Die Qual der Wahl - Von Blaubeeren und Egomanen

Kolumne: Morgens um halb sechs. Sogar am Tag der Bundestagswahl gibt es noch Menschen, die nicht wissen, was sie wählen wollen. Die Unentschlossenheit verfolgt die Betroffenen mitunter bis in die Träume, wie unsere Kolumnistin Sabine Bergk aus eigener Erfahrung weiß

Seit Wochen quäle ich mich mit der Frage herum, welche Partei ich am 24. September wählen werde / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Heute Nacht träumte ich von großen Blaubeeren aus Magdeburg. Ich wachte auf und dachte, dass ich sie doch wählen werde, die Magdeburger Gartenpartei. Die Traumblaubeeren waren so rund und lecker, als kämen sie im Direktflug aus der Kindheit. Mit den Geschwistern verbrachten wir ganze Tage auf Blaubeerplantagen – zwar nicht in Magdeburg, sondern bei Worpswede, im Teufelsmoor. Abends fuhren wir dann mit gefüllten Schalen und übervollen Mägen lachend nach Haus.  

Wählen gehen hat mit Blaubeeren leider wenig zu tun. Auch heißen die Kindheitsblaubeeren bei Tageslicht eigentlich Heidelbeeren. Doch, von den Träumen abgesehen, gibt es sie tatsächlich, die „Magdeburger Gartenpartei“. Der Werbespot vor den Nachmittagsnachrichten ging mir direkt ins Herz. Und so habe ich im Traum die Herzenserinnerung an Heidelbeeren mit Magdeburg verknüpft. Sollen wir nicht mit Voltaire unseren Garten kultivieren? Und mit Thomas Bernhard bei den Gärtnern, nicht bei den Jägern leben? Warum also nicht das Kleine wagen?

Qual der Wahl

Seit Wochen quäle ich mich mit der Frage herum, welche Partei ich am 24. September wählen werde. Ach, lieber doch nicht die FDP. Vielleicht doch Schulz. Und dann kommen die Zweifelgeister und erzählen mir, warum dies und das wieder nicht geht.

Dass Schulz ein guter Politiker ist und dass ihm in der eigenen Partei viel zugetraut wird, spricht für die SPD. Wenn er die SPD geschlossen hinter sich hat und auch in Europa gut aufgestellt ist, könnte es etwas werden mit durchsetzungsstarker Politik. Bei der derzeitigen Konfliktlage ist für mich Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit innerhalb einer Partei ein wichtiges Kriterium. Ein sozialer Schub würde dem Land zudem gut tun. Es gibt zu viele Fälle, die durch das Raster fallen.

Gleich darauf regen sich Zweifel. Die SPD und Bildungspolitik? Das war doch eine 40 Jahre lange pseudoreformatorische Katastrophe. In Bremen wurde die Bildungspolitik so oft revolutioniert, bis dass man in der Schule das Fach Geschichte abwählen konnte. Große Klassen waren die Folge einer Politik, die den Schwächeren eine Chance geben wollte. So konnten viele Realschüler Gymnasiasten werden, waren damit aber oft unglücklich und überfordert. Während bei uns nichts mehr ging, manche Gymnasiallehrer sogar kurz vorm Selbstmord standen, schoben die Realschullehrer eine ruhige Kugel. Sie hatten die schwierigen Fälle als begabte Kinder gebrandmarkt und nach oben wegkomplimentiert.

Zersozialisiertes Bremen

Ich komme aus Bremen und es gibt dort bis heute fast keine vernünftige Schule. Das altsprachliche Gymnasium würfelt die Schüler aus purer Not einfach aus. Dass Schule nicht nur ein Ort der Revolution, sondern vor allem ein Ort sein sollte, der Grundlagen vermittelt und Halt schenkt, mit funktionierenden Strukturen und strengen Regeln, wird eher als verpönt angesehen. Dabei sind es im Endeffekt diese Grundlagen und eine gewisse Disziplin, die einen fürs spätere Leben stärken. Stattdessen aber glaubt man lieber weiterhin an das schwammige Talent überforderter Schüler, während die talentierten Kinder in zu großen Klassen untergehen.

Meine einzige Rettung zwischen brennenden Tischen und fliegenden Butterbroten war der Schriftsteller Franz Kafka, der als Schwarzweißkopie wie ein Schiffsmast über meinem Schreibtisch hing. „Ist das dein Freund?“, fragten mich Freundinnen, da sie Kafka nicht kannten. Und insgeheim dachte ich, ja, das ist mein Freund. Ich habe mir damals geschworen, niemals SPD zu wählen. Die SPD hat in Bremen jede Schönheit zersozialisiert, immer mit dem Argument der Hilfe für die Schwächeren. Deshalb kauft man sich in der freien Hansestadt auch die Qualität von außerhalb ein, da kaum denkbar ist, dass jemand, der aus Bremen kommt, trotzdem etwas können kann, dass es also möglich ist, Bremen aus eigener Kraft, wie ein unermüdlicher Regenwurm, zu überleben. Von den eigenen Erfahrungen abgesehen, spricht jedoch nichts gegen das soziale Konzept des Martin Schulz. Und dass er so viel aus eigener Kraft geschafft hat, macht ihn sympathisch.

