Deutsch-russische Versöhnung - „Der Hitler-Stalin-Pakt ist tabu“

Zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion veröffentlicht Wladimir Putin einen programmatischen Artikel in der ZEIT. Osteuropa-Historiker Jörg Morré erklärt, wie Russland und andere postsowjetische Staaten versuchen, die Geschichte für heutige politische Zwecke zu instrumentalisieren – und dass echte Versöhnung dennoch stattfindet.

Deutsche Soldaten auf dem Vormarsch kurz nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der promovierte Historiker Jörg Morré leitet seit 2009 das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst und ist Mitglied der Deutsch-Russischen Historikerkommission. Im Gebäude des Museums unterschrieb die Wehrmacht am 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation.

Heute jährt sich der Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Wie unterschiedlich gedenkt man dieses Tages in Berlin, Kiew oder Moskau?

In der Ukraine spielt der 22. Juni im offiziellen Gedenkkalender kaum noch eine Rolle. Die ukrainische Regierung versucht schon seit längerem, sich an die westeuropäischen Erinnerungsdaten anzudocken: Dann ist eben der 1. September 1939 als Beginn des Zweiten Weltkriegs wichtig, und auch nicht mehr der 9. Mai – der „Tag des Sieges“, sondern der 8. Mai. In Belarus und Russland ist der 22. Juni als Tag des Gedenkens und der Trauer fest etabliert seit 25 Jahren. Besonders stark ist das in Belarus: Dort liegt die Festung Brest, eines der ersten Ziele der Wehrmacht, die dann im Zentrum des sowjetischen Widerstandsmythos stand.

Die deutsch-französische Aussöhnung gilt als Musterbeispiel – jeder kennt das Bild von Kohl und Mitterand Hand in Hand 1984 in Verdun. Warum fällt das gemeinsame Gedenken so schwer, wenn es um unsere osteuropäischen Nachbarn geht?

Der deutsche Historiker Jörg Morré / privat

In Osteuropa sind seit drei Jahrzehnten neue Gesellschaften in der Entwicklung, vielerorts sind sogar neue Nationalstaaten entstanden. Das macht es natürlich schwer, den einen Gesprächspartner zu finden, mit dem man Hand in Hand erinnern kann.

Ist die deutsch-russische Versöhnung in den vergangenen drei Jahrzehnten denn weitergekommen?

Ja. Von russischer und schon von sowjetischer Seite ist man in der breiten Masse der Gesellschaft nie mit Hass empfangen worden. Ich kann das aus eigener Erfahrung in den 80er-Jahren berichten: Als Slawistik-Student in Leningrad war kein Hass da, wenn man ins Gespräch kam. Ungeachtet dessen ist der Krieg in den Familien der postsowjetischen Länder noch viel präsenter. Bei uns heißt es ja eher: Was schert mich mein Urgroßvater.

Woher kommt diese unterschiedliche Wahrnehmung?

Russland und andere postsowjetische Staaten sehen diesen Krieg als einen blutigen Verteidigungskrieg, den sie am Ende gewonnen haben. Sie blenden aber die ideologischen Komponenten weitestgehend aus. Bei uns wird der Krieg ja in erster Linie als ein ideologiegetriebener Vernichtungskrieg behandelt, viele Handlungen sind nur mit dem Hass auf andere Völker zu begreifen. Das spielt in der postsowjetischen Wahrnehmung keine Rolle, und das macht es den Menschen heute leicht zu sagen: Mein Opa war im Krieg und deiner auch. Aber lasst uns zur Versöhnung kommen und hoffen, dass unsere Kinder nie gegeneinander kämpfen müssen. Und das ist ehrlich gemeint.

Vor einigen Tagen hat Bundespräsident Steinmeier seine zentrale Gedenkrede in Ihrem Museum gehalten. Wie sehr die aktuelle Politik in das Gedenken hineinspielt, erkennt man daran, dass der ukrainische Botschafter seine Teilnahme an der Veranstaltung absagte. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Ich kann das nachvollziehen, verstehen kann ich das nicht. Botschafter Melnyk macht das seit fünf Jahren so. Er wird stets eingeladen, und immer nutzt er es, um mit großer Geste abzusagen und um dann die Dinge auf die Tagesordnung zu bringen, die ihn umtreiben. Momentan fordert er ein Denkmal nur für die ukrainischen Opfer hier in Berlin. Hier hat er als Begründung seiner Absage auf die Namensgebung des Museums zurückgegriffen. Dabei weiß er seit langem, dass auch unser Name uns nicht davon abhält, auch explizit die Ukraine und ihre Opfer in den Blick zu nehmen.

Eines der Argumente ist, dass das Deutsch-Russische Museum Karlshorst institutionell eng mit der russischen Regierung verbunden ist. Ist das so?

Ja und nein. 1994 haben die Bundesrepublik und die Russische Föderation den Trägerverein gegründet, weil die Ukraine und Belarus zwei Jahre zuvor den gemeinsamen Tisch verlassen hatten. Das spiegelt sich bis heute in den Gremien wider: Berlin und Moskau sind mit drei Ministerien – Kultur, Verteidigung und Äußeres – im Trägerverein vertreten. Ende der 90er wurden aber die Weltkriegsmuseen in Minsk und Kiew hinzugenommen. Seitdem haben diese Länder Sitz und Stimme. Richtig ist aber auch, dass sie nicht die Mehrheit haben – die hat rein rechnerisch die deutsche Seite. Aber vor unserem Haus hängen neben der deutschen und der russischen die ukrainische und die belarussische Flagge. In unserem Programm differenzieren wir die Opfergruppen – und die Ukraine kommt da sicher nicht zu kurz.

