Dresdens Problemviertel Prohlis - Nicht ohne Zorn

Einst war hier ein Dorf. Dann kamen die Sozialisten, später die Privatisierer, zuletzt kamen Flüchtlinge. Nun ist Prohlis ein armer, gespaltener Stadtteil von Dresden. Darin leben viele empörte Bewoh­ner. Ein Ortstermin

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Autoreninfo

Birk Meinhardt ist Journalist und Schriftsteller sowie zweifacher Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises.

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Der erste Kunde der Prohliser Tafel, der Lebensmittelausgabe für Bedürftige, ist ein Mann in einem grellblauen Daunenanorak, wie er beim Skifahren in den Alpen getragen wird. Und der Mann ist auch ein sportlich wirkender, durchaus Charisma ausstrahlender; wäre er bereit zu erzählen über sich?

„Nein“, sagt er, „Journalisten verdrehen nur alles.“ Aber er guckt nicht böse. Er bleibt, als er mit keinem Wort überredet wird, stehen und fängt doch an zu sprechen, über die Messerattacke auf den Bürgermeister in Altena im Sauerland, es ist Advent, sie ist gerade drei Tage her, und sie wurde von einem deutschen Flüchtlingspolitikgegner verübt: „Ich verurteile die Attacke, keine Frage. Aber was seitdem daraus gemacht wird! Keine Nachrichtensendung ohne das Thema, und jetzt auch noch die Talkshows! Es ist viel zu viel. Dass die Leute in diesen Sendern nicht merken, dass sie genau das Gegenteil erreichen. Ich frage Sie, was ist eigentlich mit den vielen anderen Fällen? Den Messerattacken von Nichtdeutschen? Gibt es die gar nicht, oder warum werden die nicht diskutiert?“

„Da haben wir’s“

Interessante Tage waren das diesbezüglich. Fast zum selben Zeitpunkt wie der Bürgermeister in seinem Städtchen war in Berlin-Neukölln ein Bursche von zwei Arabern mit dem Messer verletzt worden, weil er um den Hals eine Kette mit christlichem Kreuz trug, das ist entweder gar nicht oder nur dürr vermeldet worden, wie einer Pflicht genügend oder einer Gewohnheit folgend.

Der Mann hier in Prohlis, so stellt sich fast logischerweise heraus, hört von der Neuköllner Sache das erste Mal, sagt darum etwas Triumphierendes wie: „Da haben wir’s“? Er schweigt. Schaut ernst und ein wenig müde, er ist kein Eiferer, schon gar kein Hasserfüllter, nur ein Benenner, seine eigene Geschichte im Übrigen geht so: Zu DDR-Zeiten war er Elektroingenieur und nebenher DJ. Dann organisierte er Tanzshows, mit denen tour­te er durch die Ferienheime der Gewerkschaft. Nach der Wende weiter in Einkaufszentren, aus den Shows wurden Modenschauen. Später die Finanzkrise. Kaum noch Buchungen. Neustart als Handelsvertreter, und leider, ihm, dem Vorführungsexperten, wird beim Anpreisen von Produkten geringster Haltbarkeit ein Leuchten und Scheinen abverlangt, das er nicht auszustrahlen vermag. Er will nicht wahrhaben, dass er in die Armut driftet, er lässt sich, um nicht zum Amt gehen zu müssen, seine private Rentenvorsorge auszahlen, und erst als die verbraucht ist, begreift er das wahre Ausmaß seines Dilemmas; „aber wie gesagt“, sagt er, „ich sage nichts“. Und weg ist er.

„Manchmal gehe ich in den Müll“

Hat er es nicht gut? Im Vergleich zu der Frau, die ihn gewissermaßen ablöst? Sie ist 58 und sieht so wenig abgerissen aus wie er, eine anmutige Person, die einen ahnen lässt, wie schön sie erst früher gewesen war. „Wenn die Tafel nicht wäre …“, haucht sie und schweigt, ist sie vielleicht auch ein bisschen kokett?

