Höhenflug der Grünen - Die neuen Konservativen

Mit ihren großen Erfolgen bei den Landtagswahlen wirken die Grünen nun omnipräsent. Dabei waren sie schon für tot erklärt worden. Wie Phönix aus der Asche – die Grünen haben sich neu erfunden und profitieren von der politischen Agonie im Lande

Erschienen in Ausgabe
„Der grüne Aufschwung signalisiert einen tief greifenden Wandel in der Parteienlandschaft“ / Karsten Petrat
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Autoreninfo

Jens Hacke ist Politikwissenschaftler. Er lehrt Politische Theorie an der Universität Halle/Wittenberg. Im April erscheinend im Suhrkamp Verlag sein Buch „Existenzkrise der Demokratie"

 

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So viel Krise war noch nie in der bundesdeutschen Parteiendemokratie. Die CSU? Seit der bayerischen Landtagswahl ohne absolute Mehrheit. Die CDU? Keine Volkspartei mehr. Die SPD? In einer Existenzkrise. Die Parteienmüdigkeit der Wähler scheint groß, die Zweifel an der liberalen Demokratie wachsen. Nur eine etablierte politische Kraft trotzt dieser Negativstimmung: die Grünen. Wie Phönix haben sie sich aus der Asche erhoben. In Bayern wurden sie mit 17,5 Prozent zweitstärkste Partei, in Hessen werden sie Ende Oktober ebenfalls deutlich zulegen.

Die Entwicklung mag erstaunen, denn es ist noch nicht lange her, da wurden bereits Nachrufe auf die „Partei ohne Machtperspektive“ angestimmt. Nach dem enttäuschenden Abschneiden bei der Bundestagswahl 2017 und dem Blues der gescheiterten Jamaika-Koalition deutete nichts auf einen Energieschub hin. Doch abgesehen von der AfD scheinen die Grünen augenblicklich die einzige Partei zu sein, die Neuwahlen im Bund nicht fürchten müsste. Im Gegenteil. Im 14. Oppositionsjahr eröffnet sich der Partei plötzlich die gesellschaftliche Mitte und sie nimmt im Parteienwettbewerb eine völlig neue Rolle ein.

Aufschwung auf Dauer

Während die Große Koalition seit einem halben Jahr vergeblich versucht, endlich mit der Sacharbeit zu beginnen, sieht es so aus, als ob die Grünen selbstbewusst die Führung in der Opposition übernommen haben und eine gelähmte Regierung wirkungsvoll in ihrer Armseligkeit entblößen. Im Unterschied zu den anderen Parteien sind die Grünen zudem nicht vorrangig mit sich selbst beschäftigt – obwohl darin früher eine ihrer Kardinaltugenden lag. Allzu oft rieben sie sich in Flügelkämpfen zwischen Fundis und Realos auf. Diese Zeit des Haderns ist vorbei. Stattdessen konzentrieren sie sich – offensichtlich erfolgreich – auf ihre politischen Anliegen und finden Resonanz.

Es spricht einiges dafür, dass der grüne Aufschwung auf Dauer angelegt ist und einen tief greifenden Wandel in der Parteienlandschaft signalisiert. In den vergangenen Jahren haben die Grünen sich nicht nur programmatisch gefestigt und strategisch erneuert. Sie haben darüber hinaus an Regierungs- und Verhandlungserfahrung gewonnen, während sie gleichzeitig einen sanften Generationswechsel vollzogen haben, im Zuge dessen sich neue Köpfe profilieren konnten.

Wenn es einen Beleg dafür braucht, dass politische Ideen und Begriffe sich wandeln, dann reicht der Blick in ein druckfrisches Buch. Im renommierten Fischer-Verlag wirbt ein schmales Bändchen „für eine neue Idee des Konservativen“. Darin ist viel von Heimat, Familie, Religion, aber auch von Abendland und Schöpfung die Rede, also klassisch konservative Topoi.

