Die Grünen - Last Exit Jamaika

Die Grünen ringen in den Verhandlungen mit Union und FDP um ihre Identität. Tatsächlich könnte ein Jamaika-Bündnis für sie zur Überlebensfrage werden. Aber ganz anders, als viele meinen

Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt auf dem Weg zu den Sondierungsgesprächen / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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„Ergebnisoffen“, sondieren die Grünen mit CDU, CSU und FDP. Das betonen sie alle, der Cem und die Katrin, der Jürgen und auch die Simone. Jamaika? Ergebnis offen. Die Seele der Partei dürfe keinen Schaden nehmen, heißt es, und dann fallen Schlagworte wie Klimaschutz, Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor oder Familiennachzug sowie die Mahnung, die Grünen müssten aufpassen, dass sie in einer Regierungskoalition nicht das Schicksal der FDP ereilt. Die war 2013 nach vier Jahren Zusammenarbeit mit der Union aus dem Bundestag geflogen, weil sie entscheidende Wahlversprechen in der schwarz-gelben Koalition nicht durchsetzen konnte und sich stattdessen in einem ständigen Kleinkrieg mit der CDU und vor allem der CSU aufgerieben hatte.

Jamaika könnte für die Grünen also zur Überlebensfrage werden, hin- und hergerissen zwischen radikalem Programm und den engen politischen Spielräumen einer Regierung, die von drei bürgerlichen Parteien dominiert wird. Hin- und hergerissen zwischen Gesinnung und Verantwortung. Hin- und hergerissen zwischen den Parteiflügeln. Manchem grünen Politiker fehlt deshalb die Fantasie dafür, dass es mit Jamaika tatsächlich etwas wird. Wobei man sich zwangsläufig fragt, welche grüne Seele denn in Gefahr ist, denn schon lange hat die Partei zwei davon. Und die haben nur noch wenig miteinander zu tun.

Der Zeitgeist war grün

Vielleicht jedoch ist es genau anders herum. Vielleicht stellt sich die Existenzfrage für die Grünen schneller und dramatischer, wenn die Jamaika-Gespräche scheitern und die Partei vier weitere Jahre in der Opposition verbringen muss. Oder wenn es womöglich schon in ein paar Monaten Neuwahlen gibt. Vielleicht lauern die größeren Gefahren für die Partei nicht in der Regierung, sondern in der Opposition.

Die Grünen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten die bundesdeutsche Politik entscheidend geprägt. Sie waren zwischen 1998 und 2005 zwar nur sieben Jahre in Regierungsverantwortung, trotzdem gehen viele grundlegende politische Entscheidungen auf sie zurück: Atomausstieg und Energiewende, Homo-Ehe und Gleichstellung der Geschlechter, Klimaschutz und Flüchtlingspolitik. Die Liste ist lang. Der Zeitgeist war grün, so grün, dass manche Christdemokraten glauben, ihre Bundeskanzlerin, die gerne Meinungsumfragen zur Grundlage ihrer politischen Entscheidungen macht, sei eigentlich in der falschen Partei.

Streit zwischen Realos und Linken

Dass die grünen Jahrzehnte zu Ende gehen, war im zurückliegenden Bundestagswahlkampf zu spüren. Den Grünen waren die Themen ausgegangen. Atomausstieg? Macht die Kanzlerin. Ehe für alle? Die SPD. Der Primat der Moral in der Flüchtlingspolitik war parteipolitisch so allumfassend, dass mit der AfD eine neue Partei quasi aus dem Stand 12,6 Prozent erzielte. Plötzlich dominierten neue Themen und neue gesellschaftliche Konflikte die politischen Debatten. Den Grünen blies der Wind ins Gesicht und ließ ihr politisches Personal ziemlich alt aussehen.

Sie erschienen als zerrissene und orientierungslose Partei. Dass ausgerechnet ihr erfolgreichster Landespolitiker, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Bundespartei nicht wohlgelitten war, machte das für alle Wähler offensichtlich. Schon seit vielen Jahren werden die zwei Seelen, die in der Brust der Partei wohnen, immer deutlicher. Während die linken Grünen weiter vom ökologisch-sozialen Umbau der Gesellschaft träumen, wollen die Realos die Grünen in eine bürgerliche Partei transformieren, die den Kapitalismus behutsam ökologisch modernisiert und der CDU Wähler abjagt. Mit der Ökologie als neues Wertefundament würde das „G“ im Wettstreit mit der Union zum neuen „C“. Umbau der Gesellschaft hier, Wertepartei dort – ein gemeinsames politisches Projekt verfolgen Realos und Linke schon lange nicht mehr.

Blamage bei Bundestagswahlen gerade noch abgewendet

Kein Wunder, dass die Grünen bei der Bundestagswahl von der Unzufriedenheit über die Große Koalition, die sich über vier Jahre bei vielen Wählern aufgestaut hatte, nicht profitieren konnte. Stattdessen wurden im Frühsommer die rot-grünen Koalitionen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein abgewählt. In den Wochen vor der Bundestagswahl rangen die Grünen um ihre Identität und näherten sich gefährlich nahe der Fünf-Prozent-Hürde. Es schienen diejenigen Recht zu bekommen, die die Grünen immer für ein Generationen-Projekt gehalten hatten. Erst im Wahlkampfendspurt drehte sich der grüne Abwärtstrend, weil es so schien, als werde die Groko einfach fortgesetzt. Die Grünen gewannen im Vergleich zu 2013 insgesamt 460.000 Wähler hinzu, konnten so 0,5 Prozentpunkte zulegen und erreichten 8,4 Prozent. Eine Blamage blieb ihnen gerade noch erspart.