„Sie werden es nicht glauben, aber ich gehe manchmal in den Müll.“ Und wieder ertönt es so samtig, dass es dem Inhalt nicht recht angemessen scheint. Aber dazu schießen ihr Tränen ins Gesicht. „Wenn ich … nämlich im Müll was finde, kann ich das Geld sparen, das ich hier ausgebe.“ Langsam fängt sie sich wieder, auch sie erzählt ihre Geschichte: Diverse Leiharbeiten, die letzte in einer Zigarettenfabrik, in drei Schichten. Erschrecken beim Blick auf den Lohnzettel, tatsächlich nur 500 Euro? Sie unterbricht sich, sie ist alarmiert, denn gegenüber, wo neue Bedürftige ihre Lebensmittel einpacken, verstaut jemand einen Weihnachtskalender in seiner Tüte.

„Warum habe ich keinen Kalender“, murmelt sie, „ich habe doch Enkel, gibt es drinnen Kalender?“ – „Wahrscheinlich. Gehen Sie doch noch mal rein.“ Sie mag aber erst zu Ende reden, 500 Euro Lohn für eine Plackerei in drei Schichten also. Sie wollte mehr und bekam 900 in Aussicht gestellt. Bitte über 1000, erwiderte sie, ich lasse mich nicht ausbeuten. Und das war ihr letztes Wort, bevor sie gefeuert wurde.

„Nun machen Sie schon.“ Die Frau bleibt stumm sitzen, kramt schließlich ihr Portemonnaie hervor und findet darin noch 16 Cent. „Kommen Sie, ich gebe Ihnen das Geld, das Sie brauchen.“ Sie schüttelt den Kopf, steigt lautlos die Treppe hoch zur Kasse und fragt die Frau dort leise, wie viele Kalender sie für 16 Cent kriegen könne. Drei. Da schießt sie los und holt sich die.

Als Doktor und Verkäuferin noch nebeneinander wohnten

Rückblende. Prohlis war einst ein Dorf am Rande Dresdens. Ab 1975 musste es den Plattenbauten weichen, die hier errichtet wurden. Bald gab es turmhohe Häuser, aber noch kaum befestigte Straßen, die Leute versanken bei jedem Schritt im Morast, und dies führte zu einem selbst für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Bild. Jens Bogawski, einer jener Alteinwohner, präsentiert es in Worten: „Bis zur Bushaltestelle stapften wir in Gummistiefeln. Dort zogen wir sie aus, holten Straßenschuhe hervor und fuhren auf Arbeit. Die Stiefel ließen wir stehen. Da waren viele lange Reihen von Gummistiefeln, und wenn wir um 17 Uhr zurückkamen, waren sie alle noch da.“

Wie er es erzählt, klingt er einerseits belustigt und andererseits ehrfürchtig. Er hat gern hier gelebt, wie die allermeisten – was im Westen wohl die allerwenigsten verstehen, denn gelten die Plattenbauten nicht als das Symbol von DDR-Tristesse? Für Bogawski und die anderen Gummistiefelträger waren sie aber ein spürbarer Fortschritt, wer einziehen durfte, bekam ungewohnterweise fließend warmes Wasser und Zentralheizung, es war normal bis 1989, dass Doktor und Verkäuferin nebeneinander wohnten.

Da leben, in einigen Straßenzügen, noch ein paar wenige betagte Vertreter der Intelligenzija, kluge, stolze Menschen wie Annegudrun Heilmann. Sie war Puppenspielerin, Theaterintendantin, 20 Jahre Pressereferentin der Semperoper. Heute, im Ruhestand, liest sie Korrektur für eine Obdachlosenzeitung, sie hatte gesehen, wie viele Fehler in dem Blättchen waren, ist kurz entschlossen zu den Machern gegangen und hat erklärt: Sie brauchen mich! Jene Straßenzüge aber, in denen es sich unberührt von allem Vulgären wohnen und fein karitativ denken und handeln lässt, sind diejenigen, in denen alle Häuser einer Genossenschaft gehören. Der Bestand an Sozialwohnungen ist hier gleich null. Alimentierte Buden wiederum bietet, und zwar gleich en masse, der den Stadtteil beherrschende Eigentumsriese Vonovia – und damit zu den Armutszahlen.

Der verhängnisvolle Verkauf

Am Jahresende 2016 hatte Prohlis 15.000 Einwohner. Nach Prohlis-Nord und Prohlis-Süd unterteilt, bezogen 25,7 respektive 32,1 Prozent aller Erwerbsfähigen Sozialleistungen nach SGB II, in ganz Dresden waren es 9,3 Prozent. Von den Nichterwerbsfähigen einschließlich der Kinder erhielten in Prohlis sogar 38,7 beziehungsweise 43,5 Prozent staatliche Stütze, zum Vergleich wieder Dresden gesamt, 12,8 Prozent.

