Covid-Patienten - Kant, Popper und die invasive Beatmung

Invasive Beatmung hat unnötigerweise zu stark erhöhter Sterblichkeit bei Covid-Patienten geführt. Etwas mehr angewandte Erkenntnistheorie nach Popper hätte auf den Intensivstationen viele Menschenleben retten können. Und Kants Appell an die Aufklärung hätte die Verbreitung falschen Wissens früher gestoppt.

Invasivbeatmung ist bei Covid-Patienten nicht nur meist überflüssig, sondern sogar gefährlich / dpa
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Dieter Köhler ist Mediziner und Ingenieur. Von 1989 bis 2014 war er Präsident des Verbandes Pneumologischer Kliniken.

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Thomas Voshaar ist Chefarzt der Lungenklinik im Krankenhaus Bethanien in Moers.

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Karl Popper (1902–1994) beschreibt wohl am klarsten die beste Lösungsmethode eines wissenschaftlichen Problems. Es entspricht weitgehend unserer natürlichen Denkweise, wenn wir vorurteilslos eine wichtige Fragestellung angehen. Die berühmte Formel lautet: Problem 1 → Hypothesenerstellung → wissenschaftliche Untersuchungen → Problem 2. Um also zu sehen, ob ein Problem überhaupt ein ungelöstes ist, muss man vorurteilslos die vorhandenen Daten prüfen. Das bedeutet, tief und insbesondere breit in die Literatur einzusteigen. Nicht selten findet man hier bereits die Lösung und kann aufhören. Fehlen aber entsprechenden Daten, so müssen mehrere Hypothesen erstellt werden, um das Problem zu klären. Üblicherweise beginnt man mit der einfachsten bzw. plausibelsten Hypothese, bekannt auch als Ockhams Rasiermesser.

Durch entsprechende wissenschaftliche Arbeiten mit möglichst falsifizierendem Ansatz werden die Hypothesen abgearbeitet oder gegebenenfalls ergänzt. Das ist mit Poppers berühmt gewordenem „Trial and Error“ gemeint. Übrigens, so sagte er selbst, sind auch die verrücktesten Hypothesen zugelassen. Erst dann beginnt die kritisch rationale Arbeit. Findet sich eine Lösung, so ist man entweder fertig oder bei einem neuen Problem angelangt. Allerdings hat jetzt das Problem 2 bzw. die neue Hypothese eine höhere Wahrheitsähnlichkeit, denn sie erklärt mehr Phänomene.

Entscheidendes Wissen seit 50 Jahren bekannt

Nun wird genau das leider in der derzeitigen Behandlung von Covid-Patienten bei der maschinellen Beatmung und der Sauerstofftherapie nicht gemacht, obwohl wesentliche Erkenntnisse dazu schon lange publiziert sind. Es ist schon seit über 50 Jahren gut bekannt, wie der Sauerstoff zu den Zellen transportiert wird, um dort am Ende die energiereichen Phosphate (ATP, das Heizöl der Zellen) zu produzieren, die das Leben sichern. Das erste Organ ist die Lunge mit ihrem Lungenparenchym. Es sorgt dafür, dass der Sauerstoff in den Lungenbläschen an den roten Blutfarbstoff (Hämoglobin) gebunden wird. Damit der Sauerstoff aber dorthin kommt, muss er durch die Atempumpe (vorwiegend das Zwerchfell) als zweites Organ erst einmal in die Lungenbläschen transportiert werden. Auf dem umgekehrten Weg wird dann das bei der Verbrennung von Sauerstoff entstehende Kohlendioxid (CO2) abgeatmet. Das Herz sorgt als drittes Hauptorgan für den Transport des sauerstoffreichen Blutes zu den Zellen.

Es ist also ganz offensichtlich, dass die Anzahl der Sauerstoffmoleküle entscheidend ist für die Energieversorgung der Zellen. Und hier beginnt der Denkfehler. Er hängt damit zusammen, dass die Zahl der Sauerstoffmoleküle im Blut hauptsächlich von zwei Größen abhängt, der Hämoglobinkonzentration und der Füllung des Hämoglobins mit Sauerstoff. Beides miteinander multipliziert ergibt die Zahl der Sauerstoffmoleküle bzw. den Sauerstoffgehalt im Blut. Dieser sollte der zentrale Parameter für Intervention auf der Intensivstation sein, wenn das System gestört ist. Erstaunlicherweise werden beide Größen völlig getrennt betrachtet und sind auch Inhalte von sich widersprechenden Leitlinien.