Schaut man sich die Ergebnisse im Detail an, dann zeigt sich ein klares Bild. Die deutlichsten Zuwächse erzielten die Grünen in Schleswig-Holstein (+2,6) und Baden-Württemberg (+2,5), also in jenen beiden Bundesländern, in denen die Partei an der Spitze einer schwarz-gelben Landesregierung steht oder das Wagnis Jamaika eingegangen ist. Die traditionell linken Landesverbände Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen schnitten dagegen schlechter ab als 2013. Auch im Ampel-Land Rheinland-Pfalz gab es Verluste. Die Öffnung zum bürgerlichen Lager, das Kokettieren mit Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb-Grün hat der Partei im Bundestagswahlkampf also nicht geschadet.

Nur dieser Achtungserfolg der beiden realpolitisch orientierten Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir ermöglicht es der Partei, nun selbstbewusst in die Sondierungsgespräche zu gehen. Zugleich verschiebt dieser dünne Zuwachs die Machtverhältnisse innerhalb der Partei fundamental. Die Realos geben die Richtung vor, die Linken, die es schon nicht geschafft hatten, einen populären Spitzenkandidaten zu präsentieren, können den grünen Zug Richtung Jamaika erst einmal nicht mehr stoppen. Das hat offenbar selbst Jürgen Trittin als Wortführer der linken Grünen erkannt.

Auch andere Parteien werden sich verändern

Die Bundestagswahl 2017 markiert zudem insgesamt eine Zäsur. Erstmals gibt es sieben Parteien im Parlament und mit der AfD eine Bundestagsfraktion rechts der Union. Das bundespolitische Parteiensystem verändert sich grundlegend. Allein die Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis verstärken die Dynamik der Veränderung. Selbst im Bundestag wehte in der konstituierenden Sitzung bereits ein Hauch von Jamaika durch den Plenarsaal. Und wer glaubt, nach einem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen werde alles wieder so sein wie vorher und schnelle Neuwahlen würden die alten Verhältnisse zurückbringen, der täuscht sich gewaltig. Die Transformation des bundesdeutschen Parteiensystems hat gerade erst begonnen.

Die AfD wird bleiben, da können CDU und CSU noch so lautstark verkünden, die rechte Flanke wieder schließen zu wollen. Selbst wenn die Rebellen in der CDU Kanzlerin Merkel stürzen und eine konservative Wende ausrufen sollten, ließe sich der Trend nicht mehr umkehren. Die SPD wiederum wird aller Wahrscheinlichkeit nach sich auch nach Weihnachten nicht auf Verhandlungen über eine erneute Große Koalition einlassen, sondern in der Opposition unter Schmerzen und heftigen innerparteilichen Querelen weiter nach links rücken. Den Beweis allerdings, dass nicht Opposition Mist ist, sondern Regieren, den müssen die Sozialdemokraten erst noch antreten. Die Linkspartei hingegen wird schon bald es zerreißen. Zwischen der traditionellen und der postmodernen Linken, zwischen dem Wagenknecht- und dem Kipping-Flügel gibt es einen tiefen ideologischen Riss, der sich kaum noch kitten lässt.

Die Chance liegt in der Mitte

Für die Grünen wiederum bedeutet dies, dass sich jenseits von Jamaika keine schönen Perspektiven bieten. Sie werden es mit einer SPD in Selbstfindung und einer Linkspartei in Agonie zu tun haben. Die politische Linke wird sich weiter selbstverzwergen. Rot-Rot und Rot-Rot-Grün fallen als Machtoptionen für die SPD und auch für die Grünen mittelfristig aus. Zumal das linke Wählerreservoir seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich schrumpft und die linke Mehrheit in der Gesellschaft seit zehn Jahren perdu ist. Also wird ein Scheitern von Jamaika die Grünen nicht stärken, sondern schwächen, indem sich die beiden Parteiflügel weiter voneinander entfremden. Denn weder können die linken Grünen jenseits eines Bündnisses mit Union und FDP eine Machtperspektive bieten, noch neue Wähler. Das grüne Siechtum und der allmähliche Niedergang würden sich fortsetzen.

Neue Wähler und neue Perspektiven gibt es für die Grünen nur in der Mitte, vor allem dann, wenn die SPD sich nur mit sich selbst beschäftigt und die Unionsparteien wieder nach rechts rücken. Kein Wunder, dass Cem Özdemir bereits von der „veränderungsoffenen Mitte“ spricht. Also von jenen Wählern, die in den vergangenen Jahren Merkel gewählt haben, aber mit einer Seehofer-CSU oder einer Spahn-CDU nichts am Hut haben. Mit diesen Wählern hat Winfried Kretschmann die Grünen zur stärksten Partei in Baden-Württemberg gemacht, mit einer solchen Haltung hat Robert Habeck seinen Landesverband Schleswig-Holstein gegen den Bundestrend gestärkt. Doch um diese ökologisch orientierten bürgerlichen und auch besser verdienenden Wähler langfristig an sich zu binden, müssen die Grünen unter Beweis stellen, dass sie ins bürgerliche Lager passen. Deshalb dürfen die Sondierungsgespräche aus ihrer Sicht nicht scheitern. Nicht Jamaika bedroht die Existenz der Grünen, sondern dessen schnelles Scheitern.

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