Entmischtes Gebiet, heißt es in der Stadtsoziologie, was war geschehen? Das Übliche zunächst. Wohlhabendere zogen nach der Wende in sanierte Altbauten, Ärmere kamen von dort, ein schleichender Prozess. Dann aber trafen die Regierenden Dresdens eine trendig-vollkapitalistische Entscheidung: Sie verkauften auf einen Schlag das komplette Wohneigentum der Stadt, da war die plötzlich schuldenfrei, ach, wie konnte sie nun glänzen. Dass man einen Teil des Gemeinwesens damit dauerhaft von den Zonen des Wohlstands entfernen würde, übersah man geflissentlich, man redete sich ein, doch ein ordentliches Netz gezogen zu haben: War dem Käufer nicht vorgeschrieben worden, er habe soundso viele Wohnungen für vom Sozialamt geschickte Menschen bereitzuhalten?

Soziale Vereine gibt es zuhauf

Ja. Eben. Und der Käufer, der sich an die Vereinbarungen hält, macht nun Geld gerade mit der bedürftigen Masse, und die Masse mehrt sich immer weiter im für sie geschaffenen Netz, ihre einzelnen Mitglieder sind wegen dieser Zugehörigkeit längst wie gebrandmarkt. Jens Bogawski kennt Fälle, da sagte der Arbeitgeber zum Angestellten: Sie wohnen in Prohlis? Das sollte in Ihrem eigenen Interesse vielleicht nicht so bleiben, gucken Sie doch mal, ob sich nicht woanders was findet. Immerhin Ironie hat die Sache. Zu den Arbeitgebern, bei denen so geredet wird, mit so einem Wohlwollen, durch das der Dünkel blitzt, gehört Bogawski zufolge auch die Stadtverwaltung.

Woher er das weiß? Er ist Chef der Bürgerinitiative Prohlis. Er hat 35 Mitstreiter, die allein haben genug zu erzählen. Im Übrigen kommt, wer ein paar Tage im Viertel recherchiert, irgendwann fast durcheinander vor Vereinen wie seinem, alle sitzen sie in jeweils einer kleinen ebenerdigen Wohnung: die älteren, graugesichtigen Männer, die, über Kreuzworträtsel gebeugt, darauf warten, überforderten Menschen beim Ausfüllen von ALG-II-Anträgen zu helfen; die leise, geduldige Frau Lindner, die versucht, Finanzierungen für kleine kulturelle und soziale Projekte heranzuschaffen; die burschikose Frau Stein.

Der Akt des Bewusstmachens

Ihr Verein heißt Querformat. Er ist für die Ärmsten mittleren Alters, was kann sie tun für die? Die Komplexität ihrer Probleme begreifen, das ist mal das Erste: „Als Hartzer geht mir Mitte des Monats mein Geld aus. Ich kriege aber Schmerzen, müsste mir ein Medikament kaufen, nur, kaufe ich es, kann ich den Strom nicht mehr bezahlen. Mahnungen kommen, er werde abgestellt. Aber ich will auch den Kindern was schenken, die haben so viele Defizite, bei Strafe weiterer Verschuldung und vielleicht der Obdachlosigkeit, ich tue es …“

Manuela Stein vom Verein Querformat 

Kaum mehr als Ratschläge kann sie geben: Weißt du, dass am Geburtstag jeder kostenlos mit der Weißen Flotte fahren darf? Zum Jobcenter? Zur Not geh ich mit. So dämpfen sie und die anderen Fürsorglichen der zutiefst ungleichen Gesellschaft die größten Widersprüche, still ist es bis vor kurzem geblieben, im Grunde lautlos war der Mechanismus des Ausschließens und gleichzeitigen Befriedens immer weitergegangen. Als Zyniker hatte jemand wie der Dramatiker Heiner Müller gegolten, weil er, sinngemäß, vorschlug: Wenn du, mit einer Speise in der Hand, einen Bettler erblickst, geh hin. Doch reich ihm die Speise nicht. Iss sie vor seinen Augen genüsslich auf.
Der Akt des Bewusstmachens. Die Provozierung des Aufstands. Müller, lange tot, fände es gewiss interessant jetzt, denn vor den Ärmsten steht gleich eine ganze Menge an Menschen, deren Anblick ihnen aufrührerische Gedanken verursacht.

