Deutsche Wirtschaft - In der Wohlstandsfalle

In Deutschland wird wieder über Umverteilung diskutiert, über die Frage, wie viel Gleichheit müssen und wie viel Ungleichheit können wir uns leisten

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Es ist unbestritten, dass ohne Unterschiede zwischen Arm und Reich die Wirtschaft nicht floriert / Illustration: Karsten Petrat
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Wilfried Herz ist ehemaliger Leiter des Wirtschaftsressorts der Wochenzeitung Die Zeit.

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Wäre die Wirtschaft ein sportlicher Wettbewerb, würden die Deutschen kaum einen Platz auf dem Siegerpodest erringen. Zwar wächst die deutsche Volkswirtschaft beharrlich, aber im internationalen wie im historischen Vergleich nur mäßig. Zwar geht die Arbeitslosigkeit Jahr für Jahr zurück, aber um den Preis bescheidenster Lohnverbesserungen für die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung – trotz sprudelnder Gewinne der Unternehmen. Dazu kommt ein besonders dunkler Fleck in der Bilanz: die tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Sie wird zunehmend zum Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und künftigen Wohlstand.

Das Wort von der „sozialen Gerechtigkeit“ war über Jahre im Museumsdepot überholter Rhetorik verstaubt, bis es der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz für seinen Wahlkampf wiederbelebte und damit viel Zustimmung gewann. Anzeichen dafür, wie sehr die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen die Menschen bewegt, waren schon länger erkennbar. 2014 etwa gab es einen regelrechten Hype um das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das auch hierzulande in kürzester Zeit zum Bestseller avancierte. Zusätzlich befeuert wurde der Stimmungsumschwung durch die Exzesse bei der Entlohnung von Spitzenmanagern, die trotz gravierender Fehler und trotz aufgedeckter Betrügereien Jahreseinkommen in bis zu zweistelliger Millionenhöhe einstrichen. 

Unbestritten ist, dass ohne Unterschiede zwischen Arm und Reich die Wirtschaft nicht floriert. „Ungleichheit ist die Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität“, heißt ein Leitsatz vieler Ökonomen. Wer mehr Leistung bringt, soll besser bezahlt werden. Denn dann, so die Theorie, strebt der Mensch danach, mehr zu erreichen, und das wiederum kommt letztlich allen zugute. 

Zu viel des Guten

Unklar bleibt aber, wo genau die Grenze für das Ausmaß der Ungleichheit zu ziehen wäre. Und dabei geht es nicht nur darum, wie gerecht eine Gesellschaft sein will. Es geht vor allem auch um das Wohl der Wirtschaft. Denn ebenfalls unbestritten ist: Wenn der Abstand zwischen oben und unten zu groß wird, überwiegt der Schaden für die Volkswirtschaft den Nutzen. 

Tatsächlich scheint die Grenze an wichtigen Punkten schon überschritten, auch wenn manche Folgen erst in ferner Zukunft spürbar werden. Ganz konkret jedoch hat die OECD, die Organisation der Industrieländer und gewiss kein Klub von Sozialromantikern, den Deutschen vorgerechnet, dass ihre Wirtschaftsleistung in den zwei Jahrzehnten nach der deutschen Einheit um 6 Prozentpunkte – das wären 80 Milliarden Euro – höher ausgefallen wäre, wenn die Einkommen gleichmäßiger verteilt worden wären. Wenn die Schieflage zu groß ist, sinkt die Bereitschaft zu Investitionen. Damit schrumpfen langfristige Wachstums­chancen. Der ungleich verteilte Wohlstand wird zur Falle.

Herkunft statt Leistung

Zudem kann von Chancengerechtigkeit keine Rede sein, wenn die Herkunft entscheidet. „Den größten Fehler seines Lebens“ könne man „bei der Auswahl seiner Eltern machen“, so die bittere Ironie des Arbeitsmarktforschers Gerhard Bosch. Die Sprösslinge aus gut verdienenden Akademikerfamilien haben die weitaus besseren Aussichten auf einen einträglichen Beruf: Sie studieren viel häufiger als die Kinder von Eltern mit geringerem Bildungsabschluss und niedrigem Verdienst. Eine Gesellschaft sollte jedoch alle Talente nutzen, egal ob sie aus armen oder reichen Familien stammen. Ist das wirklich eine Leistungsgesellschaft – ein fundamentales Prinzip der Bundesrepublik –, wenn Bildung und Einkommen von dem Zufall abhängen, in die richtige Familie geboren zu sein? 

Soziale Sprengkraft birgt nicht nur die Tatsache, dass die Beschäftigten am unteren Ende der Einkommensskala am stärksten Opfer der Umverteilung sind und sich abgehängt fühlen. Auch die Mittelschicht ist ins Hintertreffen geraten, die Aufstiegschancen ihrer Mitglieder – in der Soziologensprache „soziale Mobilität“ – sind eingeschränkt. Spätestens im nächsten Konjunkturtief, wenn die Arbeitslosenzahlen wieder ansteigen, werden viele fürchten, dass sich ihr materieller und gesellschaftlicher Status verschlechtert. 

