Wie die demokratische Mitte gestärkt werden kann - Die Gewinnerformel

Um linke und rechte Extremisten zu bekämpfen, müssen die Mitte-Parteien wieder lernen, mit einer Doppelstrategie zu agieren: konservativ in Kulturfragen und sozial in Wirtschaftsfragen. Denn nur das entspreche in Krisenzeiten den Erwartungen eines Großteils der Wähler.

Gesellschaftlich konservativ, flankiert mit Wohlfahrtsprogrammen: Boris Johnson hat die Gewinnerformel erfolgreich angewandt / dpa
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Timo Lochocki ist Senior Fellow der Stiftung Mercator. Davor arbeitete er im Bundesgesundheitsministerium.

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Die deutsche Parteienlandschaft scheint nach der zurückliegenden Bundestagswahl neu sortiert. CDU und CSU haben nicht zuletzt wegen eines sehr unglücklichen Wahlkampfs den sicher geglaubten Sieg und die großen Mehrheiten der Merkel-Jahre verspielt. Nun regiert ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Zumindest die CDU könnte sich also in der Opposition regenerieren und ein konservatives Gegenmodell zur Ampel entwickeln. Auf diese Weise entstünde wieder ein Ideenwettbewerb innerhalb der Mitte-Parteien, und extremistischen Kräften wie der Linkspartei oder der AfD würde der Wind aus den Segeln genommen.
So viel zur Theorie. In der Praxis sieht es aber ganz anders aus.

Gerade die wachsende globale Unsicherheit durch den Ukrainekrieg und die steigende Inflation wären eigentlich Anlass genug, die Sorgen der Bürger zu adressieren. Hier können die etablierten Parteien zeigen, dass sie die zentralen Ängste großer Bevölkerungsmehrheiten verstehen: die Furcht vor kultureller und ökonomischer Disruption. Wer auf beides eine kombinierte Antwort geben kann, verfügt sozusagen über die „Gewinnerformel“. Plakativ formuliert geht es insbesondere darum, den Bürgern ein Gefühl zu vermitteln, dass ihr sozialer Status nicht gefährdet ist. Das wiederum setzt massive Staatsinterventionen voraus – sei es etwa bei der Steuerung von Zuwanderung im nationalen Interesse oder beim Abfedern globaler ökonomischer Unwuchten durch einen starken Wohlfahrtsstaat. Nur wer als politischer Akteur in kulturellen Fragen „eher konservativ“ steht und in ökonomischen Fragen „eher links“, kann beide Bedürfnisse gleichzeitig ansprechen.

Deutsche Politik vernachlässigt die Gewinnerformel

In anderen Staaten haben zahlreiche Populisten mit großem Erfolg auf diese Gewinnerformel gesetzt. Davon zeugen etwa die anhaltende Popularität von Donald Trump in den Vereinigten Staaten oder der enorme Zuspruch für Marine Le Pens rechtsextremen Rassemblement National in Frankreich, der es jüngst auf 42 Prozent der Wählerstimmen gebracht hat. Für die Bundesrepublik sollte das ein Warnsignal sein. Trump präsentiert sich weiterhin konsequent als Anwalt der „kleinen Leute“, und Marine Le Pen positioniert sich geschickt als Gegenspielerin zum progressiven, aber vermeintlich marktliberalen Präsidenten Emmanuel Macron. 

Die Gewinnerformel funktioniert allerdings auch bei etablierten Parteien. Die Wahlerfolge der Tories von Boris Johnson in England etwa gingen auf diese Strategie zurück: Der Brexit als kulturell-konservative Forderung wurde flankiert mit Wohlfahrtsstaatsprogrammen. Die Konkurrenz der Brexit-Tories, die 1934 gegründete Scottish National Party, macht es übrigens genauso und vereint einen (Regional)-Nationalismus mit ökonomisch linker Programmatik. Sogar die dänischen Sozialdemokraten haben mit einer klassisch linken Sozialpolitik und einem konservativen Migrationskurs nicht nur die Regierung übernommen, sondern auch die dänischen Rechtspopulisten marginalisiert. 

