Deutschland 2017 - Es ist Zeit umzusteuern

Kolumne Grauzone: Wir halten uns für fortschrittlich, dabei stecken wir in der Vergangenheit fest. Wenn Sozialstaat, Asylrecht und Außenpolitik nicht bald den Realitäten der Gegenwart angepasst werden, verspielt Deutschland seine Zukunft

Das Festhalten an überkommenen Denkmustern hat in ein wirtschafts-, finanz- und sicherheitspolitisches Desaster geführt / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

In Deutschland hält man sich gerne für modern und wähnt sich an der Spitze des Fortschritts. Und das nicht nur technologisch. Vor allem moralisch und politisch fühlen sich die administrativen, kulturellen und medialen Eliten dieses Landes als Avantgarde der historischen Entwicklung. Schließlich ist man international, europäisch und multilateral, immer gesprächsbereit, sozial und weltoffen.

Doch diese gefühlte Modernität ist Selbstbetrug. Sie beruht auf der naiven Annahme, dass die hierzulande verinnerlichten politischen Werte und Ideale tatsächlich zukunftsweisend sind und die Weltgeschichte mit unaufhaltsamer Logik auf deren letztliche Durchsetzung und Instanziierung hinausläuft.

Rückwärtsgewandt statt progressiv

Diese verzerrte Weltwahrnehmung entbehrt allerdings jeder sachlichen Grundlage. Denn die vorgebliche ideologische Modernität, in der sich weite Teile der deutschen Meinungsmacher und Meinungsverwalter sonnen, ist das Produkt der unmittelbaren Nachkriegszeit, also einer historisch einmaligen Ausnahmesituation.

Wie rückwärtsgewandt die sich progressiv wähnende deutsche Ideologie tatsächlich ist, zeigt sich an drei entscheidenden Dimensionen staatlichen Handelns: der Sozial-, der Innen- und der Außenpolitik.

Veränderte Voraussetzungen

Der bundesrepublikanische Sozialstaat, so wie er zunächst im Grundgesetz verankert und in den folgenden Jahrzehnten ausgestaltet wurde, basiert auf der Annahme eines starken Wirtschaftswachstums, niedriger Arbeitslosigkeit, hoher Kinderzahl, stabiler Familienstrukturen und einer kulturell weitgehend homogenen Solidargemeinschaft.

Auf ein marginales Wirtschafts- und sinkendes Produktivitätswachstum, erhebliche Dauerarbeitslosigkeit, niedrige Fertilitätsrate, hohe Scheidungsquoten und Singlehaushalte als sozialem Standard sind die deutschen Sozialsysteme genauso wenig zugeschnitten wie auf globale Armutszuwanderung.

Die Überwindung der Vergangenheit

Auch das deutsche Asylrecht basiert auf den Anforderungen und Erfahrungen der vierziger und fünfziger Jahre: also dem rassistisch motivierten Massenmord im Dritten Reich, der Verfolgung Andersdenkender und der europäischen Teilung während des Kalten Krieges, der Millionen Ost- und Mitteleuropäer hinter den eisernen Vorhang und unter die Herrschaft stalinistischer Regime zwang. Auf Massenmigrationen aus Afrika und dem Nahen Osten ist das deutsche Asylrecht nicht ausgelegt.

Nachhaltig prägend für das Denken der deutschen Politeliten erwies sich jedoch vor allem die außenpolitische Situation der Bundesrepublik. Unter dem Sicherheitsschirm der USA und der Nato und integriert in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), später die Europäische Gemeinschaft (EG), erarbeitete sich Westdeutschland einen nie gekannten, kommoden Wohlstand.

Angesichts dieser überaus bequemen Lage und moralisch legitimiert durch die nationalistischen Exzesse der Vergangenheit, identifizierte man die Interessen der Bundesrepublik vollständig mit denen internationaler Organisationen – Multilateralismus und Transnationalismus wurden zu den ideologischen Grundkoordinaten bundesrepublikanischen Denkens.

Deutschlands neue Rolle in der Welt

Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes und die deutsche Wiedervereinigung machten aus dem außenpolitischen Asketen über Nacht eine veritable Mittelmacht im Herzen Europas – und damit in der Welt. Überfordert von dieser neuen Situation, setzten die politischen Meinungsführer Deutschlands auf mehr europäische Integration.

Kompetenzen wurden an Brüssel abgetreten. Gegen jede wirtschaftliche Vernunft wurde der Euro eingeführt, der die wirtschafts- und strukturschwachen Länder Südeuropas in eine Währungsunion mit den leistungsfähigen Volkswirtschaften Nordeuropas presste. Der Schengenraum samt Freizügigkeit wurde auf Südosteuropa ausgedehnt, obwohl die dortigen Länder sozial, wirtschaftlich und kulturell der Entwicklung Westeuropas um Jahrzehnte hinterherhinken.

Den Herausforderungen nicht gewachsen

Kurz: Das Festhalten der administrativen und intellektuellen Eliten Deutschlands an überkommenen Denkmustern hat in ein wirtschafts-, finanz- und sicherheitspolitisches Desaster geführt. Dass dieses anachronistische Denken auch noch als „modern“ verkauft wird, mutet wie Hohn an.

Die ideologischen Konzepte und politischen Koordinaten der alten Bundesrepublik sind nicht geeignet, den Herausforderungen unserer multipolaren, von rücksichtsloser Gewalt und millionenfacher Armutsmigration geprägten Gegenwart zu begegnen. Insbesondere die zur Staatsreligion erhobenen moralischen Doktrinen versagen vor den Realitäten von wirtschaftlicher und kultureller Diversität, globalem Wohlstandsgefälle und weltweiten Wanderungsbewegungen. Ängstlich vernarrt in eine überholte Staatsräson, droht Deutschland, seine Zukunft zu verspielen. Es ist Zeit, umzusteuern.

Allen Lesern ein gutes, glückliches und friedliches neues Jahr!

Anzeige