Hamburger Corona-Studie - Die Aufschneider

Im letzten Frühjahr überraschte der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel mit einer Studie zu den damaligen Corona-Toten. Demnach hätten nahezu alle Verstorbenen gravierende Vorerkrankungen gehabt. Püschels Nachfolger hat die Studie weitergeführt und den damaligen Verdacht erhärtet: Man stirbt nicht einfach so an Covid-19.

Ein Sektionsassistent im Institut für Rechtsmedizin in Hamburg / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Seit am 9. März 2020 nordrhein-westfälische Behörden die ersten deutschen Corona-Toten gemeldet hatten – es handelte sich damals um einen 78-jährigen Mann aus Heinsberg und eine 89-jährige Frau aus Essen – lautet die Grundfrage der Existenz nicht mehr „Sein oder Nicht-Sein?“, sondern „Mit oder an?“. Für manche verweist diese Frage nur auf ein sophistisches Rätsel, für andere auf eines der wesentlichen Fundamente der aktuellen Covid-19-Krise: Ist jemand nun also mit oder an Corona gestorben, wenn er in den traurigen Todesstatistiken auftaucht, die das Robert Koch-Institut seit jenem besagten 9. März an die interessierte Öffentlichkeit weitergibt?

Bei der von Lothar Wieler geleiteten Bundesoberbehörde in Berlin-Wedding hat man auf diese Frage bis heute keine wirkliche Antwort. Das liegt unter anderem auch daran, dass das Institut zu Beginn der Krise Ärzte und Pathologen dazu angeraten hatte, die in Folge einer Covid-19-Erkrankung verstorbenen Patienten nach Eintritt ihres Todes nicht mehr zu obduzieren. Zu groß war in den ersten Wochen der Pandemie die Angst davor, dass durch das Aufschneiden der Leichen Aerosole hätten entweichen können, die weitere Infektionen vorangetrieben hätten. 

Von den Toten lernen

Einen indes gab es, den schien dieser Ratschlag nicht sonderlich zu bekümmern: den Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel, Mitglied der ehrwürdigen Leopoldina und unter anderem Gutachter im Fall Kachelmann sowie Erstaufschneider des Leichnams Uwe Barschels. Püchels Credo „Mortui vivos docent“, die Toten lehren die Lebenden, hatte dazu geführt, dass man in Hamburg bereits am 27. Mai 2020 mehr als 200 verstorbene Covid-19-Patienten obduziert hatte. Die Erkenntnis, die Püschel aus seiner Arbeit gewonnen hatte, war zunächst ein wesentlicher Panik-Downer während des letzten Frühjahrs: In Hamburg sei seinen Untersuchungen zufolge kein einziger nicht vorerkrankter Mensch an dem Virus gestorben, auch wenn bei den 204 verstorbenen Personen, die er und sein Team obduziert hatten, bei 195 Fällen die Infektion als todesursächlich festgestellt werden konnte.      

Im Herbst 2020 ging Püschel in den Ruhestand. Doch im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf ging die Obduktion der Covid-19-Toten weiter. Das UKE bildet damit bis heute eine löbliche Ausnahme. Zwar war im August 2020 noch eine weitere Untersuchung zu den Covid-Toten publiziert worden, diese aber beruhte nicht auf repräsentativen Daten, sondern fußte einzig auf einer Umfrage unter den Mitgliedern der sogenannten AG Obduktion in der Deutschen Gesellschaft für Pathologie. Eines der Ergebnisse: In nicht einmal sechs Prozent der angeschriebenen Institute seien überhaupt Covid-19-Obduktionen durchgeführt worden.

Mit oder an Corona?

Umso interessanter war es da also, als am gestrigen Donnerstag der Nachfolger von Klaus Püschel am Hamburger Institut für Rechtsmedizin, der 36-jährige Benjamin Ondruschka, den aktuellen Stand der Untersuchung präsentierte. Laut Ondruschka, ein Pathologe, der in der Vergangenheit immerhin schon den Leichnam Karl Mays unter seinem Messer hatte, habe man in Hamburg mittlerweile 735 Obduktionen verstorbener Corona-Infizierter durchgeführt. Die allermeisten der obduzierten Toten seien in der zweiten Welle verstorben, darunter sehr viele im Dezember. Von den nun postmortal Untersuchten seien 618 tatsächlich an Corona verstorben – die meisten in Folge von Lungenembolien, Multiorganversagen oder einer Sepsis. Lediglich sieben Prozent hätten eine andere Todesursache aufgewiesen.

Püschels Untersuchungen aus dem Frühjahr wurden damit noch einmal bestätigt. Und auch bei den Vorerkrankungen lag der einstige Institutsleiter richtig: 88 Prozent der mittlerweile Obduzierten hätten laut Ondruschka mindestens drei Vorerkrankungen aufgewiesen. Besonders häufig war dabei Bluthochdruck, krankhaftes Übergewicht, Niereninsuffizienz, Diabetes, Krebs oder eine chronische Lungenerkrankung zu finden. Und auch das Alter spielte als Risikofaktor eine entscheidende Rolle: Drei Viertel aller Verstorbenen war älter als 76 Jahre. Lediglich sieben Obduzierte waren jünger als 50 Jahre, und von diesen wiederum gab es niemanden, der nicht auch eine erhebliche Vorerkrankung aufgewiesen hätte. 

Tod mit Vorerkrankungen

„Das höchste Risiko an einer Covid-19-Erkrankung zu versterben, ist somit eindeutig das hohe Lebensalter und damit einhergehend Risikofaktoren im Sinne gravierender Vorerkrankungen“, so Benjamin Ondruschka zu den Untersuchungsergebnissen. Ohne Vorerkrankungen zu versterben sei demnach die „absolute Ausnahme“. Man habe bei den 618 Obduzierten lediglich ein Prozent gefunden, bei denen es keine Vorerkrankung gegeben hätte. 

Es gibt angesichts dieser Datenlager also kaum noch einen Zweifel: Sars-CoV-2 ist eine Gefahr für die Vulnerablen, alle anderen haben zumindest keine letalen Verläufe zu befürchten. Die Alten und Vorerkrankten noch effektiver zu schützen, muss daher das Ziel allen politischen Handelns sein. Wer diese Latte reißt, der will von den Toten nichts lernen. Wer sie indes weit überspringt, der lernt nichts vom wachsenden Leiden der Lebenden.

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