Die Grünen waren nie eine rein linke Partei

Es ist ein kluger Text – abwägend, gebildet, wohltemperiert. „Worauf wir uns verlassen wollen“ lautet der Titel, und der Autor präsentiert sich mit gewissem Recht als führender Vertreter eines im Ganzen doch überzeugend begründeten Konservatismus. Die Rede ist vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Er repräsentiert quasi das Partei-Urgestein. Als Mitgründer des grünen Landesverbands vor knapp vier Jahrzehnten hatte er vorher den Kommunistischen Bund Westdeutschland durchlaufen und die ganze Wegstrecke ideologischer Abkühlung hinter sich gebracht. Im Rückblick wird klar, dass die Grünen eben nie eine rein linke Partei waren. Schon in ihrer Gründungsphase mischten Öko-Aktivisten mit, die mit Marx, Revolution und Sozialismus wenig im Sinn hatten. Sie lehnten sich gegen ein technokratiegläubiges Establishment auf, das parteiübergreifend auf Industrialisierung, Atomkraft und Gesellschaftsplanung setzte.

Für Kretschmann wurde die von Erhard Eppler getroffene Unterscheidung zwischen Struktur- und Wertkonservatismus wichtig. Er ist der letzte verbliebene einflussreiche Vertreter der 68er-Generation in seiner Partei. Aber anders als Jürgen Trittin und Joschka Fischer fehlt ihm jede Revoluzzer-Attitüde. Mit Heimatverbundenheit, Landesväterlichkeit und ausgeglichenem Temperament nimmt man ihm den konservativen Habitus ebenso ab wie die Treue zu seinen ökologisch-humanistischen Überzeugungen. Vom geistigen Pulverdampf der sechziger und siebziger Jahre finden sich in seinen politischen Überlegungen keine Spuren mehr. Über die athenische Akropolis, das römische Kapitol und Golgatha kartografiert er stattdessen die alteuropäischen Traditionslinien, auf die sich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Christentum zurückführen lassen. Sein Bekenntnis zur politischen Philosophie von Hannah Arendt und Dolf Sternberger akzentuiert das zivilgesellschaftliche Miteinander, den Pluralismus und den Geist diskursiver bürgerlicher Vereinbarung.

Bewahrung eines linksliberalen Grundgefühls

Kretschmann nutzt die Chance, den Konservatismusbegriff offensiv zu besetzen. Er will ihn weder den selbst ernannten Hütern der bürgerlichen Mitte noch den Rechten überlassen. Damit zollt er der Einsicht Rechnung, dass es ein geschlossenes konservatives Weltbild gar nicht geben kann. Denn Konservativsein ergibt nur Sinn, wenn man erklären kann, was eigentlich bewahrt werden soll. Der Schutz der Natur, der ökologisch-sensible Umgang mit Ressourcen und die umweltschonende Gestaltung städtischer und ländlicher Lebensumgebungen gehören zu den Standards grüner Programmatik, die immer breiteren Anklang finden.

Glaubhaft kann die Partei inzwischen klarmachen, dass sie eine Reformpolitik verfolgt, die ökonomische Parameter mit berücksichtigt und nicht nur Askese predigt. Konservativ ist daran die Bewahrung eines linksliberalen Grundgefühls der alten Bundesrepublik, das in multikultureller Offenheit und postnationaler Identität gründet. Und dies ist zugleich der Grund, warum sich die AfD gerade die Grünen als „linksgrün versiffte 68er“ zum Feindbild erkoren hat, in dem sich alle stereotypen Projektionen finden. Die spezifisch altbundesrepublikanische Prägung der Grünen erklärt aber auch ihre marginale politische Rolle in den neuen Bundesländern. Hier ist das West-Ost-Gefälle unübersehbar.

Die Grünen haben sich vom Fundamentalismus verabschiedet

Im Südwesten freilich offenbart das Phänomen Kretschmann ein Muster, das auch den Erfolg im Nachbarfreistaat Bayern erklären hilft. Gerade den Grünen gelingt es, in die Bastionen der Union einzudringen und sich als heimatverbundene und bürgerliche Alternative anzubieten. Die bunten und überwiegend bürgerlichen 68er-Wurzeln legen sie weder auf eine bestimmte soziale Basis fest noch müssen sie Klientelinteressen und Gruppenerwartungen bedienen. Auch wenn die Mehrheit der Grünen und ihrer Wähler sich selbst links verortet und soziale Gerechtigkeit einklagt, fehlt der Partei das strukturkonservative Element der Gewerkschaftsnähe und damit der Retro-Touch der alten Industriegesellschaft. Grüne predigen – ob ökolibertär, fundamentalökologisch, ökokeynesianisch, multikulturell oder heimatverbunden – die Verantwortung für eine künftige Gesellschaft. Das mag manchmal ermüdend und lange naiv gewirkt haben, aber nach gesellschaftlichen Liberalisierungsschüben, inmitten einer ökologischen Bewusstseinsveränderung und mit der Notwendigkeit, ökonomisches Wachstum neu und umweltverträglich zu denken, sind grüne Handlungsoptionen zwingender geworden. Die hilflosen Statements der übrigen Parteien zur Warnung des Weltklimarats unterstreichen dies ebenso wie die gegenwärtige Einfallslosigkeit der Regierung in Sachen Verkehrs- und Energiepolitik.