Ursache: Politikversagen

Adalbert Winkler, Professor an der Frankfurt School of Finance, forscht nach den wirtschaftlichen Ursachen des Populismus. Es sei ein „Politikversagen“, urteilt er, dass es „innerhalb der internationalen Angebotspolitik“ nicht gelungen sei, „die Tendenz zu immer mehr Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung einzudämmen“. Der Wechsel von der keynesianischen zur Angebotspolitik war in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von US-Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher initiiert und dann auch in Deutschland vollzogen worden. 

Die damit durchgesetzten Strukturreformen – Steuersenkungen für Besserverdienende, Rückzug des Staates aus vielen Bereichen der Wirtschaft –, die internationale Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs und nicht zuletzt die Öffnung der Arbeitsmärkte hätten den Umverteilungsprozess in Gang gesetzt. Nennenswerte Lohnerhöhungen waren nicht mehr durchzusetzen, wie der Wissenschaftler erläutert, „weil es immer mehr Arbeitnehmer gab, zu Hause oder im Ausland, die bereit waren, zum alten Lohnniveau zu arbeiten“. Die Finanzkrise und ihre Folgen hätten zudem „die Abstiegsängste in Schichten transportiert, die sich bisher dagegen gefeit sahen“. Zwar zweifelt Winkler an einem dauerhaften Erfolg des von den Populisten propagierten „Wirtschaftsnationalismus“. Trotzdem – so seine nüchterne Analyse – gebe es Wähler, die einen „Retter aus ihrer ökonomischen ‚Misere‘ suchen und ihn im Nationalstaat finden, der die nun bedrohlich gewordene Globalisierung begrenzt und alte Sicherheiten wiederherstellt“. 

Tatsächlich sahen die Bundesregierungen und die sie tragenden Koalitionsfraktionen der Spaltung von Arm und Reich seit langem tatenlos zu, von kleineren Reparaturen einmal abgesehen. Völlig unabhängig davon, ob Rot-Grün, Schwarz-Gelb oder Schwarz-Rot das Land regieren. Zuweilen verschärften sie sogar noch die Gegensätze. Der bislang letzte Sündenfall ist erst wenige Monate her: die von der Großen Koalition durchgesetzte Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Sie ermöglicht es, Betriebsvermögen selbst in zweistelliger Millionenhöhe zu vererben, ohne dass der Fiskus auch nur einen Cent erhält. 

Die Reichen werden immer reicher

Ausgerechnet die Erbschaften jedoch tragen ganz entscheidend dazu bei, dass die ungleiche Verteilung privater Vermögen besonders krass ist – weitaus gravierender als bei den Einkommen. Inzwischen machen die ererbten Besitztümer fast die Hälfte aller Vermögen aus. Gerade in jüngster Zeit konnten die Reichen ihre Vorzugsstellung noch einmal kräftig ausbauen: Der Oberschicht, den reichsten 10 Prozent in Deutschland, gehören laut dem Global Wealth Databook der Schweizer Großbank Credit Suisse inzwischen fast zwei Drittel des gesamten Privatvermögens. Vor sechs Jahren waren es noch keine 50 Prozent. Die untere Hälfte der Bevölkerung hingegen geht nahezu leer aus, die ärmsten 10 Prozent haben nur Schulden. „Die Reichen werden immer reicher, und für die Armen wird es immer schwieriger, durch eine gute Bildung den Aufstieg zu schaffen“, resümiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). 

Wer wenig verdient, kann auch nichts sparen. Und seit mittlerweile vier Jahrzehnten driften in der Bundesrepublik die Einkünfte auseinander, von zeitweiligen Unterbrechungen abgesehen. Im Zeitraum von 1991 bis 2014 mussten „die da unten“, die privaten Haushalte mit den geringsten Einnahmen, reale Einkommenseinbußen hinnehmen. Für denselben Zeitraum errechnete das DIW für die Bestverdiener ein reales Plus von bis zu 26 Prozent. Dabei sind die wirklich Reichen und die Superreichen in diesen Berechnungen nicht einmal enthalten. Sofern sie in den zugrunde liegenden Umfragen überhaupt erfasst werden, ziehen sie es meistens vor, zu schweigen und sich nicht in die Karten gucken zu lassen. 
Gerade die Spitzenmanager der größten Konzerne aber sind in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten richtig in die Vollen gegangen. Als einer der Haupttreiber gilt in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre der später gescheiterte Daimler-Chef Jürgen Schrempp. Bei der Übernahme von Chrysler, laut ­Schrempp „eine Hochzeit im Himmel“, wurde auch gleich das amerikanische Bezahlsystem für die deutschen Daimler-Vorstandsmitglieder übernommen mit dem Resultat, dass die Vorstandsbezüge auf einen Schlag drastisch stiegen. Begnügte sich die Elitetruppe der deutschen Wirtschaft, die Vorstände der 30 Dax-Unternehmen, 1995 bei ihrer Entlohnung durchschnittlich noch mit dem 14-Fachen ihrer Angestellten, war es 2015 das 50-Fache – allerdings bei großen Unterschieden von Konzern zu Konzern. 