Selbstherrliche Spitzenkandidaten

Die Grünen wählen? Bei der letzten Wahl bekamen die Grünen schon in der ersten Verhandlungsrunde mit der Bundeskanzlerin kalte Füße. Sie zogen sich aufgrund von Identitätsproblemen zurück. Ich war damals schwer enttäuscht, hatte ja mal wieder die Grünen gewählt und gehofft, dass sie es endlich wieder in die Regierung schaffen würden. Wie aber kann man mit Identitätsproblemen kommen, wenn man kurz davor ist, ein Land zu regieren, es mitzugestalten? Steht bei den Grünen die Identitätsfindung über der Verantwortung für ein Land? Auch gefällt es mir nicht, dass die besten Politiker der Grünen, wie Winfried Kretschmann, die eine gesunde Mitte vertreten könnten, eine Randexistenz führen. Cem Özdemir kann zwar gut reden, doch gefällt er sich für meine Begriffe selbst etwas zu gut. Katrin Göring-Eckhart mochte ich von Anfang an nicht. Vielleicht ist sie mir einfach zu protestantisch. 

Die FDP wählen? Sympathisch ist mir der Kampf Christian Lindners um den Berliner Flughafen Tegel. Wie kann es sein, dass für eine Hauptstadt nur ein Flughafen, der zudem ein permanenter Unglücksfall ist, geplant sein soll? Jedes Haus hat zwei Ein- und Ausgänge, allein aus feuerpolizeilichen Gründen. Einer Haupt- und Millionenstadt nur noch einen Flug- und Fluchtweg zu verpassen, finde ich sicherheitspolitisch verantwortungslos. Berlin macht sich mit der Schließung Tegels extrem angreifbar. Doch ist Christian Lindner – so konkret und machbar sein Programm klingt – nicht genauso selbstverliebt wie Özdemir? Wie steht es um seine menschlichen Qualitäten, um den Anteil, der nicht nur „Ich“ sagt? Im Endeffekt wird Politik von Menschen gemacht. Programme hören sich immer toll an, entscheidend sind oft ganz andere, menschliche Faktoren.

CDU? Auf gar keinen Fall

Die CDU wählen? Auf keinen Fall. Zu viele Dinge sind in den letzten Jahren unter der Bundeskanzlerin schief gelaufen. Merkel, die ihre Blazer täglich wie ein Chamäleon wechselt, hat sich auch politisch zu oft hin und hergedreht. Sie hat sich, um ihre Machtposition zu wahren und allen zu gefallen, derartig in alle Richtungen angepasst, dass das Land nun wie ein verdrehter Käfer auf dem Rücken liegt. Böhmermann, Erdogan und Gaggenau – überall gab es ein sich Entziehen, ein Vermeiden, ein seltsames Hin- und Her, ein Sowohl-als-auch – kein entschiedenes Entweder-oder. Dazu kam das wiedergekäute Wort „Sorge“ oder „große Sorge“. Ich konnte es nicht mehr hören. „Die Sorge geht über den Fluss“, habe ich dann mit dem Philosophen Hans Blumenberg vor mich hin gedacht. Mit Realpolitik fällt man dauerhaft in den Fluss. Manchmal braucht es eine Linie, die von Zuversicht getragen ist und nicht immer nur das Taktieren von Vorteilen, um es allen Recht zu machen.

Also Sahra Wagenknecht wählen? Das würde ich sofort tun, wäre sie nicht bei der Linken.

Die AfD wähle ich auch auf keinen Fall.

Panik in der Wahlkabine

Wen also wählen? Wie viele Stunden werde ich in der Wahlkabine stehen und hin- und herdenken, bis dass mich der Kabinenvorhang bedrohlich anguckt? Werden die Warteschlangen lang werden aufgrund der vielen Wähler, die in den Kabinen von einem Fuß auf den anderen treten, am Vorhang kratzen, mit dem Kugelschreiber knipsen und sich nicht entscheiden können? Wird es Atemnotanfälle in den Kabinen geben? Werden wir blind Kreuze machen oder werden vor den Urnen Sonnenfinsternisbrillen verteilt?

Dem Traum zu folgen, hieße, den Weg der Blaubeeren gehen. Also wähle ich die Magdeburger Gartenpartei. Oder doch Schulz? In der Hoffnung, dass die SPD, wenn sie gut geführt wird, auch etwas Stimmiges hinbekommt?

Oder die zahnkranke Drumherum-CDU? In der Hoffnung, dass die letzten Politiker, die sich an Merkel nicht die Zähne ausgebissen haben, um die Bundeskanzlerin herum mehr hinbekommen als Merkel selbst? Also in der Hoffnung, dass die Vermeiderin von der eigenen Partei gezielt vermieden wird? Hört sich nicht wie eine gute Option an.

Verharren beim Blaubeertraum

Oder doch die Grünen? Da Cem Özdemir ja manchmal auch gute Sachen sagt, auch wenn er sich selbst dabei sehr genießt? In der Hoffnung, dass die Identitätskrise der Grünen überwunden ist und es sich trotz aller Zerrissenheit um eine entschlussfähige Partei handelt?

Oder doch die FDP, da Lindner immerhin zielstrebig genug ist, wichtige Dinge auf den Tisch zu bringen und sie auch durchzusetzen? Das traue ich ihm zu. Am liebsten aber würde ich eine Partei wählen, die es noch gar nicht gibt, in der sich alle Politiker, die von den Parteien so gerne in die Ecke gedrängt werden, zusammenfinden. Eine Partei der unliebsam Begabten, die so manches Mal verlacht oder wegkomplimentiert wurden, da sie unbequem waren. Ich bleibe also bei meinen Blaubeerträumen, die eigentlich Heidelbeerwünsche heißen müssten, und muss heute dennoch etwas ankreuzen, zu dem ich mich mit oder ohne Sonnenfinsternisbrille bekennen kann. Frank-Walter Steinmeier kann ich ja leider nicht zum Bundeskanzler wählen, er wurde bereits als Bundespräsident unschädlich gemacht.

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