Diese Menschen tun in der Regel nichts Demonstratives. Aber sie sind da, und sie wirken geradezu zwangsläufig als Provokation, weil sie, mit größtenteils unübersichtlichen Begründungen, von weither kamen und nun ihr Geld aus dem Staatstopf erhalten. Es sind die Asylsucher und Flüchtlinge natürlich, sie sammeln sich in Prohlis noch stärker als anderswo, eben wegen der billigen, vom Amt komplett bezahlbaren Mieten. Die Statistik hierzu: Ende 2016 lebten 16,6 beziehungsweise 16,7 Prozent Ausländer sowie Deutsche mit Migrationshintergrund im Stadtteil, in ganz Dresden waren es 10,6 Prozent. 47,5 respektive 41,5 Prozent der Ausländer in Prohlis erhielten Leistungen nach SGB II, in Dresden gesamt: 20,1 Prozent.

Wie auf einem anderen Planeten

Damit ist, insbesondere seit der Flüchtlingswelle im Herbst 2015, die Entmischung noch einmal drastisch vorangetrieben worden; Herr Blumenstein und Herr von der Lieth, Sie sind doch mit am nächsten dran, welche Probleme begegnen Ihnen im Speziellen?

Die beiden arbeiten für die Caritas, die in Prohlis 850 Flüchtlinge und Asylbewerber betreut, und sie erklären, vor einer Antwort, erst einmal: „Es gibt keine Welle.“ – „Wie bitte?“ – „Der Begriff ist schwierig. Bitte nicht von Flüchtlingswelle reden.“ – „Warum denn nicht?“ – „Weil das so ein Katastrophenbild ist.“ – „Das spielt vielleicht mehr in Ihrem Kopf. Man reitet auch eine Welle, man badet in ihr.“ – „Was ist denn Ihre Assoziation bei Flüchtlingswelle?“ – „Eine Million Menschen sind gekommen, ein gewaltiger Schub. Schlicht ein Tatbestand.“

Plötzlich scheint einem der Tisch, an dem das Gespräch geführt wird, auf einem fremden Planeten zu stehen, einem Planeten, für deren Bewohner die Einhaltung von in ihrem Kreis beschlossenen Sprachregelungen durch alle Lebewesen vorrangige Bedeutung erlangt hat. Wie irre das ist, fiele vielleicht gar nicht so doll auf, wenn sich der Tisch nicht eben noch in einem Zimmer eines Gebäudes am Rande ausgerechnet von Proh­lis befunden hätte – doch weiter.

Flüchtlingshelfer Conrad Blumenstein

Die Probleme sind deutlich. Der eher nachdenkliche Conrad Blumenstein und der vorzugsweise eifernde Albrecht von der Lieth nennen diverse, für die Deutschen äußerst beschämende Beispiele. Hier der Messerangriff eines Einheimischen auf einen jungen Eritreer. Da Hiebe für schwarzafrikanische, Kinderwagen schiebende Frauen. Dieser Migrant wird vom Fahrrad gestoßen, jenem wird die Haustür beschädigt. Und kaum einer erstattet Anzeige, ist hier so, sagen sich die Betroffenen, nützt ja nichts …
„Und umgedreht? Dinge, die vielleicht von Ihren Klienten ausgehen?“
Schweigen.
„Nichts?“ Da erzählt Albrecht von der Lieth von einer wissenschaftlichen Arbeit, in der steht, dass auf Ämtern deutsche Frauen ihre Kinder mittels des Windelns und der Nahrungszufuhr ruhigstellen, die Frauen aus anderen Kulturkreisen sie dafür mehr herumwuseln ließen, was vielleicht für Irritationen sorge. Ansonsten fiele ihm wirklich nichts ein.

„Das ist Ihr Ernst? Das widerspräche jeglicher Erfahrung, gerade bei allein gereisten jungen Männern; wenn es in Proh­lis anders sein sollte, wäre es grandios.“
„Sie haben ja mich als Mann gefragt, und ich bin keine muslimische Frau.“
„Herr von der Lieth?“
„Sicher gibt es in irgendeiner Weise Schwierigkeiten manchmal, sozusagen in der Abgrenzung Frau – Mann. Also, wir haben das hier heute gerade diskutiert.“ Es stellt sich heraus, eine Woche zuvor war, nicht in Prohlis, aber woanders in Dresden, eine Sozialarbeiterin von einem Flüchtling vergewaltigt worden. „Und da ist mir das erste Mal klar geworden, okay, es gibt Kollegnn, die vielleicht auch sowas erlebt haben und die sagen, ich fühle mich schlecht.“ – Von wem spricht er? Hat er eine Silbe verschluckt? „Sie meinen Kolleginnen?“ – „Kollegnnen aus dem Team hier.“

