Drittes Geschlecht - Weder Männlein noch Weiblein

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass es neben dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht einen dritten Geschlechtseintrag für Intersexuelle geben soll. Doch was bedeutet „intersexuell“ eigentlich? Die Antworten zu den wichtigsten Fragen

Vanja mit einem Plakat der Kampagne „Dritte Option“: weder eindeutig als männlich noch als weiblich geboren / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden: Zukünftig soll es im Geburtenregister einen dritten Geschlechtseintrag geben. Zusätzlich zum männlichen und weiblichen Geschlecht sollen intersexuelle Menschen ihr Geschlecht als „positiv“ eintragen können. Die Begründung: Menschen, die nicht mit einem eindeutigen Geschlecht auf die Welt gekommen sind, sollten nicht gezwungen sein, sich einem der zwei Geschlechter zuordnen zu müssen. Dies verstoße gegen das Personenstandgesetz und folglich auch gegen die Persönlichkeitsrechte (Az. 1 BvR 2019/16). Bis Ende 2018 muss der Gesetzgeber nun eine neue Regelung schaffen, die das dritte Geschlecht mit einer „positiven Bezeichnung des Geschlechts“ wie zum Beispiel „inter“ oder „divers“ aufnimmt – oder den Geschlechtseintrag beim Standesamt sogar ganz weglässt.

Die Betonung der „positiven“ Bezeichnung ist auf eine Änderung des Personenstandgesetzes aus dem Jahr 2013 zurückzuführen. Seitdem steht es Menschen ohne eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsmerkmalen nämlich zu, den Eintrag des Geschlechts einfach auszulassen. Die positive, dritte Bezeichnung soll es den betroffenen Personen aber ermöglichen, ihr Geschlecht auch in wichtigen Dokumenten wie dem Personalausweis, in dem das Geschlecht angegeben werden muss, eintragen zu können. Bisher hätte es durch die fehlende Regelung Schwierigkeiten etwa bei Auslandsreisen gegeben, heißt es. Vor allem komme aber „der Zuordnung zu einem Geschlecht (…) für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu“, verkündeten die Karlsruher Richter. Das geltende Recht verstoße gegen das Diskriminierungsverbot, zudem sehen die Richter keinen Grund dafür, Intersexuellen einen eigenen Eintrag im Geburtenregister zu verbieten.

Wie kam es zu der Entscheidung?

Auslöser für den Beschluss war die Klage einer intersexuellen Person, die im Kindesalter dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde: Vanja. Ihr Antrag auf Änderung der Geschlechtsangabe im Geburtenregister in „inter“ wurde abgelehnt. Sie legte daraufhin mit einer Chromosomenanalyse Klage ein, da die Analyse sie weder eindeutig als Mann oder als Frau bestätigt – sie hat nur ein X-Chromosom. Die Klage scheiterte ebenfalls in allen Instanzen, auch vor dem Bundesgerichtshof. Erst die eingereichte Verfassungsbeschwerde war nun erfolgreich.

Was ist Intersexualität?

Intersexualität ist nicht zu vergleichen mit Transsexualität. Während Transsexuelle mit einem eindeutigen biologischen Geschlecht geboren wurden, sich diesem aber nicht zugehörig fühlen, sind die Geschlechtsmerkmale bei Intersexuellen nicht eindeutig – etwa Chromosomen, Keimdrüsen, Hormone oder äußere Geschlechtsorgane. Bei ihnen kommen gleichzeitig weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale vor, weshalb sie vor der Einführung des Begriffs „intersexuell“ vor allem als „Zwitter“ oder „Hermaphroditen“ bekannt waren. Die Begriffe werden jedoch inzwischen von vielen Betroffenen als diskriminierend betrachtet.

Es gibt verschiedene Formen der Intersexualität, laut Experten soll es mehr als 60 Varianten geben. Manche der betroffenen Kinder sehen beispielsweise wie ein Mädchen aus, haben aber im Erbgut ein Y-Chromosom. Bei anderen produziert der Körper männliche Hormone, sodass die Betroffenen wie ein Junge aussehen, obwohl sie mit einem weiblichen Geschlechtsteil geboren wurden. Wiederum andere werden mit zwei Geschlechtsteilen geboren.

Die zweitgenannte Form ist die häufigste Variante der Intersexualität: Das Adrenogenitale Syndrom (AGS) – es kommt bei einem von 10.000 Neugeborenen vor. Beim AGS werden zu viele männliche Hormone gebildet, wodurch das Neugeborene trotz weiblicher Geschlechtsmerkmale männlich wirkt.

Bis zur sechsten Schwangerschaftswoche ist bei jedem Fötus noch nicht sicher, in welche Geschlechtsrichtung er sich entwickelt. Biologisch gesprochen: Erst das Chromosomenpaar XY lässt dann männliche Geschlechtsmerkmale wachsen, das XX-Chromosomenpaar weibliche. Intersexuelle besitzen nur ein X-Chromosom, das zweites Chromosom, das sie eindeutig als weiblich (X-Chromosom) oder als männlich (Y-Chromosom) ausweisen würde, fehlt ihnen. Mediziner sprachen bisher von einer „Störung der Geschlechtsentwicklung“ – diese Bezeichnung wird jedoch ebenfalls als diskriminierend gesehen.

Wie viele Intersexuelle gibt es?

Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Derzeit sollen schätzungsweise zwischen 80.000 und 120.000 Intersexuelle in Deutschland leben. Mutmaßlich wird eines von 2.000 bis 5.000 Neugeborenen ohne eindeutiges Geschlecht geboren, in Deutschland betrifft dies also vermutlich 150 Neugeborene im Jahr.

Wie geht es weiter?

Das Bundesinnenministerium hat bereits angekündigt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu akzeptieren. Für viele geht damit auch die Forderung einher, Intersexualität nicht mehr als eine „Störung der Geschlechtsentwicklung“ zu betrachten. Diese Ansicht sei mit geschlechtsangleichenden Operationen an Kindern verbunden. Jährlich soll es ungefähr 1.5000 solcher medizinischer Eingriffe geben. Kampagnen wie „Dritte Option“ fordern, dass Eltern nicht mehr die Entscheidung für eine Operation stellvertretend für ihre Kinder treffen dürfen.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

In Australien gibt es bereits seit 2003 den Geschlechtseintrag „X“. Anfangs war der Eintrag noch von der biologischen Geschlechter-Uneindeutigkeit ab, seit 2013 steht er jedoch als selbstbestimmte Wahl frei. In Indien ist seit 2014 das dritte Geschlecht rechtlich anerkannt, in Kanada ist seit August dieses Jahres der Eintrag „X“ auch in Pässen gültig. Ebenso in Kolumbien, Argentinien, Malta, Bangladesch, Nepal, Pakistan, Neuseeland und Dänemark.

Anders als in Australien gilt das Recht auf das „dritte Geschlecht“ in Deutschland nur für diejenigen, die biologisch nicht einem Geschlecht zuzuordnen sind – nicht für diejenigen, die sich aus kulturell-identitätspolitischen Gründen keinem Geschlecht zuordnen wollen, obwohl sie biologisch eindeutig einzuordnen sind.

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