Debatte um Leitkultur - Nationalhass als Folge mangelnder Kultur

Für Sahra Wagenknecht sind die Grundlagen einer Leitkultur sowohl bei Kant als auch bei Goethe zu finden. Doch es seien nicht in erster Linie die Flüchtlinge, die ein Handeln nach einem Wertekanon vermissen ließen, schrieb sie 2015

In unserer Zeit gelten Egoismus und Gier als menschlicher Normalzustand / picture alliance
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Sahra Wagenknecht ist Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag

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Was ist eine Leitkultur? Dem Wortsinn nach eine Kultur, von der wir uns leiten lassen. In unseren kulturellen Traditionen, von der Antike über das Christentum bis zur Aufklärung, gibt es tatsächlich einen Fundus universeller Werte, die Grundlage einer echten Leitkultur sein könnten: der Respekt vor der Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen, Brüderlichkeit, die im Christentum als Nächstenliebe und in der Arbeiterbewegung als Solidarität übersetzt wurde. Oder auch Kants kategorischer Imperativ, stets so zu handeln, dass die Maxime unseres Handelns allgemeines Gesetz werden könnte, vereinfacht gesagt: Verhalte Dich anderen Menschen gegenüber so, wie Du von ihnen behandelt werden möchtest.

Aber ist das die leitende Kultur unserer Zeit? Einer Zeit, in der Geiz als „geil“ gilt und Egoismus als menschlicher Normalzustand, in der die Ungleichheit wächst und die Rücksichtslosesten oft die Erfolgreichen sind, in der hemmungslose Gier im Finanzsektor unverändert belohnt wird und hochprofitable Konzerne immer gewieftere Modelle entwickeln, um eines halben Prozentpunkts zusätzlicher Rendite willen die Löhne noch mehr zu drücken oder die Staaten um den letzten Cent Steuern zu prellen. Es sind offenbar nicht in erster Linie die Flüchtlinge, die eine Leitkultur im Sinne des Handelns nach einem akzeptablen Wertekanon vermissen lassen. Wenn aktuell jemand in Deutschland Leitkultur verkörpert, sind das vor allem die vielen tausend ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die durch ihr Engagement für Flüchtlinge in den letzten Monaten das Staatsversagen in der Flüchtlingskrise zumindest partiell ausgeglichen haben.

Auch eine Frage der Bildung

Im Grundgesetz sind viele unserer Grundwerte verankert. Daher ist Norbert Lammerts Spruch nicht verkehrt: Wer nach Deutschland kommt, wandert nicht in die Bundesliga ein, sondern ins Grundgesetz. Doch wie achten wir selbst die Normen und Werte des Grundgesetzes? Geht bei uns alle Macht vom Volke aus? Oder fühlen sich bei uns einige so mächtig, dass sie über dem Gesetz stehen, wie die Manager von VW oder der Deutschen Bank? Entspricht unsere bestehende Realität noch dem Geist des Grundgesetzes, das immerhin Eigentum verpflichtet, dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen?

Wir sollten auch nicht vergessen: Kultur ist zwar nicht nur, aber auch eine Frage der Bildung. In einem Land, das sich chronisch unterfinanzierte Bildungseinrichtungen und akuten Lehrermangel leistet und in dem viele Jugendliche die Schule verlassen, ohne je einen Zugang zu Goethes „Wilhelm Meister“ oder Thomas Manns „Doktor Faustus“ gefunden zu haben, wirkt das Gerede über Leitkultur seltsam hohl.

Aktuell nehmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder zu. Schon für Goethe war solcher „Nationalhass“ die Folge mangelnder Kultur. Die höchste Stufe der Kultur war für ihn die, „wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolks empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet“. Diese Sicht wäre tatsächlich eine gute Leitkultur.

 

Im „Cicero“-Magazin haben wir bereits im Dezember 2015 mehrere deutsche Politiker zum Thema Leitkultur Stellung nehmen lassen. Diese Beiträge veröffentlichen wir nun auch auf unserer Online-Seite in einer Serie.

Lesen Sie hier die Texte von FDP-Chef Christian LindnerSPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Thomas Oppermann und Bundestagspräsident Norbert Lammert

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