- Wo fast jeder Zweite die AfD wählte
Deutschland rätselt weiter über den richtigen Umgang mit der AfD. Verleugnen lässt sich die Partei längst nicht mehr. In Sachsen wurde sie stärkste Kraft, nirgendwo mit einem besseren Ergebnis als in Dorfchemnitz. Eine Spurensuche
Im sächsischen Dorfchemnitz sind der Rentnerin Monika Hasenbacher, 75, seit Jahren zwei Dinge wichtig gewesen: ihre bunten Gartenzwerge und ihre Stimme für Angela Merkel. Während sie ihre Figuren weiter putzt, ist sie der Kanzlerin dieses Jahr untreu geworden. Hasenbacher wurde zur Nichtwählerin.
Das war noch die seichteste Form des Protests in ihrem Dorf im Osterzgebirge, in dem fast jeder zweite Bewohner die AfD wählte – 47,4 Prozent. Ein Rekordergebnis.
Im Wahlkampf kam nur Frauke Petry
Was macht dieses Nest zur neuen Hochburg der Rechtspopulisten?
„Die Ausländer konnten es nicht sein, denn wir haben hier keine“, sagt Bürgermeister Thomas Schurig (Freie Wähler), 55, der ein Baumontageunternehmen hat und jeden Winter Schlittenhunderennen für Touristen organisiert. „Fakt ist, dass unser Dorf nichts mit rechts zu tun hat. Wir sind ein Dorf der guten Mitte.“
Schurig zufolge sind die Menschen frustriert, weil das Geld für den Straßenbau fehlt, weil junge Menschen abwandern. Die Schule ist geschlossen, der Supermarkt verschwunden. Und im Wahlkampf habe sich keine der Parteien blicken lassen, sagt Schurig, bis auf die AfD. „Die war zweimal hier.”
Anfang September kam Frauke Petry nach Dorfchemnitz. Die inzwischen Abtrünnige machte damals als Parteichefin Wahlkampf für die AfD. Laut der Freien Presse nannte sie Einwanderung ein „Sozialexperiment“ und sprach von einem „Kreuzzug gegen unsere Lebensweise“.
„Petry hat den Leuten aus dem Herzen gesprochen“, sagt Schurig.
Auf welcher Seite steht der Bürgermeister?
Während andere Bürgermeister in der Gegend alles versuchten, um ihre Gemeindesäle für die AfD zu sperren, hat sich Schurig besonders für den Petry-Auftritt eingesetzt. Er habe sogar eingewilligt, für mögliche Vandalismusschäden persönlich zu haften – was sonst keine Versicherung übernommen habe. Das gefiel nicht allen: Schurig bekam Hassmails, Anonyme drohten, das Dorf und sein Haus anzuzünden. Sie nannten ihn den „Nazi-Bürgermeister“.
Der AfD-Wahlkreisabgeordnete für Mittelsachsen, Heiko Hessenkemper, der über die Landesliste in den Bundestag einzog, sagt dagegen, Schurig sei ein „echter Demokrat“. Die von ihm ermöglichte Veranstaltung sei „bemerkenswert“ gewesen, ansonsten sei Dorfchemnitz „absolut nicht außergewöhnlich. In Sachsen haben wir in den ländlichen Regionen überall großen Erfolg gehabt.“ Hessenkemper, Professor an der Technischen Universität Freiberg, warnt auf seiner Webseite vor der „Umvolkung“.
Anders als der Bürgermeister behauptet, hat die Angst vor den Fremden doch eine Rolle gespielt in Dorfchemnitz.
Clausnitz ist nur fünf Kilometer entfernt
Zum Beispiel für Ditmar Michler. Der pensionierte Bauarbeiter sitzt mit einem Freund bei Dämmerung in einer Garage, inmitten von Werkzeugboxen, zwei Motorrädern und einem Bierkasten. In wenigen Stunden feiert er seinen 64. Geburtstag. Er hat AfD gewählt, denn, so sagt Michler, „das ganze System stinkt zum Himmel“. Für die „Ausländer“ habe er kein Verständnis: „Da unten ist alles zerbombt, die Jungen hauen ab, und die Alten liegen im Dreck. Da hab‘ ich Probleme mit.”
Das nächste Flüchtlingsheim ist nur fünf Kilometer entfernt, in Clausnitz. Das Dorf machte Schlagzeilen, als im Februar 2016 ein Mob einen Bus mit Flüchtlingen blockierte und bedrohte.
Luai Khatun, 16, der mit Vater und Bruder aus dem Libanon floh, erinnert sich an diesen Tag noch mit Schrecken. Ein Polizist zerrte ihn aus dem Bus, nahm ihn in den Würgegriff. Die Meute applaudierte. Heute zeigt Luai sogar Verständnis für den Beamten: „Ich weiß, das war nicht die Schuld von der Polizei. Das war die Schuld von uns, die nicht rausgehen wollten, und von den Menschen da draußen. Und die Polizei hatte bestimmt Angst, dass jemand verletzt wird, dass etwas passiert.“
Als Luai vom Wahlerfolg der AfD hörte, war er erschüttert: „Wir haben doch hier keine Probleme gemacht.“ Der Junge spielt im örtlichen Fußballverein, geht, wie sein Bruder, regelmäßig zur Schule.
Das Nazi-Dorf?
Christine Klement, 33, findet das Wahlergebnis der AfD „bedrohlich. Man muss sich fragen, ab welchem Zeitpunkt fängt das an zu kippen, dass wieder so etwas passiert wie 1933?“
Dieser Text erschien zuerst bei USA Today.
Fotos: Petra Sorge