Covid - Politikversagen und Feindbildsuche

In der Corona-Debatte dreht sich das Land seit 20 Monaten im Kreis. Ob Schnelltests, Impfpflicht oder 2G – was Politiker gestern noch lauthals dementierten, fordern sie heute ganz offen. Das Vertrauen der Skeptiker lässt sich auf diese Weise nicht zurückgewinnen.

Kostenlos oder nicht – wirklich eine Frage der Fairness? / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Schwerkraft des Geistes lässt uns nach oben fallen. Die französische Philosophin Simone Weil hat diese so luftige wie poetische Sentenz geprägt – zu einer Zeit, in der sich der Geist längst in der Defensive befand. Man kann diesen Satz aber vielleicht auch andersrum denken: Die Trägheit der Geistlosigkeit ließe uns dann nach unten taumeln. Ein garstiger, ein gänzlich unschöner Gedanke; doch wie wahr auch dieser sein könnte, das ließe sich mit einem einfachen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Corona-Debatte belegen: Denn egal ob es um die anhaltende Not auf den Intensivstationen geht, um den Umgang mit Schnelltests oder Ungeimpften, um Booster, 2G oder all die Zahlen und Studien, die man um Gottes Willen nicht wahrhaben will: Wir drehen uns im Kreis; und das seit nun schon 20 Monaten.

Kaum etwas, das nicht im Debakel endet. Beispiel Impfkampagne: Während Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) noch im Mai 2020 lauthals proklamierten, dafür eintreten zu wollen, dass „derjenige, der für sich eine Impfung ausschließt, nicht gezwungen werden kann“, sind es dieselben Politiker, die heute ihr Geschwätz von gestern mit schnell gezimmerten Gegenreden Lügen strafen: „Wir brauchen 2G und wir brauchen vor allem ein einheitliches Agieren und Sprechen der Politik“, so Kretschmer letzte Woche in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Geschwätz von gestern

Gestern noch der zahme Wolf im Fell des Bürgerrechtlers, und heute schon der Bürgerschreck selbst. Manch ein Minister oder Ministerpräsident verkörpert dieser Tage Dr. Jekyll und Mr  Hyde, Licht und Schatten, ja Papst und Gegenpapst in einer Person; eine schier unhaltbare Position. Und so haben die Reden und Maßnahmen der Politik während der zurückliegenden Krisenmonate eine Halbwertszeit erreicht, die allenfalls noch mit der von Schokodrops in einem durchschnittlichen Kindergarten vergleichbar ist.

Beispiel Corona-Schnelltests: Während der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch Anfang Oktober gegenüber der Funke-Mediengruppe davon sprach, dass es die „Fairness vor dem Steuerzahler“ geböte, die bis dahin noch kostenlosen Bürgertests abzuschaffen, macht die öffentliche Meinung keine vier Wochen später auf dem Absatz wieder kehrt. Heute hüh und morgen hott.

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Unerschöpflicher Wille zur Spaltung

Ist es bei so viel Konzept- und Planlosigkeit eigentlich wirklich verwunderlich, wenn all die Impfskeptiker und Maßnahmenkritiker – je nach derzeit gültiger RKI-Statistik sind das immerhin ein Viertel bis ein Drittel der deutschen Bevölkerung – nicht jenes Vertrauen in die politisch Handelnden zurückgewinnen, das für das Bestehen einer derartigen Gesundheitskrise unbedingt nötig wäre? Doch statt den Bürger endlich ernst zu nehmen und vergangene Fehler offen zu kommunizieren, läuft Deutschland in diesem Herbst lieber ein weiteres Mal gegen die immer gleiche Wand. Warum auch etwas anderes tun, wenn einen das bisher Getane nicht weiterbringt?

Noch haben die Politik und die sie beratenden Experten ein Faustpfand in der Hand: In großen Teilen der Bevölkerung nämlich scheint der Wille zur Spaltung schier unerschöpflich zu sein. Wer am vergangenen Sonntag etwa in die Talkarena von Anne Will hineingeblickt hat, der konnte sehen, wie sich Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, Ethikrat-Chefin Alena Buyx und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wirklich alle Mühe gaben, um die Häretiker der reinen Impflehre vor Löwen und Publikum zu werfen: Von der „Tyrannei der Ungeimpften“ sprach da etwa Frank Ulrich Montgomery, vom „absoluten Ultraquatsch der Impfgegner“ Markus Söder, und Alena Buyx gab den Grundrechten noch schnell einen rechten Haken mit, indem sie schlicht behauptete, dass „Impfen keine Individualsache“ sei. Getreu dem Motto: Du bist nichts, das Virus ist alles, hat die Debatte um die erlösende Vakzinierung mittlerweile ein Niveau erreicht, das zuletzt im ausgehenden Mittelalter an den Stadtbrunnen von Köln oder Wien beobachtet worden sein soll. Dort hatte man bekanntlich dem unmittelbarsten und direkten Nächsten einen negativen Einfluss auf die damals wütende Pestilenz geben wollen.

Wann kommen die Grundrechte zurück?

Kurz: es ist beschämend und einer demokratischen Gesellschaft unwürdig. Noch scheinen sich diese Argumenti ad hominem zu verfangen. Doch allmählich kommen auch in der Mitte der Gesellschaft Fragen auf: Wie kann es eigentlich sein, dass man mutig in die Vorleistung einer Impfung gegangen ist, ohne dass man die darauf in Aussicht gestellten Grundrechte je zurückgewonnen hätte? Wie oft muss man sich eigentlich an die Nadel begeben, bis aus dieser der süße Saft der Freiheit fließt? Wieso weisen unzählige Studien darauf hin, dass Geimpfte zwar genauso infektiös sind wie Ungeimpfte, während die Politik diese Erkenntnisse mit dem wackeren Schlachtruf „2G!“ ignoriert? Und wieso deutet eine Korrespondenz aus dem etablierten „European Journal of Epidemiology“ darauf hin, dass die populäre Gleichung „Hohe Impfquote = niedrige Inzidenz“ zahlreiche Mängel und Fehler aufweist?

Die Politik muss sich Fragen wie diesen endlich stellen. Es hilft nichts, einen Teil der Bevölkerung für das seit Jahren offenkundige Versagen in den Kliniken und in der Pflege verantwortlich zu machen, wenn man die Hebel zur Lösung der aktuellen Krise ganz woanders ziehen müsste. Nur die Schwerkraft des Geistes ist es, die uns in dieser zugespitzten Situation wieder nach oben fallen lässt. Denn eines muss den Sturköpfen rechts wie links der Spritze endlich klar sein: Aus dieser verfahrenen Situation kommen wir nur gemeinsam wieder heraus. Es gibt eine Gesellschaft nach Corona. Verspielen wir also nicht jetzt bereits das Vertrauen, das wir für diese Gesellschaft so dringend benötigen werden.

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