Dieter Reiter - Der Pragmatiker von der Isar

Seine Partei befindet sich im freien Fall. Aber der SPD-Politiker Dieter Reiter ist bei den jüngsten Kommunalwahlen als Münchener Oberbürgermeister bestätigt worden. Wie macht er das? Lesen Sie hier noch einmal das Porträt aus unserer März-Ausgabe.

Mehr Verwalter als Gestalter? Reiters Gemütlichkeit entspricht wohl dem Münchner Wesen / picture alliance
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Mike Schier (Foto MM) leitet das Politikressort des Münchner Merkur

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Im Werbefilm fällt als Erstes die Sprache auf. Dieter Reiter redet münchnerisch, wie man es aus alten „Pumuckl“-Filmen kennt. „I mecht, dass in München alle Menschen vernünftig leben können“, sagt der 61-Jährige. Das ist mutig in einer Stadt, in der echte Münchner kaum noch zu finden sind, dafür Menschen aus dem Norden und Osten, fast 30 Prozent Ausländer. Aber Reiter sendet die Botschaft: Ihr lebt jetzt hier, also gehört ihr dazu – nur dass er eben „ihr g’hert“ sagt.

Die Isar-Metropole im schwarzen Bayern blickt auf eine lange Tradition von SPD-Oberbürgermeistern zurück. Hans-Jochen Vogel, der vor zwei Generationen die Olympischen Spiele in die Stadt holte, ist auch mit 94 noch präsent. Christian Ude gibt Lesungen und rechnet in Interviews mit der SPD ab. Er war es, der einst seinen Wirtschaftsreferenten als Talent entdeckte. Aber Ude war es auch, der Reiter als Erster öffentlich abkanzelte. Ausgerechnet bei seiner Verabschiedung moserte Ude, dass der Neue mit der CSU koaliert. Bis heute gilt ihr Verhältnis als schwierig. 

Schuld sieht Reiter bei seinen Vorgängern

Ein Sonntag im Februar, Residenztheater. Seit dem Streit beim Ude-Abschied sind sechs Jahre vergangen. Reiter ist nicht mehr der Neue, sondern Amtsinhaber. Die Süddeutsche Zeitung lädt zur Diskussion. Reiter sitzt in der Mitte. Vielleicht ist es Zufall, aber während Reiter und seine grüne Herausforderin Katrin Habenschaden direkt nebeneinander sitzen, trennt Reiter von der CSU-Kandidatin Kristina Frank ein Tisch mit Wassergläsern. Die CSU, im Stadtrat Partner der SPD, hat im Wahlkampf die Rolle der Opposition eingenommen. Frank prangert Wohnungsnot und Verkehrschaos an. Der OB lässt es abprallen. Während die CSU-Herausforderin schimpft, raunt er Habenschaden Witzchen zu. Das Publikum lacht.

Verkehr und Wohnen prägen diesen Wahlkampf. München ist Opfer seines Erfolgs. Binnen fünf Jahren wuchs die Stadt um 100 000 Einwohner. Immobilien sind unerschwinglich, die Mieten explodieren. Es gibt zu wenig Angebot, weil die Stadt jahrelang ihre eigenen Bauziele verfehlte. Gleiches gilt im Nahverkehr: Seit Jahren wurde keine U-Bahn mehr erweitert. Schuld daran tragen für Reiter die Vorgänger: „Ich hätte gerne ein paar Bändchen durchgeschnitten.“

Der OB der kleinen Leute

Das Bild von Reiter inmitten der Herausforderinnen steckt voller Symbolik. Genau hier positioniert er sich. Während die Grünen den motorisierten Individualverkehr aus der Innenstadt verbannen wollen und die CSU weiter aufs Auto setzt, nimmt der OB die Zwischenposition ein. Unter ihm wurde die Fußgängerzone erweitert, neue Teile sind in Planung. Er übernahm die Anliegen eines Fahrrad-Bürgerbegehrens. Schließlich stellte er ein Verkehrskonzept vor: U-Bahnen, Tramlinien, Radwege, Bus­spuren. Das klingt nach Grün – nur tritt der OB pragmatischer auf. Ein bisschen wie Markus Söder, der neuerdings Bäume umarmt, es mit dem Umweltschutz dann aber nicht so eilig hat.

Reiter präsentiert sich als OB der kleinen Leute. Gerne trägt er Jeans zum Jackett. Der Verwaltungswirt hat fast sein ganzes Leben in der Stadtverwaltung gearbeitet. Er ist kein Linker, auch wenn er 2015 zum Vorkämpfer der Willkommenskultur mutierte. „Das Thema ist ihm eher in den Schoß gefallen“, sagt einer, der sich im Rathaus auskennt. Auch deshalb machen nun Künstler, sonst eher im Grünen-Lager, Werbung für ihn. 

Aus dem Rathaus häufen sich allerdings die Klagen, dass dem Stadtoberhaupt das Amt zu Kopf gestiegen sei. Für Journalisten ist der Ministerpräsident leichter zu erreichen als der OB. Im Wahlkampf sagte er mehrere Podiumsdiskussionen ab. „Er ist genauso lang in der Stadtverwaltung tätig, wie ich auf der Welt bin – 38 Jahre“, sagt CSU-Frau Frank. „Vielleicht ist das der Grund, warum sein Augenmerk mehr auf Verwalten statt auf Gestalten liegt.“ München brauche „innovative, mutige Ideen“. 

Kann sich Reiter vom SPD-Absturz freimachen?

Doch womöglich entspricht Reiters gemütliches „Passt scho“ eher dem Münchner Wesen als Franks „Mut und Innovation“. Die ersten Umfragen sahen Reiter klar vorn – allerdings waren die Herausforderinnen da noch kaum bekannt. Auf die SPD im Stadtrat wartet dagegen ein Desaster: In München steht die Partei bei deutlich unter 20 Prozent. Der künftige OB wird sich seine Mehrheiten wohl ohne feste Koalition, sondern mithilfe der zwei großen Fraktionen von Grünen und CSU suchen müssen. In einem Kommunalparlament, das nicht ganz so unter medialer Beobachtung steht, ist das wohl möglich.

Aber kann sich Reiter vom Absturz der SPD freimachen? „Als Amtsinhaber misst man ihm große Kompetenz zu“, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Wenn es in der Stichwahl „Reiter gegen Habenschaden“ heißt, dann, so glaubt Münch, entscheiden sich viele CSU-Wähler für den Mann der Mitte.

* Anm. der Redaktion: In der Stichwahl am 29.03.2020 wurde Reiter mit über 70 Prozent der abgegebenen Stimmen bestätigt.

 

Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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