle für weitere Illegalität, schreibt er.

Keine Chance auf dem Arbeitsmarkt

In Berlin-Kreuzberg kümmert sich der gemeinnützige Verein Bantabaa (auf Deutsch: Treffpunkt) darum, dass die Afrikaner aus dem Görlitzer Park wieder eine Perspektive erhalten. Vor vier Jahren hat Brigitta Varadinek diesen zusammen mit ihrer Tochter Annika gegründet. Zehn Afrikaner wohnen jetzt in zwei betreuten WGs, nur einen Steinwurf vom Park entfernt. Die Wohnungen gehören ihr. Einer der Bewohner ist Lamin (Name geändert). Er ist 25 Jahre alt, kommt aus Gambia, ein Mann mit ernstem Gesicht, der ein Basecap trägt. „Barely legal“ steht auf dem Schirm. Kaum legal. Man kann das als Kampfansage an den Bundesinnenminister verstehen. Lamin sagt: „Illegale gibt es gar nicht. Keiner kann sich aussuchen, wo er geboren wird. Ich kann gehen, wohin ich will.“

Einen Schulabschluss hat Lamin nicht, auch keine Ausbildung. Auf dem Arbeitsmarkt hat er keine Chance. Außer vielleicht bei Alain Gauvrit, 55. Sein Arbeitsplatz, das ist das Café Eigenzeit. Rindergulasch und Curry aus Madagaskar stehen dort auf der Speisekarte, an der Wand hängen Fotos von afrikanischen Sonnenaufgängen. Der französische Koch soll Männer wie Lamin fit machen für den Berliner Arbeitsmarkt. Leichter gesagt als getan. Viele der Jungs hätten noch nie eine Schule von innen gesehen, sagt Gauvrit. Er ist ein geduldiger Patriarch mit eisgrauem Vollbart und einer dunklen Hornbrille im Gesicht. Aber er weiß häufig nicht, wo er eigentlich anfangen soll. Mit der deutschen Sprache? Mit Werten wie Pünktlichkeit und Disziplin? Oder damit, den Männern beizubringen, dass man in den Pausen nicht kiffen darf?

Lamin füllt Erdnusssuppe aus einem Topf in kleinere Behälter. „Die Deckel musst du beschriften“, sagt Gauvrit. Es sind strenge Regeln, sie gelten in der Küche und in der WG. Wer sie nicht einhält, fliegt. Zwei Männer habe er schon vor die Tür setzen müssen, erzählt der Koch. Aber drei Männer hätten über Bantabaa schon einen regulären Job gefunden und einen legalen Aufenthaltsstatus. Das ist es, was ihn motiviert.

Lamin aus Gambia macht eine Ausbildung im Café Eigenzeit

Es könnten mehr sein, wenn die Mühlen der Bürokratie nicht so langsam mahlen würden, sagt Brigitta Varadinek. Unzählige Male hat sie die Ausländerbehörde schon angeschrieben, um eine Arbeitserlaubnis für die Männer aus der Küche zu beantragen. „Das dauert manchmal monatelang“, sagt sie, viele Arbeitgeber könnten nicht so lange warten. So gleicht der Kampf um Papiere nicht selten einer Lotterie oder der ewigen Suche nach einem Schlupfloch.

Wirtschaftsflüchtlinge

Szenenwechsel. Ein Mehrfamilienhaus in Berlin-Karlshorst. Kalmbach (Name geändert) steht auf dem Klingelschild. In der vierten Etage leben Wladimir und Elena mit ihren vier Kindern. Es ist eine spärlich möblierte Vierzimmerwohnung, doch Wladimir präsentiert sie so stolz, als wäre das sein Schloss.

Die Kalmbachs kommen aus Moldawien, dem ärmsten Land Europas. Es sind freundliche Leute, er Handwerker, sie Verkäuferin. Ihre drei ältesten Kinder sprechen perfekt Deutsch und gehen gern zur Schule. Lilly, die Älteste, kommt nach den Ferien aufs Gymnasium. An ihre Heimat erinnert sie sich mit Schrecken. An die bleierne Langeweile im Dorf und an nicht enden wollende Winter. Wladimir sagt, es sei immer schwerer geworden, dort Arbeit zu finden. 200 Euro im Monat, mehr verdient man in Moldawien nicht. Zu wenig, um eine Familie zu ernähren.

Streichen. Fliesen. Elektrische Leitungen verlegen. Schweißen. Wladimir ist ein Allround-Talent. Einer, der gern arbeitet. Egal, wo er war, er hat überall Jobs gefunden, auch in Berlin. Ein Hotel hat ihn als Hausmeister angestellt. Mit Steuerkarte, alles ganz legal. Für Wladimir ist es das Ende einer langen Odyssee. Er sagt: „Ich bin endlich angekommen.“

Sieben Jahre lang, sagt er, habe er sich in Italien mit Jobs durchgeschlagen. Illegal, anders ging es nicht. Moldawien gehört nicht zur EU. Dann wurde seine erste Tochter geboren. Mit dem Kind sei ihm das Versteckspiel zu gefährlich geworden. 2015 kam die Familie nach Berlin, „aus wirtschaftlichen Gründen, warum sonst“. Wladimir grinst. „Mir war schon klar, dass wir hier kein Asyl bekommen.“

Geschäft mit nachgemachten EU-Pässen

Als Drittstaatler dürfte der Familienvater eigentlich nicht in Deutschland arbeiten. Dafür braucht er einen EU-Pass. Einen solchen kann er seit 2010 in Rumänien beantragen. Vorausgesetzt, ihm gelingt der Nachweis, dass er rumänische Vorfahren hat. Wladimir legt das Dokument mit feierlicher Miene auf den Tisch. Man muss zweimal hinschauen. Es ist eine weiße Plastikkarte mit seinem Foto. Wie ein Pass sieht sie nicht aus. Eher wie eine Kundenkarte.

Das Geschäft mit nachgemachten EU-Pässen für Moldawier boome, heißt es bei der Bundespolizei. Die Ausweise seien so gut gefälscht, dass die Sachbearbeiter in den Ausländerbehörden sie nicht als solche erkennen würden. Wladimirs feierliche Miene verschwindet aus seinem Gesicht, wenn man ihn darauf anspricht. Er steckt den Pass schnell wieder ein.

Wladimir hat drei Brüder. Er erzählt, alle drei seien sie in die EU gezogen. Auswandern, das sei in Moldawien fast ein Volkssport geworden. Eine Million hätten die Heimat schon verlassen, schätzt er. Ein Drittel der Bevölkerung. Seine Brüder sind nach Irland, Spanien und Portugal gezogen. Aber keinem, sagt Wladimir, gehe es so gut wie ihm. „Wir haben Glück gehabt.“ Er legt den Arm um Elena. Sie strahlt ihn an. Im September kommt ihr fünftes Kind zur Welt.

Fotos: Tobias Kruse
 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.













 

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