Umfragedaten belegen, dass dieser Kurs auch in Deutschland gut funktionieren würde. Bei den zurückliegenden Landtagswahlen fiel die Wahlbeteiligung auf bis zu 55 Prozent, weil die besagte Gewinnerformel nicht angeboten wurde. Themen, die aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger mehr Beachtung finden sollten, sind laut Umfragen: lokale Infrastruktur, Kriminalität, Rente, Pflege. Das entspricht exakt der Gewinnerformel: kulturell konservativ und ökonomisch links. Aber weder auf Landes- noch auf Bundesebene werden diese Bereiche ausreichend angesprochen. Gerade bei den sozialpolitischen Fragen sieht es ganz düster aus: Auf die Frage des „Politbarometers“, welche Partei am ehesten für soziale Gerechtigkeit sorgen könnte, antworteten im Juli 2022 insgesamt 33 Prozent der Bürger mit „keine“ oder „weiß nicht“. Besonders dramatisch sind die Zahlen für die CDU/CSU: Lediglich 13 Prozent der Bundesbürger trauten ihr im ersten Halbjahr 2022 zu, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. 

SPD in der Zwickmühle

Das war nicht immer so. Die Gewinnerformel war die Basis der christdemokratischen Wahlsiege unter Helmut Kohl, aber auch des Triumphs von Gerhard Schröder 1998. Zur Erinnerung: Kurz vor der Bundestagswahl 1998 forderte Schröder eine Kürzung der Asylbewerberleistungen, womit er das Sozialprofil der SPD um eine stark „konservative“ Note ergänzte. Auch die CSU als erfolgreichste deutsche Partei schlechthin – zumindest gemessen an den Wahlergebnissen – verfolgte diese Doppelstrategie: Auf den Widerstand zu Angela Merkels liberaler Flüchtlingspolitik 2015 folgte die Forderung nach der Mütterrente.

Dennoch hat die Union bei ihrem zurückliegenden Bundestagswahlkampf einen klaren Schwerpunkt auf altbacken wirkende ordoliberale Thesen gesetzt und darauf verzichtet, kulturelle Fragen zu thematisieren. Mit dem Ergebnis, dass jene Partei profitierte, die in ökonomischen Fragen eher links steht: Die SPD ging mit 25,7 Prozent als stärkste politische Kraft aus der Wahl hervor. Im Prinzip könnten die Sozialdemokraten künftig mit einer kulturell eher konservativen Agenda auf die Gewinnerformel setzen, um ihre Wählerbasis zu stabilisieren. Die Frage ist nur, ob der progressive SPD-Flügel das auch mittragen würde. Und weil wiederum der Koalitionspartner FDP auf die Eindämmung der Staatsverschuldung setzt und den Wohlfahrtsstaat nicht weiter ausbauen will, kann die Ampelkoalition nicht glaubwürdig auf die Gewinnerformel zurückgreifen. Zumal der progressive Flügel bei den Grünen sogar noch stärker ist als bei der SPD.

Überlassen wir Extremisten das Feld?

Bleiben also noch die oppositionellen Unionsparteien. Die Positionierung der CDU in der Nach-Merkel-Ära scheint zumindest in kulturellen Fragen einigermaßen geklärt: Sie bezieht hier eine deutlich konservativere Position als zuvor. Allerdings geht damit offenbar auch eine Abkehr des Mitte-Kurses der Merkel-CDU in ökonomischen Fragen einher. Friedrich Merz als neuer Parteichef und Carsten Linnemann als Leiter der Grundsatzkommission gehören dem ordoliberalen Flügel an. Zwar ist mit Generalsekretär Mario Czaja ein Sozialpolitiker in prominenter Position vertreten, aber ansonsten mangelt es der Partei an profilierten Politikern, die einen modernen Wohlfahrtsstaat verkörpern könnten. Auch die Union will sich die Gewinnerformel offenbar nicht zu eigen machen. 

Und so bleibt ein riesiges politisches Feld weiterhin unbeackert. Gerade angesichts der aufziehenden gesellschaftlichen Stürme – Inflation, Krieg, Abstiegsängste in der Bevölkerung, Energieknappheit und ein mögliches Wiederaufflammen der Pandemie – ist es nur eine Frage der Zeit, bis Extremisten von links oder rechts in diese Lücke vorstoßen. Mit anderen Worten: Die Stabilität der deutschen Demokratie wird davon abhängen, von wo aus die Gewinnerformel zuerst ausbuchstabiert wird: aus der Mitte heraus oder von den extremistischen Rändern.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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