Debattenkultur - Der politische Streit als Wellness-Veranstaltung

Ob im Alltag oder in der großen Politik: Die „Debatte“ ist überall. Unsere Kolumnistin Sophie Dannenberg schreibt über den Streit und warum er mittlerweile zu einer Wellness-Veranstaltung geworden ist.

Was ist eigentlich ein politischer Streit? / dpa
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Nach Feierabend auf dem Spielplatz. Die Kinder tobten, die Eltern vom nahen Kinderladen unterhielten sich. „Wir finden das auch nicht gut, was in der Türkei passiert“, hörte ich eine junge türkische Mutter sagen. „Aber manche aus meiner Familie sind halt für Erdogan. Darum spreche ich mit denen nicht über Politik.“ 

Ein deutsches Elternpaar, nicht mehr ganz so jung, war irritiert. „Wenn die für Erdogan sind, musst du doch mit denen reden!“, warf die deutsche Frau ein. „Nee, wieso?“, sagte die türkische Frau, „es gibt dann nur Streit, bringt doch nichts.“ „Aber wir streiten den ganzen Tag über Politik!“, rief der deutsche Mann, „also nicht nur als Paar, sondern auch im Beruf!“ „Obwohl wir ja alle im gleichen politischen Lager sind“, ergänzte die deutsche Frau.

Das war der Punkt, an dem ich Minderwertigkeitsgefühle bekam. Meine politische Bildung ist mit so was überfordert. Pausenlos streiten, so viele Argumente kenne ich gar nicht, insgesamt. Und nebenbei noch Geld verdienen, Wäsche falten und Mails beantworten. 

Was ist politischer Streit?

Mir fiel auf, dass ich vergessen hatte, was ein politischer Streit eigentlich ist. Stammtisch? Talkshow nachspielen? Zeitungszeilen zitieren? Ich war mal bei einem Dinner, bei dem alle Gäste die gleiche Wochenzeitung gelesen hatten. Sie diskutierten dann den ganzen Abend über die Artikel. Ich hatte die Zeitung nicht im Abo und kam mir vor wie damals auf dem Schulhof, als alle über Serien sprachen, die ich nicht kannte, weil wir zu Hause keinen Fernseher hatten. Der politische Streit ist wohl so was Ähnliches. Man fasst die Ergebnisse seines Medienkonsums zusammen und ist dabei ganz aufgeregt.

Aber zurück zum Spielplatz. Die Kinder schippten Sand auf die Rutsche, der Kinderladenvater war nicht einverstanden und schlurfte kurz rüber. Jetzt, dachte ich, bringt er den Kindern Streitkultur bei. Ich war gespannt, bis er losleierte: „Sand auf die Rutsche schippen ist scheiße.“ Dann wandte er sich wieder der jungen Türkin zu: „Streiten ist so wichtig! Ich finde, man muss sich mit jedem streiten! Außer mit Nazis und Querdenkern.“

Aber mit wem, wenn nicht mit denen? Wenn ich einen erreichen will, dann doch den echten politischen Gegner. Aber wo soll ich den hernehmen? Er traut sich bestimmt nicht in den Kinderladen. Inzwischen, dachte ich, ist das Streiten wohl eher Wellness. Man fühlt sich danach so erfrischt.
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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