Debattenkultur - Atempause von der Erregung

Unsere Debattenkultur verwandelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Radikale Positionen von rechts und links werden immer lauter, doch ein Austausch findet nicht statt. Der Preis dafür ist hoch. Der Dissens wandert an die Ränder.

Donald Trump macht es vor: Mit seinen radikalen Ansichten hat er es 2017 ins Weiße Haus geschafft / REUTERS
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Autoreninfo

Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Publizist. 2021 erschien von ihm: „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz).

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Wir taumeln von einem kollektiven Erregungszustand in den nächsten: Flüchtlinge, Klimakatastrophe, Corona-Apokalypse, rassistische Polizeigewalt und immer so weiter bevor das Jahr mit den US-Präsidentschaftswahlen im November dem polarisierten Höhepunkt entgegentreiben dürfte.

Die öffentlich dominierenden Themen wechseln, nur die Wut – so scheint es – bleibt. Und bei jeder neuen Umdrehung der Skandalisierungsspirale werden skeptische Fragen und Zweifel an der vorherrschenden Interpretation der Ereignisse als illegitim wahrgenommen. Traut sich noch irgendjemand mit beruflichem Selbsterhaltungstrieb und Interesse an menschlichen Sozialkontakten, dem jeweils herrschenden Dogma des eigenen Milieus entgegenzutreten?

Provokation anstatt Debatte in den sozialen Medien

Was noch vor einigen Jahren als „Querdenken“ zumindest geduldet wurde, gilt weiten Teilen der Medienöffentlichkeit heute als verantwortungslose und unmoralische Provokation. Nicht nur bezogen auf Corona wird dabei jede Grenze zwischen angemessenem Zweifel und verschwörungstheoretischem Unfug in Abrede gestellt. In Zeiten der Pandemie etwa wird noch der vorsichtigste Hinweis auf möglicherweise überzogene Eindämmungsstrategien des Staats routiniert als geistige Umnachtung gebrandmarkt.

Und in den sozialen Medien? Dort weitet sich das Feld in dem Maße, wie die Debattenunwilligkeit auf offiziellen Kanälen eskaliert. Jedoch: Nicht nur in den allerschmuddeligsten Nischen gilt dort jeder Zweifel an diabolischen Marionettenspielern der Politik längst als Beleg für hoffnungslose Naivität, wenn nicht gleich als „Volksverrat“. Nirgends regt sich so viel Widerspruch wie in den sozialen Netzwerken. Doch die Kontroverse dient auch hier nicht mehr dem Austausch, sondern nur noch der blutigen Demarkation homogener Meinungsbiotope.

Rationalität ohne Widerspruch?

Doch wie ist Rationalität ohne Widerspruch möglich? Nicht zufällig gilt Skepsis, das Hinterfragen von Gewissheiten, als Kernelement der sokratischen Methode auf der Suche nach Wahrheit. Was aber, wenn in Zeiten der allgemeinen Vernetzung schon das Fragen an sich als verdächtiges Vergehen am Anstand firmiert?

Anstelle einer so umfassenden wie vielseitigen Debatte einer kritischen Öffentlichkeit mit wirklich konträren Auffassungen sind in vielen westlichen Gesellschaften entkoppelte Monologe getreten, die außerhalb der engen Grenzen der eigenen Resonanzgruppe nicht einmal mehr Überzeugungskraft entfalten sollen. In den jeweils eigenen Glaubenssystemen werden dabei stets so unerschütterliche wie gegenseitig inkompatible Wahrheiten verkündet.

Von sich wandelnden Wahrheiten zu schnelllebigen Glaubensbekenntnissen

Nur: Diese Wahrheiten wandeln sich zunehmend schneller. Der Glaubenssatz von gestern gilt schon heute als Ketzerei. Und was morgen selbstverständlich ist, scheint jetzt noch Blasphemie. Martin Luther Kings Traum von Farbenblindheit als Reaktion auf Rassismus etwa galt bis vor Kurzem als Goldstandard des Antirassismus. In weiten Teilen des identitätspolitisch bewegten Milieus jedoch erscheint ein solcher Ansatz mittlerweile nur noch als inakzeptable Mikroaggression.

