Die Coronakrise und die Freiheitsrechte - Not kennt ein Gebot

Das Coronavirus attackiert nicht nur unsere Körper, sondern auch unseren Rechtsstaat. Abwehrkräfte sind gefragt. Die Einschränkungen der Freiheitsrechte müssen verhältnismäßig sein. Und damit Bund und Länder nicht mehr im regulativen Vakuum arbeiten, brauchen wir ein genaueres Infektionsschutzgesetz.

Wie lange darf der Gesetzgeber noch die Versammlungsfreiheit einschränken? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Pauline Weller studierte Jura in Berlin, Kopenhagen und Florenz. Sie ist Projektkoordinatorin und Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). 

So erreichen Sie Pauline Weller:

Anzeige

Autoreninfo

Bijan Moini ist Rechtsanwalt und seit 2018 Syndikus der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Gerade ist im Atrium-Verlag sein neues Buch erschienen: „Rettet die Freiheit! Ein Weckruf im digitalen Zeitalter“

So erreichen Sie Bijan Moini:

Anzeige

Die Corona-Pandemie hat zu Einschnitten in unsere Grundrechte geführt, die vor wenigen Wochen undenkbar waren: Unsere Bewegungsfreiheit ist extrem begrenzt. Unzählige Menschen dürfen ihre Berufe nicht mehr ausüben. Die Versammlungsfreiheit ist praktisch aufgehoben. Bei Verstößen drohen Bußgelder oder sogar Haftstrafen. Die Justiz, sonst Schutzschild unserer Rechte, ist auf einen Notbetrieb heruntergefahren. Und all das auf Grundlage von Verwaltungsakten und Rechtsverordnungen, die sich auf ein Infektionsschutzgesetz stützen, das wegen seiner vielen Lücken mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.  

Die Gefährlichkeit des Corona-Virus ist ein gewichtiger Grund für die radikalen Maßnahmen der Regierung. Aber es ist nur ein schmaler Grat zwischen einem entschlossenen Vorgehen, um die Pandemie einzudämmen, und der Demontage des Rechtsstaats im Schatten einer Krise. Das zeigt der Blick nach Ungarn und Polen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán will fortan per Dekret regieren. Der bereits ausgerufene Notstand soll künftig nicht vom Parlament, sondern von der Regierung verlängert werden können. In Polen wiederum hält die Regierungspartei PiS am Termin für die Präsidentschaftswahl am 10. Mai fest, während nur noch ihr eigener Kandidat, Amtsinhaber Andrezj Duda, sich in Szene setzen darf, weil der Wahlkampf offiziell ruht. 

Gäbe es weniger einschneidende Alternativen?  

Diese Entwicklungen sollten uns zumindest eine Warnung sein, auch in Deutschland genau hinzuschauen. Selbst bei uns wird die Politik nicht müde zu betonen: Die Einschränkungen können jederzeit verschärft werden. Die Pandemie ist in Deutschland längst noch nicht auf ihrem Höhepunkt, keiner weiß, was den Menschen – und der Freiheit! – noch droht.

Eingriffe in Grundrechte sind nur gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind. Juristisch gesprochen verfolgen die aktuellen Maßnahmen der Regierung das Ziel, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und damit das Recht bisher nicht Infizierter auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen. Ob die vielen Freiheitsbeschränkungen verhältnismäßig oder übertrieben sind, hängt davon ab, ob es weniger einschneidende Alternativen gäbe. 

Die Justiz steht vor demselben Problem wie die Politik

Das aber ist schwer zu sagen. Das juristische Urteil über die vorgenannten und noch kommenden Grundrechtseingriffe steht nämlich vor demselben Problem wie die Politik: Wir wissen nicht, wie viele Neuansteckungen pro Tag unser Gesundheitssystem aushält. Hundert? Tausend? Fünftausend? Wie lange dürfen es wie viele sein? Und wir wissen auch nicht, welche Maßnahmen die Pandemie tatsächlich am wirkungsvollsten eindämmen können. Bei so viel Unsicherheit gewährt das Recht der Politik einen großen Beurteilungsspielraum.

Und doch gibt es für den Staat auch im Ausnahmezustand Regeln, bei deren Verletzung einzuschreiten ist. Diese Regeln sind Widersacher des unheilvollen Credos „Not kennt kein Gebot“. Denn die Grundrechte gelten auch im Angesicht der größtmöglichen Gefahr, nämlich dass Menschen sterben könnten. 

Die Einschränkungen dürfen nicht zur Regel werden 

Eine der wichtigen weiterhin geltenden Regeln klingt banal: Die Maßnahmen müssen etwas bringen, sonst sind sie rechtswidrig. Vor dieser Schranke musste ein Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums Halt machen: Die Behörden sollten die über Funkzellen ermittelten Standortdaten der Handys von Infizierten anfordern können, um Kontaktpersonen zu ermitteln. Weil genau das aber technisch unmöglich war, musste Minister Jens Spahn den Passus aus dem neuen Infektionsschutzgesetz wieder streichen. 

Die Beschränkungen der Freiheit müssen auch in sich schlüssig sein. Es darf zum Beispiel nicht zur Rückkehr in seine Heimat gezwungen werden, wer sich seit Monaten an seinem Zweitwohnsitz aufhält, wenn gerade das die Infektionsgefahr erhöht. Deshalb müssen alle Verbote Ausnahmen zulassen, um dem Einzelfall gerecht zu werden. Die nun in der Ausnahmesituation geschaffenen Beschränkungen der Freiheitsrechte dürfen zudem nicht zur Regel werden. Alle Einschränkungen müssen ebenso schnell zurückgebaut werden, wie sie errichtet wurden, sobald die Lage es erlaubt. 

Die Legislative muss mehr Entscheidungen treffen

Und dann müssen wir rasch in die Zukunft blicken. Wir dürfen gegenüber einer vorhersehbaren Bedrohung wie einem Virus nie wieder so hilflos sein, nie wieder dürfen Freiheitsbeschränkungen wie derzeit nötig werden. Und nie wieder dürfen Regierungen in Bund und Ländern in einem solchen regulativen Vakuum agieren. Statt Gemeinden und einzelne Behörden bei wichtigen Entscheidungen allein zu lassen, muss der Gesetzgeber im Infektionsschutzgesetz deutlich mehr Wertentscheidungen selbst treffen, von Ausgangsbeschränkungen bis zur Ressourcenverteilung im überforderten Krankenhaus. Dafür ist ein Parlament schließlich da.

Anzeige