Intensivmediziner stehen kopf

Dieser einfache Dreisatz: Sauerstoffgehalt = Sauerstoffsättigung x Hämoglobinkonzentration, überfordert erstaunlicherweise nicht wenige Intensivmediziner. Die folgende Abbildung veranschaulicht das Problem. Links ist die Zahl der Sauerstoffmoleküle eines Gesunden im Blut dargestellt, wenn das Hämoglobinmolekül zu 95 % mit Sauerstoff gesättigt ist (SaO2). Auf der rechten Seite ist der Sauerstoffgehalt durch eine angenommene coronabedingte Lungenentzündung (Pneumonie) auf die Hälfte gefallen, weil die Hämoglobinmoleküle nur noch zu 50 % gesättigt sind.

Bei einem solchen Wert stehen viele Intensivmediziner kopf, weil sie den Tod des Patienten fürchten. Bereits bei einer SaO2 unter 92% (WHO-Vorgabe anfangs, jetzt 90 % bei Nicht-Schwangeren) sehen Sie die Patienten gefährdet: Die Konsequenz ist die Intubation selbst bei normalen CO2-Werten im Blut. (Bei erhöhten CO2-Werten muss beatmet werden, um der geschwächten Atempumpe zu helfen.)

Intubation erhöht Anfälligkeit

Die Angst vor einer niedrigen Sättigung bei Pneumonie ist umso erstaunlicher, da beispielsweise manche Patienten mit schwerem Übergewicht viele Jahre im Schlaf über Stunden SaO2-Werte von 40 bis 60 % haben können. Das beeinträchtigt sie keineswegs, von einer gewissen Schläfrigkeit am Tage einmal abgesehen. Es sind die gleichen Ärzte, die das öfters auch auf einer Intensivstation bei Übergewichtigen sehen und nie auf die Idee kämen, diese Patienten zu intubieren.
Auf der anderen Seite sind die Intensivmediziner aber gelassen, wenn wegen Blutarmut (Anämie) das Hämoglobin auf die Hälfte des Normwertes gefallen ist (mittleres Beispiel in der Abb.). Das sagen auch die Transfusionsleitlinien. Und hier zeigt sich das Paradox besonders deutlich: Halbes Hämoglobin ist aber identisch mit der halben SaO2, denn in beiden Fällen ist die Zahl der Sauerstoffmoleküle gleich. Im Fall der Anämie sind die Intensivmediziner entspannt und warten zu; im anderen intubieren und beatmen sie bereits bei geringem Abfall der Sättigung, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gibt.

Durch die Intubation müssen die Patienten in eine Dauernarkose gesetzt werden. Dies führt fast immer sofort zu einem erheblichen Blutdruckabfall, sodass mit Abkömmlingen des Adrenalins (Katecholamine) gegengesteuert werden muss. Zusätzlich muss man etwa gut ein Drittel mehr Atemvolumen aufwenden, um den gleichen Gasaustausch im Vergleich zur Spontanatmung zu erreichen, weil die Luft in die Lunge hineingedrückt werden muss. Höhere Beatmungsdrücke beinträchtigen aber die Herzfunktion, was wiederum ungünstig für den Kreislauf und damit auch für die Nierenfunktion ist.  Da sich der Gasaustausch nach der Intubation zunächst verschlechtert, wird mehr Sauerstoff gegeben, um die Sauerstoffsättigung letztlich wieder über 90 % zu bringen. Zuviel Sauerstoff ist aber ein Gewebegift, das neben den zu hohen Beatmungsdrucken die Lunge zusätzlich stark schädigt. Vermutlich hängen damit auch die typischen Nerven- und Muskelentzündungen zusammen, die fast immer mit längerer Intubation assoziiert sind. Sie sind eine der Hauptursachen des echten Post-Covid-Syndroms nach einem Intensivaufenthalt. Auch wird die Immunabwehr durch die Dauernarkose und durch neue, künstlich erzeugte Entzündungsherde überlastet. Damit haben die Viren leichteres Spiel.

