Definition - Was ist heute ein „public intellectual“?

Um öffentlich gehört zu werden, braucht es Substanz und Kontinuität. Daran scheitern auch kluge Köpfe

Erschienen in Ausgabe
Martin Walser ist der wichtigste deutschsprachige Intellektuelle / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Max A. Höfer ist freier Journalist und lebt in Berlin. Zuvor leitete er das Politikressort von Capital und war anschließend bis 2009 Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

So erreichen Sie Max A. Höfer:

Anzeige

Wenn es stimmt, dass das Internet die Öffentlichkeit revolutioniert, dann müsste der Intellektuelle, wie wir ihn kennen, in den unendlichen Filterblasen von Facebook und Google verschwinden. Eine fragmentierte Öffentlichkeit braucht den Dichter und Denker nicht mehr. Mit dem Tod der Zeitung stirbt auch er. Einsam, verlassen, ungehört. 

Für einen Nachruf ist es allerdings zu früh. Denn die Daten zeigen das Gegenteil. Noch nie waren Intellektuelle so einflussreich wie heute. Das liegt daran, dass die Wirkungsmacht der Leitmedien zunimmt und nicht etwa schrumpft, wie uns Internetenthusiasten glauben machen. Addiert man nämlich Online- und Printreichweite zusammen, dann erreichen die Leitmedien heute mehr Menschen denn je. Sie geben die Themen vor, und es sind die Intellektuellen, die sie einordnen und interpretieren. 

Martin Walser, die neue Nummer 1 des Cicero-Rankings, ist ein solches Schwergewicht. Seit Jahrzehnten beteiligt sich der Schriftsteller an vorderster Front an wichtigen Debatten – legendär mit seiner Paulskirchenrede. Mit Peter Sloterdijk (2) und Peter Handke (3) hat er nicht nur diese langjährige Debattenpräsenz gemeinsam. Alle Top-Intellektuellen sind auch ungeheuer produktiv. Jahr für Jahr werfen sie verlässlich ihre Romane, Theaterstücke oder Bücher und Essays auf den Markt. 

Harter Schlagabtausch mit klarer Kante

An die Spitze kommt nur, wer Substanz hat und Kontinuität. Das Cicero-Ranking misst die Zitationen jedes Intellektuellen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Dadurch werden Medienhypes geglättet, aber auch Newcomern eine Chance gegenüber den etablierten Alphatieren gegeben. Substanz ist ein anderes Wort für essenzielle Meinungsstärke. Jürgen Habermas (6), Alice Schwarzer (7), Elfriede Jelinek (8) und viele andere gehören sicherlich zum bundesdeutschen Mainstream, aber auf dem Weg dorthin haben sie den harten Schlagabtausch und eine klare Kante nicht gescheut. Dasselbe gilt für Sloterdijk (2), Hans-Werner Sinn (4) und Stefan Aust (9), deren Haltung wohl eher seltener die Zustimmung der Machtelite findet.

Der größte Aufsteiger im aktuellen Ranking, Thilo Sarrazin (5), verkörpert vielleicht am besten, was ein Meinungsführer heute mitbringen muss, um an die Spitze zu kommen. Der Ex-Finanzsenator und Bundesbanker setzt kontinuierlich wohlkalkulierte Provokationen und steht die nachfolgenden Gewitter dann auch durch. An den aufgeregten Debatten beteiligen sich sowohl Intellektuelle als auch Wissenschaftler. Nirgendwo ist Sarrazin so präsent wie im Internet. 
Diese mediale Vielseitigkeit ist gegenüber früher wichtiger geworden. Das bedeutet aber zum Glück nicht, dass nun getwittert und gepostet werden muss, was das Zeug hält. Der medienscheue Botho Strauß (12) und auf ihre Art auch Handke und Jelinek beweisen das Gegenteil. Trotz tiefer Recherche in der „Bloggosphäre“ schaffen es nur wenige daraus in die Top 500: Mit dem Richter Thomas Fischer (174) und dem Netzaktivisten Markus Beckedahl (316) steigen zwei Schwergewichte zwar deutlich auf, aber die Gruppe um Sascha Lobo (138), Constanze Kurz (385) und Stefan Niggemeier (123) bleibt überschaubar. Daher überrascht es nicht, dass sich das Durchschnittsalter der Top 100 nur um ein Jahr auf knapp unter 65 Jahre verjüngt hat.

Renaissance der Religion

Bemerkenswert gegenüber 2013 ist der Aufstieg der Historiker, die sich in Anzahl und Platzierung deutlich verbessert haben. Verbunden ist das mit Namen wie Herfried Münkler (13), Heinrich August Winkler (24) und Neueinsteigern wie Jörg Baberowski (286) und Andreas Rödder (417), die pointiert zu aktuellen Themen Stellung nehmen und Kontroversen nicht scheuen. Im Historikertrend spiegelt sich ein spürbar größer gewordenes Interesse der Deutschen an ihrer Geschichte und an ihrer Stellung in den Stürmen der Globalisierung. Dabei spielt auch die Renaissance der Religion eine Rolle, die Intellektuelle wie Hamed Abdel-Samad (293) und als Top-Aufsteiger den evangelischen Refugee-Bischof Heinrich Bedford-Strohm (56) ins Cicero-Ranking hieven. 

Verlierer gegenüber früheren Jahren sind die seit jeher schwachen Naturwissenschaftler und Mediziner. An den Universitäten treiben sie zwar die Forschung voran, aber die Debatten bestimmen sie nicht. Liegt es etwa an der immer größer werdenden Spezialisierung, am Niedergang des Deutschen als Forschungssprache, wodurch der Weg in die breite Öffentlichkeit erschwert wird, oder aber an der im deutschen Sprachraum verbreiteten Unfähigkeit der Naturwissenschaftler, komplexe Dinge verständlich auszudrücken? Sie müssen vielleicht am meisten von allen aufpassen, nicht in ihrer eigenen Filter-Bubble zu verschwinden.

 

Dieser Text ist aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Shop nachbestellen können.

 

 

 

 

 

Anzeige