Ungleiche Budgetverteilung

Genug, obwohl das Gespräch noch eine Weile so weiterging, dies ist kein Kabarett, und dies ist auch keine Aufrechnung, obwohl es leicht eine sein könnte. Manuela Stein zum Beispiel berichtet von einem durch ihren Verein betreuten Mann, dem vier Ausländer in der Straßenbahn das Handy entrissen; im Endeffekt ist es noch ruhig in Prohlis, es gibt hier keine höhere Kriminalität als anderswo in der Stadt, es gibt in der Regel nur ein unspektakuläres beharrliches Atmen, Gehen, Essen, Sprechen, Stehen und dazwischen, oder darunter, die Schwingungen zurückgehaltenen Unwillens, wenn nicht Zornes.

Bemerkenswerterweise offenbaren gerade die ehrenamtlichen Helfer der deutschen Bedürftigen Zorn, er resultiert aus ihren Erfahrungen, die eines besagen: dass ihren Schützlingen im Vergleich zu den jüngst hier Hergelangten seitens der Politik und der Medien von allem weniger zufließt – weniger Gehör, weniger strukturelle Unterstützung, weniger Einfühlung.

Um bei der Frau Stein zu bleiben. Sie erhält für ihre Arbeit 40 Euro im Monat, dafür kommt die Bürgerstiftung Dresden auf. Sie verlangt nicht mehr für sich, der Punkt ist nur: Bei der Caritas sind derzeit 17 für Prohlis zuständige Flüchtlingshelfer angestellt. Die Caritas wiederum hat einen Vertrag mit dem Sozialamt, das sämtliche Löhne zahlt. Es hatte hierzu eine Ausschreibung gegeben, wie für das Betreiben einer Bahnlinie oder den Bau einer Straße. Längst ist die Flüchtlings- und Asylbewerberbetreuung zu einer Art Industriezweig geworden.

Sie brauchen auch tatsächlich spezielle Hilfe, die Fremden, oft nicht der deutschen Sprache Mächtigen, schon ihre Wohnungssuche bliebe sonst ohne Erfolg. Aber wenn die Frau Stein nun sagt, lasst uns eine Inklusion versuchen, warum sind die Töpfe fürs Arbeiten mit Flüchtlingen und die fürs Kümmern um Einheimische so strikt getrennt und so sehr unterschiedlich gefüllt, dann hört sie von Leuten aus eben jener Betreuungsindustrie schon mal, mit solchem Plebs reden wir nicht. Was natürlich ein recht unklarer Satz ist. Er lässt offen, ob damit ihre Bedürftigen oder sie selber oder sie samt ihren Bedürftigen gemeint ist.

Privates Engagement trotz aller Schwierigkeiten

Zu den Ungleichheiten gehört wieder und wieder ihre Nichtbenennung. In Proh­lis ist greifbar, dass die Nichtbenennung sogar das größere Übel ist. Jens Bogawski berichtet von sehr alten Rentne­rinnen aus seiner Bürgerinitiative, die ihm Folgendes, im öffentlichen Raum eben nicht Diskutiertes sagen: „Als wir jung waren, haben wir in unserer zerstörten Stadt Steine gekloppt. Das können diese jungen Männer, die wir jeden Tag hier herumstehen sehen, bei sich daheim wohl auch. Herrscht dort noch Krieg? Wird noch geschossen? Wenn nicht – auf Wiedersehen.“ Pause. „Wieso drum herumreden, ich muss den Frauen teilweise recht geben. Ich packe jedenfalls nicht den Werkzeugkoffer und ziehe da runter.“

Zu ihm selber wäre noch anzumerken, er hat seinen Werkzeugkoffer ausdauernd geschleppt, erst als Elektromonteur, dann als Fußbodenleger. Jetzt ist er zu 100 Prozent invalid geschrieben. Abgesehen von den kaputten Knien hat er eine Herzinsuffizienz und eine kranke Lunge. Nachts schläft er mit Beatmungsgerät, um sich ein Sauerstoffreservoir für den Tag anzulegen. Er sagt Sätze wie: „Bei meiner Lebenserwartung hätte es früher geheißen, eine Langspielplatte braucht der sich nicht mehr zu kaufen.“ Und doch organisiert er Computerkurse. Geht zu den Trinkern am Springbrunnen und redet mit ihnen und auch mit den Eltern, die ihre Kleinkinder zum Pinkeln übern Beckenrand halten; mit einem Wort, der alte Gummistiefelträger, der Mann von hier, sorgt sich um die Abgestürzten von hier.

