Deutschland vor der Wahl - Fantasialand

Kolumne: Grauzone. Eine vierte Amtszeit von Angela Merkel senkt sich unvermeidbar auf das Land. Vor den ernsten Problemen duckt sich die Politik weg und fabuliert lieber von multikulturellen Gesellschaftsfantasien. Doch die Zeichen in der Welt stehen auf Sturm

Dass Deutschland ein Land bleibt, „in dem wir gut und gerne leben“, ist längst nicht sicher / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es hat etwas Unwirkliches. Morgen wird das vierte Kabinett Merkel gewählt werden. So oder so. Es ist wie in einem Traum. Surreal und wirklichkeitsenthoben. Wie Zuckerwatte senkt sich das Unvermeidbare auf das Land, flauschig und süß, verführerisch und klebrig.

Wie genau die neue Regierung aussehen wird, ob Schwarz-Rot oder doch in den Farben von Jamaika, ist dabei vollkommen gleichgültig. Weil die neue Regierungschefin die alte sein wird, weil die Differenzen zwischen den Parteien sich fast nur noch im Symbolischen erschöpfen und weil die deutsche Politik sich ängstlich vor den ernsten Problemen wegduckt und lieber in Wohlfühlthemen à la frühkindlicher Bildung, Digitalisierung und Glasfaserausbau planscht. „Zukunftsthemen“ nennt man das dann. Dabei haben diese Politplacebos mit der Zukunft ungefähr so viel zu tun, wie die wirklichkeitsfremde „Parallelaktion“ in Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“.

Im Selbstbetäubungsmodus

Deutschland im Jahr 2017 ist ein Land im Selbstbetäubungsmodus. Man berauscht sich an einem künstlich induzierten Wirtschaftswachstum, an Wohlstand und Prosperität, die auf Sand gebaut sind. Wie in einem letzten Aufbäumen zieht der Sozialstaat noch einmal alle Register für letzte große Abschiedsgeschenke; Erinnerungspräsente an eine sorglose Vergangenheit.

Zugleich fabuliert man sich in multikulturelle Gesellschaftsfantasien, in den Traum einer global offenen Gesellschaft, in der flexible und tolerante Menschen sich auf der Spielwiese des weltumspannenden Erlebnisparks permanent neue Identitäten schaffen. Mehr Fantasialand war selten.

Denn die Zeichen in der Welt stehen auf Sturm. Man braucht nicht einmal ins Detail zu gehen, sondern nur Stichworte aufzurufen: Griechenland, Italien, Geldpolitik der EZB, Türkei, Nordafrika, Syrien, Iran, Jemen, islamischer Terrorismus. Und um Nordkorea hat sich ein schon lange schwelender Konflikt dramatisch verschärft, bei dem offensichtlich ist, dass der amerikanischen Führung außer dem Spiel mit dem Feuer wenig einfällt – eine hoch gefährliche Situation.

Kulturkampf ins Land getragen

Doch das sind nur die aktuellen Szenarien. Weitet man das historische Objektiv, so zeigt sich, dass sich seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein bedrohlicher Kampf der Kulturen aufgebaut hat, den die europäischen Staaten leichtfertig in die eigenen Grenzen hineingetragen haben.

Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass viele Menschen in Europa (und insbesondere hierzulande) sich nicht einmal mehr vorstellen können, dass Menschen bereit sind, für ihre Religion in den Tod zu gehen und Dialogfähigkeit für ein Zeichen von Schwäche halten. In einem Anfall von Narzissmus haben wir vergessen, dass nicht für alle Völker das westliche Gesellschaftsmodell reizvoll ist. Und es ist uns das Gefühl dafür abhanden gekommen, dass es Kulturen gibt, die an ihren Sitten und Gebräuchen festhalten wollen und die bereit sind, dafür zu sterben und zu töten.

Doch nicht nur der Blick für kulturelle Differenzen und fremde Ideale ist den libertären und kosmopolitischen Deutschen verloren gegangen. Selbst einfache Fakten nehmen wir nicht mehr zur Kenntnis. Zum Beispiel Afrika: Hier wird sich die Zahl der Bevölkerung nach UN-Prognosen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 2,4 Milliarden Menschen verdoppeln und bis 2100 auf 4,2 Milliarden steigen. Derzeit sind 47 Prozent aller Afrikaner unter 18 Jahre alt. Das sind etwa 547 Millionen Menschen. 2050 werden es etwa 1 Milliarde sein – Menschen ohne jede Perspektive, die sehnsüchtig nach Norden blicken werden. Denn kein Wirtschaftswachstum dieser Welt wird mit dieser Bevölkerungsexplosion auch nur im Entferntesten mithalten können. Die Folgen sind absehbar.

Trügerische Hoffnung

Derweil wirkt Deutschland wie ein Land, das im Grunde weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Doch wie ein Verurteilter klammert es sich an jeden Aufschub, an jede Fristverlängerung, Jahr für Jahr und Legislatur für Legislatur. Vielleicht geht es ja noch einmal gut. Vielleicht dürfen wir noch ein paar Jahre weitermachen wie bisher. Wäre die deutsche Gesellschaft bereit, sich den absehbaren Katastrophen zu stellen, es gäbe kein viertes Kabinett Merkel.

Doch Merkel wird wieder gewählt werden, aller absehbaren parteipolitischen Erschütterungen zum Trotz. Denn Merkel ist wie ein Fetisch, von dem die deutsche Gesellschaft glaubt, dass er noch einmal das Unabwendbare abwenden, noch einmal – und sei es ein letztes Mal – für ein paar Jahre Wohlstand und Frieden garantiert. Eine Hoffnung, die sich leicht als trügerisch erweisen kann.

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