Gleichzeitig haben die Grünen sich vom Fundamentalismus verabschiedet. Sie haben ihre politische Sprache und ihren Politikstil geschmeidiger gemacht. Dahinter liegt eine Strategie. Anders als die Altvorderen hat man Abschied von Lagerwahlkämpfen genommen und sich Schritt für Schritt aus dem rot-grünen Generationenprojekt befreit. Denn Mehrheiten mit einer im Sinkflug befindlichen Sozialdemokratie sind auf lange Sicht unrealistisch geworden.

Aufwind auch durch Niedergang der Volksparteien

Robert Habeck hat das frühzeitig erkannt, als er seine Parteifreundinnen und  freunde mit bis dato geschmähten Begrifflichkeiten konfrontierte: Er plädierte für einen linken Patriotismus und machte keinen Hehl aus seinem Faible fürs Liberale. Seine Richtung war klar – und trug ihm den Vorwurf der Catch-all-Beliebigkeit ein: Er rief seine Partei dazu auf, vor politischer Verantwortung nicht zurückzuschrecken und sich nicht davor zu scheuen, die Frage nach einer Wir-Gemeinschaft positiv aufzunehmen. Statt Abgrenzung und scharfer Attacke ging es ihm um die Auslotung von Möglichkeiten, um den Diskurs und die Verständigung mit der bürgerlichen Konkurrenz.

Konservativ ist an den Grünen die Bewahrung eines linksliberalen Grundgefühls der alten Bundesrepublik, das in multikultureller Offenheit und postnationaler Identität gründet. Und dies ist zugleich der Grund, warum sich die AfD gerade die Grünen als „linksgrün versiffte 68er“ zum Feindbild erkoren hat, in dem sich alle stereotypen Projektionen finden / Karsten Petrat

Was im schwarz-grünen Hamburger Senat und in Hessen mit Tarek Al-Wazir schon erfolgreich eingeleitet wurde, erfuhr in Schleswig-Holstein noch einmal eine Steigerung. Habecks Meisterstück war es, hier sogar 2017 eine Jamaika-Koalition mit dem wirtschaftsliberalen Erzfeind, Wolfgang Kubicki (FDP), zu schmieden.

Sicherlich, die Grünen profitieren von der ausgelaugten Großen Koalition und der programmatischen Erschöpfung der im Niedergang befindlichen Volksparteien. Auch die staatspolitische Profilierung gegenüber einer FDP, die die Regierungsverantwortung willentlich ausgeschlagen hat, hat fraglos zum Aufschwung beigetragen. Aber die Grünen haben zuvor die langen Jahre der Opposition auf Bundesebene kontinuierlich genutzt, um kommunale und landespolitische Praxis zu sammeln und neue Wege auszuloten. In Baden-Württemberg, Bremen, Schleswig-Holstein, Hessen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz, also in neun von 16 Bundesländern, wirken sie an der Regierung mit – und ganz überwiegend erfolgreich.

Die Schwäche der Vielstimmigkeit in Stärke umgewandelt

Das ist ein erheblicher Zuwachs an politischer Erfahrung und Professionalität. In Kommunen und Ländern beweisen die Grünen, dass sie durchaus pragmatisch agieren können, ohne ihre grundsätzlichen Ziele aus den Augen zu verlieren. Das neue Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck hat dabei einen neuen Kommunikationsstil gefunden und den rhetorisch-moralischen Overdrive der Vergangenheit weitgehend gebannt. „Grüne Politik muss einschließen, nicht abwehren. Nicht angreifen, sondern eingreifen. Nicht zu der Gesellschaft, sondern für die Gesellschaft sprechen“, formuliert Habeck. Anstatt einfach nur recht haben zu wollen, bemühen sie sich um Erklärung. Reflexion, Flexibilität und Beharrungsvermögen sind die neu gewonnenen Tugenden, die mitunter den Eindruck aufkommen lassen, als seien die Grünen die letzte Stimme der politischen Vernunft. Zum gewachsenen Selbstbewusstsein gehört das Wissen darum, mit einem grünen Programm keine Minderheitenposition mehr zu vertreten.