Kartellartige Strukturen

Nur zweifelhaften Erfolg hatte der Versuch des gebeutelten VW-Konzerns, dessen Chef Martin Winterkorn ausgerechnet im Jahr vor der Aufdeckung des Diesel-Skandals mit einem Jahressalär von fast 16 Millionen Euro einen einsamen Rekord aufgestellt hatte, das Image aufzubessern. „Wenn der VW-Vorstand verkündet, er möchte eine Obergrenze für das Jahresgehalt des Vorstandschefs von zehn Millionen Euro einführen, dann wirkt das auf normale Menschen absurd“, empörte sich der liberal-konservative Wirtschaftswissenschaftler Clemens ­Fuest. Angesichts der exorbitanten Bezüge hat er einen Verdacht: „Dass es Fälle kartellartiger Strukturen gibt und die einen Manager in den Aufsichtsräten der jeweils anderen sitzen und sie sich gegenseitig überzogene Gehälter genehmigen.“ Dies würde erklären, dass die Globalisierung zwar als Argument herhalten muss, die Löhne der Arbeitnehmer in den unteren Rängen zu drücken, aber in den Vorstandsetagen von diesem Wettbewerbsdruck nichts zu spüren ist.

Mit ihrem Vorschlag, die Chefgagen zumindest zu dämpfen, sind die Sozialdemokraten durchaus auf Sympathien in den anderen Parteien gestoßen. Sie wollen per Gesetz regeln, dass Unternehmen Jahresgehälter nur noch bis zu einer Obergrenze von 500 000 Euro als Kosten verbuchen dürfen. Für überschießende Beträge müssten sie dann wie auf ihre Gewinne Körperschaft- und Gewerbesteuer zahlen. Schon seit jeher werden die Ausgaben von Unternehmen für Jagden und Jachten, für übertriebene Bewirtungen oder Luxusausstattungen von Chefbüros mit teuren Gemälden nicht als Kosten anerkannt, die steuerlich den Gewinn mindern. Eine solche Vorschrift mag in Einzelfällen Wirkung zeigen, aber generell wird das Land dadurch noch nicht gerechter.

Zentraler Zukunftsfaktor Bildung

Was bleibt also zu tun? Die wichtigsten Baustellen sind leicht auszumachen. Das Steuersystem bedarf einer Grundüberholung – derzeit wird Arbeit zu hoch, Vermögen zu niedrig besteuert. Die Vorzugsbehandlung von Kapitalerträgen, die Abgeltungsteuer von 25 Prozent, sollte die Steuerflucht ins Ausland verhindern. Mit dem Ankauf der Steuer-CDs und den Verträgen zum Datenaustausch unter den Finanzbehörden hat sie ihre Berechtigung verloren. Ein Übel ist auch die Erbschaftsteuer, die trotz der tendenziell steigenden Milliardensummen der Erbschaften in der gegenwärtigen Fassung nur einen Minibeitrag zur Staatsfinanzierung beiträgt. Der ehemalige sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück bekannte, allerdings erst nachdem er das Amt nicht mehr innehatte: Man dürfe die Erbschaftsteuer „weiß Gott verdoppeln“, damit der Staat genug Geld „für den zentralen Zukunftsfaktor Bildung einschließlich Kinderbetreuung“ habe.

Gerade ein besseres Bildungssystem sollte hohe Priorität haben, um im Interesse aller die Schwächsten der Gesellschaft weniger zu benachteiligen und stärker zu fördern. Mehr Aufsteiger würden dazu beitragen, die Schere wieder etwas zu schließen. 
Und die seit Jahrzehnten vernachlässigte Vermögensbildung muss wiederbelebt werden. Wer nichts auf der hohen Kante hat, ist gegen Wechselfälle des Lebens nicht gewappnet. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger beklagt, Versicherungen würden „vom Staat zu stark gefördert“, „die Eigentumsquote bei Immobilien zu wenig“. Da gilt der alte Satz von Konrad Adenauer: „Wer ein Haus baut, macht keine Revolution.“ Mit weniger drastischen Worten: Mehr Wohneigentum stabilisiert die Gesellschaft. 

Soziale Gerechtigkeit ist wichtig

Ein Blick über die Grenzen zeigt: Auch in der Globalisierung gibt es genügend politischen Spielraum, eine Gesellschaft gerechter zu gestalten. Schon vor sieben Jahrzehnten betonte der Ökonom Walter Eucken – ein Ordoliberaler erster Güte, der die Blaupause für die soziale Marktwirtschaft verfasst hat: „Die Verteilungspolitik ist ein eminent wichtiger Teil der Wirtschaftspolitik.“ Den Politikern schrieb er zugleich ins Stammbuch: Das „Anliegen der sozialen Gerechtigkeit“ könne „nicht ernst genug genommen werden“.

Bei solchen Worten sehen die Lobbyisten aus Industrie und Arbeitgeberverbänden, die im jetzt beginnenden Wahlkampf schon wieder vor einem rückwärtsgewandten Hang zur Umverteilung warnen, ziemlich alt aus. 

 

Dieser Text stammt aus der Aprilausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.    

 

 

 

 

 

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