Deutsche Flüchtlingspolitik - Seehofer und sein Bruder Horst

Der Bundesinnenminister trägt einen Beschluss der Bundesregierung mit, wonach Deutschland 1700 Menschen aus Moria aufnehmen wird. Hinterher kritisiert er das Gebaren des „Moral-Weltmeisters Deutschland“, der sich als „Vormund“ gegenüber anderen EU-Ländern geriert. Wie geht das zusammen?

Horst Seehofer während der Debatte zu Moria im Bundestag / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Am Wochenende hat Horst Seehofer ein bemerkenswertes Interview gegeben. In dem Gespräch mit der Bild am Sonntag zeigte der Bundesinnenminister Verständnis dafür, dass andere EU-Staaten keine Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen wollen: „Manche fühlen sich an 2015 erinnert, als Deutschland die Grenzen öffnete und dann fragte, wer noch Migranten aufnimmt.“ Auch dieses Mal habe Deutschland wieder allein entschieden und dann Mitstreiter gesucht. „Diese Reihenfolge schätzen viele EU-Staaten nicht. Wenn dann noch die Moral-Keule über all diejenigen geschwungen wird, die nicht aufnehmen, tut man sich keinen Gefallen.“

Und weiter: „Viele unserer Nachbarn sagen mir: Warum sollen wir uns beteiligen, wenn die Deutschen immer wieder als Moral-Weltmeister auftreten und uns damit unter Druck setzen? Da kann man ihnen schwer widersprechen. Wir sollten nicht als Vormund Europas auftreten, sondern als Partner.“

Man kann gar nicht so viel nicken, wie man beipflichten möchte. Da spricht ein deutscher Spitzenpolitiker Offensichtlichkeiten an, die abermals von einer breiten politischen Mehrheit einfach negiert werden, als ließen sie sich aus der Welt schaffen. Das tut erstmal richtig gut. 

Die außerparlamentarische Opposition hat ein neues Pendant

Und doch befällt einen beim Lesen der Worte Seehofers ein komisches Gefühl. Geht es ihm gut? Ist er ganz bei sich? Mit sich im Reinen? Der CSU-Politiker ist Mitglied einer Bundesregierung, die mit der Akut-Aufnahme von insgesamt zunächst 1700 Migranten aus dem abgebrannten Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos genau das herbeigeführt hat, was Seehofer jetzt beklagt. Er hat diesen Beschluss der Bundesregierung mit herbeigeführt. Oder hat dieser Seehofer, der da in der Bundesregierung tätig ist, einen Bruder sehr ähnlichen Aussehens, der sich von der Wochenzeitung hat einvernehmen lassen?

Früher gab es einmal den Begriff der außerparlamentarischen Opposition. Vielleicht muss man von nun an auch von deren Pendant, der innerexekutiven Opposition sprechen. 

Innere Emigration und ironische Spiegelung  

Über Jahre hat Horst Seehofer einen ebenso engagierten wie manchmal unüberlegten und am Ende jedenfalls erfolglosen Kampf gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin von 2015 und deren Folgen gekämpft. Es ist insofern nachvollziehbar, dass Seehofer sich in eine Mischung aus innerer Emigration und ironischer Spiegelung des Regierungshandelns geflüchtet hat. 

Was muss er gedacht haben, als sich Katrin Göring-Eckardat zwei Tage nach dem Brand vor die rauchenden Ruinen stellte und in unnachahmlicher Art die Emotionen in Deutschland schürte. Was muss er gedacht haben, als Bürgermeister und Landesminister nichts Eiligeres zu tun hatten, als gleich ihre Kontingente anzubieten. Und was muss er gedacht haben, als Angela Merkel erst reserviert war und sich dann doch dem Druck des Koalitionspartners SPD (und wohl auch wie seinerzeit dem Druck der Bilder) ergab und der deutschen Soforthilfe für 1700 Menschen stattgab, mit all den Folgen, die Horst Seehofer am Wochenende richtig beschrieb. 

Aber das menschliche Mitgefühl für Horst Seehofer hat seine Grenzen in der politischen Funktion, die er ausübt. Ein Bundesinnenminister ist dafür da, für seine Sache zu kämpfen. (Was er übrigens im Fall einer Studie über Rechtsextremismus in der Polizei auch tut). Und sich im Zweifel durchzusetzen. Wenn er das am Ende nicht schafft, dann hält die politische Kultur dieses Landes ein probates Mittel bereit, von dem in letzter Zeit viel zu wenig bis gar nicht mehr Gebrauch gemacht wird: den Rücktritt. 

Es hat schon Rücktritte aus geringeren Gründen gegeben

Es haben Minister schon Kabinette bei geringfügigeren Anlässen verlassen. Hier handelt sich um eine Entscheidung im Zusammenhang mit einem Thema, das dieses Land seit Jahren spaltet wie kein zweites. In einem solchen Fall kann man schon einmal ein Zeichen setzen und sagen: Da kann ich nicht mehr mitgehen. Diese Entscheidung trage ich nicht mit. Ich trete zurück.

So aber bleibt Seehofer die Rolle desjenigen, der am Hofe immer das Recht hatte, dem König die Wahrheit zu sagen. Folgenlos, versteht sich. Horst Seehofer, der Pikaro dieser Bundesregierung? Das ist ein trauriges Ende einer großen Karriere und eines langen politischen Lebens. Der spätere Horst Seehofer: zu schwach sich durchzusetzen. Und zu schwach, die politischen und persönlichen Konsequenzen daraus zu ziehen.

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