Die neue Kraft der Grünen erklärt sich auch daraus, dass sie die vermeintliche Schwäche ihrer Vielstimmigkeit in Stärke umgewandelt hat. Während die Unionsparteien von jeher zu lange an ihren Vorsitzenden festhalten und von der Performanz ihrer Führungspersönlichkeit abhängen, hat die Fluktuation des Personals an der geteilten grünen Parteispitze für geistige Beweglichkeit gesorgt. Sie bleibt unabhängiger von ihren Partei- und Fraktionsvorsitzenden, und der Kampf um Führung wird von jeher von mehreren Bewerbern bestritten.

Ist nun alles grün, was glänzt?

Die personellen Reserven der Grünen sind ebenso beachtlich wie der cum grano salis faire Stil der konkurrierenden Parteifunktionäre. Im Vergleich dazu scheint es anachronistisch, wenn bei SPD und Union schon die Existenz eines Gegenkandidaten ein internes Beben verursacht. Die Suche nach der heilsbringenden Führungsgestalt kann wie im Fall Martin Schulz absurde Züge annehmen oder aber jede Konzentration auf die Tagespolitik vereiteln.

Die gefühlte Ewigkeit einer Großen Koalition ohne Idee lässt die Grünen im bürgerlichen Lager zur letzten verbliebenen Alternative werden. Schwarz-Grün geistert zwar schon seit Jahren als Verheißung einer Neuformierung des liberalen Bürgertums in den Köpfen der Intellektuellen, aber die Berliner Politik hat damit an einer entscheidenden Wegmarke gefremdelt: Nach der Bundestagswahl 2013 wäre der Moment gewesen. Mittlerweile sieht es so aus, als sei der Moment dazu auf Bundesebene verpasst worden. Das strategische Dilemma bleibt gegenwärtig das Verhältnis zur FDP. Es ist eine offene Frage, ob sich hier ein neuer „BürgerInnenblock“ bilden kann, der alte Animositäten überwindet.

Ist nun alles grün, was glänzt? Gewiss nicht. Es wird sich zeigen, ob die Grünen sich als starke Oppositionspartei über die ganze Legislaturperiode stabilisieren können und nicht nur temporärer Umfrageweltmeister bleiben wie 2011 nach ihrem „Fukushima-Hoch“. Die Situation ist heute günstiger. Der alte Anti-68er-Beißreflex der politischen Gegner wirkt lächerlich gegenüber einer jungen Führungsriege, die weder biografisch noch intellektuell etwas mit Maoismus, Straßenkampf oder pädophilen Kinderladenexperimenten zu tun hat.

Fragen der sozialen Gerechtigkeit sind blass geblieben

Darüber hinaus haben die Grünen einiges dafür getan, den Ruf der monothematischen Atomausstiegs- und Pazifistenpartei abzulegen. An Loyalität zur liberalen Demokratie lassen sie sich mittlerweile ungern übertreffen. Die Utopisten von einst haben sich tatkräftig der unmittelbaren Lebenswelt zugewandt und werben für eine verantwortliche ökologische Wende, die in Städten und Kommunen einen Gewinn an Lebensqualität bedeutet und ökonomisch Innovation freisetzen kann.

Nur ihre Überlegungen zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit sind bislang blass geblieben. Wenn der Konjunkturmotor ins Stocken gerät, werden die Grünen dann hart daran arbeiten müssen, dem Dauervorwurf zu begegnen, eine Lifestyle-Partei der Besserverdienenden zu sein. Aber nie war die Chance für sie so groß wie jetzt. Sie könnten die Profiteure der herrschenden politischen und geistigen Agonie werden. Sie machen vor, dass man nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange AfD starren sollte, sondern die sich auftürmenden Sachprobleme entschlossen und argumentativ angehen kann. Das war schon immer die beste Krisenprävention – und konservativ, weil es die Leistungsfähigkeit der Demokratie bewahrt und schützt.

Dies ist ein Text aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.












 

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