Mit Thomas Kuhn könnte man nicht von Paradigmen-, sondern von Paradogmenwechseln sprechen, die die Öffentlichkeit in ihren Bann ziehen. Die Rituale der Glaubensbekenntnisse bleiben konstant, die Demonstrationsrouten unverändert, die Sondersendungen live, doch sie werden mit stetig neuen Inhalten befeuert.

Extrempositionen werden zum milieubezogenen Mainstream

In einem Prozess der Selbstradikalisierung wandern dabei Extrempositionen stetig in Richtung milieubezogener Mainstream. Der Wunsch nach ideologischer Reinheit stärkt die Extreme. Auf der Rechten werden nicht nur in Deutschland etwa Reichsbürger und schwerbewaffnete Prepper als „very fine people“ anschlussfähig (Donald Trump). In Teilen der Linken dagegen die Antifa. Wehe dem, der die jüngste Schleife des Wertewandels übersieht!

Selbst sakrosankte Säulen des Konsenses erscheinen moralisch suspekt, sobald sie den Anschluss an die Weisheit des Monats verlieren, wie jüngst das Bundesverfassungsgericht erfahren durfte. Nicht nur dem Spiegel-Leitartikel erschien der Spruch der ansonsten hoch gelobten Richter in Sachen europäische Integration nicht nur als juristischer Fehlgriff, sondern als Attentat auf die Europäische Union. Das Urteil mag man mit Recht kritisieren. In Zeiten aber, in denen Verfassungsrichter über Nacht zu vermeintlichen Mordgesellen geraten, scheinen Grundsätze der politischen Abwägung mehr als nur ein wenig aus dem Lot.

Werte im Wandel

Der Wandel von Werten selbst ist dabei nicht neu. Überzeugungen ändern sich, Werturteile entwickeln sich weiter. Getragen vom Generationswechsel scheinen sich gesellschaftliche Normen dabei rascher zu entwickeln als individuelle Glaubenssätze der einzelnen. All das kann sich segensreich auswirken und tut es häufig auch. Doch die Geschwindigkeit, mit der sich die Änderungen der vorherrschenden Meinungen und der globalen Themensetzungen vollziehen, nimmt so rasch zu, dass an eine vernünftige Güterabwägung so wenig zu denken ist, wie an eine Sichtung sämtlicher Argumente. Derzeit scheint die Entwicklung in Richtung Fortschritt zu deuten. Doch was, wenn sich das künftig ändert?

Klar ist dabei auch: Der Preis für Dissens beruht bislang kaum auf Strafrechtsparagrafen. Tatsächlich haben Dissidenten zumindest in westlichen Demokratien in Sachen staatliche Repression trotz anderslautenden Unterstellungen wenig bis gar nichts zu befürchten. Ein derzeit in progressiven Kreisen beliebtes Meme beantwortet die Frage nach den Folgen gesellschaftlichen Widerspruchs deshalb gar mit dem Hinweis auf automatische Talk-Show Einladungen. Das aber ist ziemlich wohlfeil.

Der Preis für Dissens in der öffentlichen Debatte

Denn tatsächlich kann der Preis für Abweichung empfindlich sein – auch ganz ohne Zensur. John Stuart Mill beschrieb schon Mitte des 19. Jahrhunderts die „Tyrannei der öffentlichen Meinung“ und warnte vor anderen als zivilen Strafen, mit denen Zweifler belegt werden. Aktuelle Umfragen, denen zufolge nur rund jeder fünfte Bundesbürger in der Öffentlichkeit frei eine Meinung äußert, belegen die Effizienz dieses ungesteuerten Eindampfens des Sagbaren. In Zeiten der globalen Vernetzung wird der Impuls zur ideologischen Homogenität zunehmend absolut und das Risiko politischer Kurzschlusshandlungen global.