Wobei er genauso einen Deutschkurs für die jungen fremden Männer organisiert hat, dreimal pro Woche konnten sie kommen und lernen. Am Anfang waren es ihrer zehn. Dann neun, dann acht, und nach vier Monaten war es bloß noch einer. So etwas prägt ihn, Bogawski, und alle, die es hautnah erfahren.

Haltungen verfestigen sich

Und gar nicht selten führt es zu einem Blick, der nichts anderes mehr wahrnimmt; an der Kasse der Tafel, wo die aparte Erscheinung ihre 16 Cent vorgezeigt hatte, sitzt Rosemarie Oertel, Chefin der Prohliser Zweigstelle, rührige Ehrenamtliche seit einer halben Ewigkeit, und berichtet: „Die Ausländer wollen gern Südfrüchte. Sie verstehen nicht, dass wir pro Person nur fünf geben können. Der Peter vom Gemüse wurde deswegen bedroht. Sogar die Polizei haben wir schon rufen müssen. Eine Russin hatte sich über ihren viel zu voll gepackten Kasten gelegt und mich übel beschimpft, die dachte, die kann sich hier alles rausnehmen. Wenn ich mir dagegen unsere deutschen Rentner angucke: Die erscheinen nur einmal in der Woche, obwohl sie es viel öfter nötig hätten, ich kenne ja jeden, die schämen sich.“

„Wer darf überhaupt hier kaufen?“ Sie will es einem anhand von Bedürftigkeitsnachweisen zeigen. Zuoberst liegen zufälligerweise die Papiere eines Arabers. Auf ihnen steht, als Monatsbetrag des Sozialamts, eine Zahl knapp über 2000, und als Frau Oertel die sieht, tippt sie mit dem Zeigefinger darauf und sagt, „das ist auch wieder bezeichnend, der Regelsatz für einen deutschen ALG-II-Empfänger beträgt 409 Euro, wieso hat dieser Mann und, wer ist noch aufgeführt, Frau und ein Kind, wieso haben die über 2000?“

Rosemarie Oertel von der Tafel 

„Moment, sind es nicht mehr Kinder?“ – „Es sind nicht mehr, wo sollen das mehr sein?“ – „Gucken Sie, hier, auf der Liste von oben runter, fünf.“ Sie hatte ihre Augen einfach nicht weiterbewegt.

Das alte Lied, eine Ungerechtigkeit führt zur nächsten. Aversionen bilden, Haltungen verfestigen sich, die Zahlen, letzte Lieferung: Bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst hat die AfD in Prohlis 32,4 beziehungsweise 33,4 Prozent der Stimmen erhalten, in Dresden gesamt waren es 22,5 Prozent.
Die Partei wird von ihrer etablierten Konkurrenz durchweg als rechtspopulistisch, oft als rassistisch, zuweilen als völkisch etikettiert. Vor allem wird sie für die Spaltung der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Sie existierte aber noch gar nicht, als die Spaltung einsetzte.

Nährboden für die AfD

Die Politik, deretwegen aus Prohlis ein schrecklich armer, unterschwellig empörter Stadtteil wurde, haben andere zu verantworten, und diese anderen scheinen nicht im Mindesten zu begreifen, was sie anrichten und sich auch selber antun, wenn sie die AfD immer weiter zu stigmatisieren versuchen: Vielen Bürgern ist das nicht einmal mehr ein sarkastisches Lächeln wert. Da sie ihre einfachen und darum noch lange nicht dummen Fragen – wieso haben wir Steine gekloppt … wieso leben Menschen hier sogar noch mietfrei und mit Staatskohle versehen, die längst hätten abgeschoben werden müssen? –, da sie solche ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit entspringenden Fragen nur von der AfD aufgegriffen sehen und die AfD vor ihren Augen so einheitsfrontartig ausgegrenzt wird, passiert nur dies: Sie fühlen sich selber ausgegrenzt. Sie finden ihre Wirklichkeit diffamiert. Sie sind so weit, jene Front aufs Selbstverständlichste zu verachten.