Akut geworden ist dieser Konflikt aber erst mit den politischen Entwicklungen seit 2014, richtig?

So ist es. 2011 hatten wir eine große Gedenkveranstaltung in der Philharmonie, alle drei Botschafter waren damals dabei. 2014 kam dann die Krim-Annexion und der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine. Russland und die Ukraine befinden sich so gesehen tatsächlich im Krieg. Man kann also nachvollziehen, dass da eine Distanz entsteht. Aber das so massiv auf einen deutschen Erinnerungsakt zu beziehen – das geht zu weit. Letztendlich versagt man den ukrainischen Opfern damit auch die Repräsentanz.

Wie sehr der 22. Juni politisiert wird, kann man auch daran ablesen, dass Wladimir Putin heute in der Zeit einen Artikel veröffentlicht hat. Kann man das Gedenken überhaupt von der heutigen politischen Situation trennen?

Insbesondere Russland betreibt seit vielen Jahren eine sehr zielorientierte Geschichtsinterpretation. Das dient der aktuellen Politik.

In seinem Artikel erwähnt Putin auch Nord Stream 2 – das muss man erst mal schaffen, vom 22. Juni auf eine Erdgaspipeline zu kommen ...

Schon 2011 in der Philharmonie sprach statt des russischen Botschafters ein Mann aus dem Wirtschaftsministerium, der die Wirtschaftsbeziehungen lobte. Es gibt eine lange Kontinuität, das Gedenken für eigene Interessen zu nutzen. Aber das machen auch andere postsowjetische Staaten. Und in der Ukraine ist das Interesse momentan sehr stark auf Abgrenzung zu Russland konzentriert. Das sind tagesaktuelle politische Sachzwänge, die wir in Deutschland nicht haben. Und ganz allgemein kann man sagen: Wir haben es nicht nötig. Wir haben eine unabhängige Forschung, unsere Gedenkkultur ist nicht so staatlich gelenkt wie in unseren Partnerstaaten.

Die Probleme der Versöhnung mit Russland zeigen sich ja auch in der deutsch-russischen Historikerkommission, die seit 1997 tagt. Warum gelingt es nicht, wie im Fall mit Frankreich, eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte zu entwickeln? Was sind die Knackpunkte?

Ganz vorneweg immer der Hitler-Stalin-Pakt. In Ostmitteleuropa ist der in den letzten 25 Jahren heftig diskutiert worden. Aus russischer Sicht darf da keinesfalls der Eindruck entstehen, hier hätten zwei Schurken auf Augenhöhe einen niederträchtigen Pakt geschlossen. Diese Tendenz nimmt leider zu: In der russischen Geschichtswissenschaft werden nicht sagbare Dinge definiert. Und das macht es schwierig, auf das Forscherinteresse der anderen Seite einzugehen. Da wird geleugnet, anstatt zu argumentieren. Innerhalb der eigenen Gesellschaft kann man das mit Verboten durchsetzen. Auch Putin ist schon mit geschichtswissenschaftlichen Publikationen an die Öffentlichkeit getreten. Das sind klare Vorgaben, wie das Narrativ aussehen soll.

In Putins Interpretation liest sich das so: „Ungeachtet jüngster Versuche, die Kapitel der Vergangenheit neu zu schreiben, lautet die Wahrheit, dass der Sowjetsoldat seinen Fuß nicht auf deutschen Boden setzte, um sich an den Deutschen zu rächen, sondern um seine edle und große Befreiungsmission zu erfüllen.“ Da bleibt wenig Raum für kritische Forschung …

Das hat eine klare Richtung: Es wendet sich gegen einen Vorwurf – jenen der Rache, es lotet aber überhaupt nicht aus, was nun wissenschaftlich geboten wäre: Was könnte dafür oder dagegen sprechen? Das ist eine monokausale Sichtweise, die in der deutschen Geschichtswissenschaft ungebräuchlich ist.

Ist denn in einer deutsch-russischen Historikerkommission eine Diskussion über Verbrechen der Roten Armee überhaupt möglich?

Nein. Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee etwa sind ein Thema, das in Deutschland immer mal wieder präsent wird. Eine Kommission könnte darauf Licht werfen: Was waren die Umstände, wie umfangreich waren solche Übergriffe? Aber das geht nicht, weil das Thema von russischer Seite ein Tabu ist. Aber auch in der deutschen Geschichtsschreibung war das Thema lange Zeit hintangestellt, weil man sich hierzulande an den Schuldkomplexen abgearbeitet hat.

In mehreren Publikationen der Kommission finden sich nun zwei Artikel: einer mit der deutschen und einer mit der russischen Sichtweise auf ein historisches Thema. Ist diese Geschichtskommission de facto durch die politischen Verhältnisse gelähmt?

Wir treffen uns im Juli, es sind kollegiale Kontakte entstanden, allein die Existenz der Kommission ist positiv. Die wirklich wichtigen Diskussionen über mit Tabus belegte Themen gibt es im Augenblick aber nicht. Das ist sehr schade.

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