Für die demokratische Debatte und für die Qualität politischer Entscheidungen sind diese Homogenisierungen bei gleichzeitiger Fragmentierung eine ernsthafte Gefahr. Schließlich sind unintendierte Konsequenzen in dem Maße absehbar, wie politische Entscheidungen von grundsätzlich als akzeptabel begriffener Kritik isoliert werden. Grenzöffnung? Grenzschließung? Austerität? Milliardeninvestitionen? Maskenpflicht? Demonstrationsverbot? Selbst sich klar wiedersprechende Politikansätze wurden zuletzt in unmittelbarer Folge als alternativlose Wahrheiten durchgereicht. Breiter Widerspruch? Fehlanzeige. Die Duldsamkeit gegenüber öffentlich formulierten Alternativen tendierte eher gegen Null.

Kritik an der Kritik

Dabei gilt auch: Nicht jede Kritik an Kritik ist übergriffig. Das Ablehnen von radikalen Positionen ist häufig ein sinnvolles Instrument der politischen Hygiene. Doch die Radikalität liegt im Auge des Betrachters und wird immer weiteren Kreisen unterstellt. Denn nicht nur die Meinungen der gesellschaftlichen Milieus unterscheiden sich immer grundlegender, sondern in Zeiten der Filterblasen auch die Bezugspunkte, die Fakten, die Realität selbst. Erderhitzung, die virale Bedrohung, Rassismus: Unseren Gesellschaften entgleitet zunehmend ein gemeinsamer Zugang zu diesen Phänomenen. Parallel aber steigt der medial erzeugte Handlungsdruck.

Wie also ist darauf zu reagieren? Wie schaffen wir gesellschaftliche Institutionen des Widerspruchs, die überdrehtes Herdenverhalten konterkarieren? Wie errichten wir gesellschaftliche Stolpersteine des Gleichschritts?Vieles dürfte an der Bereitschaft gerade der etablierten Medien liegen, auch grundsätzlich abweichenden Stimmen größeres Gehör zu verschaffen. Denn diese gibt es ja durchaus. Ist nicht ein Element der politischen Entkoppelung die wachsende Kluft zwischen elitärer Echauffierung und parallel verbreiteter Alltagspragmatik?

Israels „Prinzips des zehnten Mannes“

Bezogen auf institutionalisierte Politik liefert hier hingegen der Staat Israel ein aufschlussreiches konkretes Instrument der Absicherung vor politischem Gruppendenken. Ausgehend vom Schock des Jom Kippur Kriegs, in dem sich der abwiegelnde Konsens der Experten in Bezug auf die Bedrohung durch arabische Nachbarstaaten als gravierender Fehler erwies, praktiziert das Sicherheitsestablishment im Heiligen Land das sogenannte „Prinzips des zehnten Mannes“. 

Die Idee: In strategischen Diskussionen obliegt es dabei dem jeweils zuletzt sprechenden aus Prinzip und von persönlichen Auswirkungen geschützt eine diametral konträre Auffassung zu vertreten. Das Ziel: Der Zweifel steht im Dienst der Wahrheit. In Zeiten vermeintlicher technokratischer Eindeutigkeiten drängt sich dieser Ansatz geradezu auf. Doch einen größeren Gegensatz zu vielerorts praktizierten Gepflogenheiten ist kaum denkbar. Nicht nur der Tübinger Oberbürgermeister dürfte ein Lied davon singen.

Humor als Ventil des Widerspruchs

Angesichts der milieubezogenen Einheitlichkeit der medialen Meinungsbekundung und der Unnachgiebigkeit, mit der selbst wohlmeinender Widerspruch immer wieder geahndet wird, erscheint die Einrichtung solcher „roten Teams“ als dringend erforderliches Antidot gegen eindimensionales Gruppendenken.Das nicht zuletzt, weil sogar dem Humor als historisch wirksames Ventil des Widerspruchs gegen das Dogma zunehmend die Arbeitsgrundlage entzogen wird. Ständig länger werdende Indizes tabuisierter Themen schränken schließlich auch hier den Rahmen des Sagbaren ein.

In Zeiten, in denen die Milieus auseinanderdriften, brauchen wir in unseren Gesellschaften mehr geschützten Widerspruch. Wenn das im Zentrum nicht möglich ist, wandert der Dissens Richtung radikaler Rand. Und mindestens ebenso dringend benötigen wir alle eine Atempause von der Erregung.
 

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