Geringe Sauerstoffsättigung nicht gefährlich

Die niedrige Sauerstoffsättigung ist ein Marker der Schwere der Pneumonie bei Covid. Sie fällt typischerweise in den ersten Tagen der Erkrankung. Gefährlich ist sie aber lange nicht, sofern keine zusätzlichen schweren Erkrankungen oder eine Anämie vorliegen. Einer der Autoren hat im Rahmen von wissenschaftlichen Studien eine Sauerstoffsättigung von 70 % über mehrere Stunden gehabt, ohne überhaupt etwas zu spüren. Auch bei tieferen Werten ist das in der Literatur gut untersucht. Es ist eben wie halbes Hämoglobin, was die Patienten auch nur bei körperlicher Belastung wahrnehmen. Der niedrigste Hämoglobinwert, den wir erlebt haben, betrug 1,8 g/dl, also nur ca. 13 % des Normalwertes. Der damalige Patient, ein junger Student mit chronischem Darmbluten, kam noch zu Fuß in die Klinik, war zwar wacklig auf den Beinen, hatte aber in Ruhe keine Atemnot. Man wagt gar nicht, den entsprechenden SaO2-Wert anzugeben, wobei bei solch niedriger SaO2 die Sauerstoffgehaltsgleichung  etwas korrigiert werden muss.

Obwohl internationaler Standard, hat die WHO empfohlen, die ungleich schonendere Beatmung am wachen Patienten mittels Maske (nicht-invasive Beatmung, NIV) nur zurückhaltend einzusetzen, da sie sich bei der Coronaviruspneumonie nicht bewährt habe. Die Begründung ist erstaunlich und findet sich immer noch in aktuellen Leitlinien. Bezug genommen  wird auf eine Beobachtungsstudie mit nur zwölf intensivpflichtigen Patienten. Sie waren 2012 im Nahen Osten an MERS erkrankt, einer durch ein Coronavirus ausgelösten Pneumonie. Bei vier Patienten wurde NIV versucht, was dann wegen Fortschreitens der Erkrankung abgebrochen wurde. In der Leitlinie findet sich kein Wort zu den zahlreichen anderen Veröffentlichungen zu dem Thema. Der nicht-invasive Beatmungszugang ist eine seit über 20 Jahren etablierte Methode in der Intensivmedizin.

Hunderttausende nicht notwendige Sterbefälle

Übrigens sind wir mit unserer Meinung nicht allein; Professor Martin Tobin aus Chicago, einer der berühmtesten Pneumologen und Intensivmediziner, der viele Jahre die amerikanische Lungengesellschaft geleitet und das wichtigste Fachjournal herausgegeben hat, sagt genau das gleiche. Er wird jetzt auch nicht mehr zitiert bzw. von den relevanten Fachgesellschaften totgeschwiegen.

Kant schrieb in seinem berühmten Artikel von 1784 zu der Frage „Was ist Aufklärung?“, sie sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Pandemie bietet den, zynisch gesprochen, Vorteil, dass dieses fehlende naturwissenschaftliche Grundverständnis in vielen Bereichen der Intensivmedizin aktuell demaskiert wird. Viele Studien zeigen eindeutig, dass die Intubation bei gleichem Schweregrad die Todesrate mindestens um den Faktor 5 bis 6 erhöht, bei manchen Kliniken sogar um über 10. Das gilt auch für die fast immer unnötige ECMO-Therapie, bei der die gleichen pathophysiologischen Prinzipien gelten. Aufsummiert sind das inzwischen mehrere 100.000 nicht notwendige Tote weltweit. Solche extremen Unterschiede sind in der Medizin bei unterschiedlichen Therapieprinzipien sonst nie zu beobachten. Änderungen von wenigen Prozent bei einem Medikament in der Überlebensrate führen in der Regel schon zu Weltkongressen. Bei der nachgewiesen oft überflüssigen und lebensgefährlichen invasiven Beatmung bei Covid und anderen Pneumonien verharren insbesondere die Opinion Leader weltweit in der ideologischen Starre bzw. Unmündigkeit. Abschließend Kant: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
 

 

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