Ihr Mann in Prohlis heißt Harald Gilke. Er sitzt für die AfD im Ortsbeirat und im Stadtrat und verdient sein Geld als Referent eines Landtagsabgeordneten, vorher war er angestellt in einem großen Elektronikvertrieb – weil es aber viele Formen von Ausgrenzung gibt, hier mal eine besonders wirksame: Sein damaliger Chef bekommt den Kommunalwahlzettel mit seinem Namen in die Hand, zitiert Gilke zu sich und fordert ihn auf, sich zu erklären. Ich muss Ihnen doch nichts erklären, antwortet Gilke. Und ist fristlos gekündigt.

Nun hält er also im Stadtteil Bürgersprechstunden ab. „Gut die Hälfte dessen, was da beredet wird, hat nichts mit klassischer Politik zu tun. Die Leute kommen zum Beispiel, weil das Amt sie von ALG II in Frührente schicken will, so wären sie runter von der Liste. Ich rechne dann mit ihnen durch, ob sie darauf eingehen sollten oder nicht. Ich habe jederzeit auch die Telefonnummern von Fachanwälten parat.“

Er arbeitet, wie’s von der Wählerschaft bestimmt worden ist, und lässt die Zeit für sich arbeiten, und welche Möglichkeiten er in ihr sieht, in der mit ihm ziehenden Zeit, wird deutlich anhand einer Nebenbemerkung und eines Mienenspiels, die Bemerkung: Wenn wir als AfD 2019 in Sachsen vielleicht den Auftrag zur Regierungsbildung kriegen; das Mienenspiel: ein kurz aufscheinendes, zwischen Vorfreude und Ungläubigkeit chan­gierendes Lächeln.

Die Zukunft

Gibt es irgendwo Hoffnung in Prohlis? Wie überall und zu jeder Zeit da, wo Kinder sind. 20 bis 25 von ihnen, ausländische und deutsche, treffen sich dreimal pro Woche in einem verglasten Raum des Einkaufszentrums und lernen unter Anleitung von Luise Börner Geige und Cello. Es ist gewissermaßen der Proh­liser Ableger eines gigantischen venezolanischen Projekts namens El Sistema, das die junge Musikpädagogin während ihres Freiwilligenjahrs in Südamerika kennengelernt hatte: Dort üben die Kinder bis zu sechsmal die Woche. Sie sind aus den Armenvierteln. Sie kriegen alles kostenlos, die Instrumente, die Stunden, der Staat gibt – um ihnen in einem Milieu voller Gewalt und Drogen die Idee eines anderen Lebens einzupflanzen – Gelder in Millionenhöhe aus.

In Prohlis werden hauptsächlich Inventur-Instrumente des Heinrich-Schütz-Konservatoriums verwendet. Eine alte Frau, die nach einem Schlaganfall nicht mehr spielen kann, spendete ihre Geige. Bei der Übergabe weinte sie. Und bitte, wer jetzt bei den Kindern sitzt und zuschaut, wie sie unter den flüchtigen oder aufmerksamen Blicken der Passanten üben, bekommt schnell auch feuchte Augen, solche Begeisterung herrscht, solches Mitgerissensein von der Musik, von der tollen Lehrerin, von sich selbst.

Das Projekt „Grenzenlos Musizieren“

Nur bleibt hinter der Scheibe ein älterer Mann stehen und fängt an, wie garstig zu gestikulieren und auf einen anderen Mann einzureden. Was zum Teufel muss er schimpfen? Es zeigt sich, er hat einen Sprachfehler, darum redet er dermaßen laut und grimassierend, unbedingt jedem versucht er zu sagen, „ich unterstütze das, was hier geschieht, ich unterstütze das“.

So könnte die Geschichte enden. Aber das tut sie nicht. Nach der Übungsstunde erzählt Luise Börner von dem Mädchen Jessica. Es stand auch hinter der Scheibe. Es hat sich die Nase plattgedrückt. Die Lehrerin trat zu ihm. Der Vater blieb mit einer Flasche abseits. Die Mutter giftete, die kann das sowieso nicht. Und wortlos ging Jessica fort mit den Eltern, in ihre Zukunft.

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk und oder in unserem Onlineshop erhalten.

Fotos: Anja Lehmann

 

 

 

 

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