100 Tage Corona-Warn-App - Die Liebe in Zeiten der Corona-App

Hundert Tage Corona-Warn-App waren für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein guter Anlass für eine erste Bilanz. Während die Politik verzückt ist, sehen Mediziner die App äußerst kritisch. Zwischen beiden Gruppen steht ein überforderter User und wundert sich.

Ein Mann hält ein Smartphone mit dem Hinweis der Corona-Warn-App auf ein „erhöhtes Risiko" / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Deutschland geht die Liebe aus. Das wäre zumindest eine Schlussfolgerung, die man aus den Worten der Beauftragten der Bundesregierung für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU) sagte sie, dass die am 16. Juni eingeführte App, die den Behörden dabei helfen soll, Corona-Infektionen nachzuvollziehen und deren Verbreitung zu unterbrechen, ein Liebesbeweis gegenüber Freunden und der eigenen Familie sei. 

Nun ist es indes leider so, dass auf die vermuteten 50 Millionen App-fähigen Smartphones in Deutschland lediglich 18 Millionen Software-Downloads erfolgt sind. Die allermeisten Nutzer legten sich die App gleich während der ersten zwei Wochen nach der Bereitstellung zu (14,4 Millionen Downloads), seither aber scheint die Bereitschaft zur digitalen Pandemiebekämpfung unter Deutschlands Bürgern zu stagnieren. Es kann also nicht so weit her sein mit der Liebe der Deutschen zu ihren Freunden, Verwandten und Anverwandten. Besser also, man bemüht einen anderen Vergleich:

Da ist Musik drin

„Die Corona-App ist ein Rockstar.“ Dieser Meinung war auf selbiger Pressekonferenz, an der unter anderem auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) und Vertreter der Telekommunikationsbranche teilnahmen, Tim Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom. Da dessen Unternehmen für Entwicklung, Vertrieb und Nutzerfeedback der insgesamt gut 20 Millionen Euro teuren App zuständig ist und über die Unternehmenstochter T-Systems selbst gut 7,8 Millionen Euro mit der Entwicklung eingespielt hat, fiel Höttges Dreimonatsrückschau erwartungsgemäß positiv aus. Ein Rockstar also sei die App aus Sicht der Entwickler: „Wir haben mittlerweile genauso viele Follower wie die Rolling Stones.“

Da ist also noch Musik drin in dem neuen Tool, auch wenn der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen bereits Anfang Juni darauf hingewiesen hatte, dass in der Corona-Hochrisikogruppe der über 70-jährigen gut 36 Prozent kein Smartphone nutzten oder auch nur besäßen. Bliebe noch die Stellungnahme jener, denen die Errungenschaften eigentlich zum Segen gereichen sollten, die aber auf besagter Pressekonferenz gar nicht anwesend waren: die Amtsärzte in Deutschland und die Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern. 

Keine Unterstützung bei der Pandemie-Bekämpfung

Laut einer Meldung der Funke Mediengruppe scheint die App für diese Gruppe ein Flop zu sein. Ute Teichert jedenfalls, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Dienstes, äußerte gegenüber der Funke Mediengruppe erhebliche Zweifel am Nutzen der Corona-Warn-App bei der Pandemie-Bekämpfung. Da die in der App erfassten Daten nicht an die Gesundheitsämter weitergeleitet würden, sei die Anwendung in der jetzigen Form keine sonderliche Unterstützung bei der Bekämpfung von Corona-Ausbrüchen. Zudem sei es äußerst selten, dass sich ein App-Nutzer wegen eines entsprechenden Warnhinweises bei den Ämtern melde.

Das wiederum muss – Dorothee Bär sei es geklagt – am Ende nicht an fehlender Liebe liegen. Im Gegenteil: Manch ein Handy-Nutzer weiß dieser Tage gar nicht, wo er mit der ganzen Liebe hin soll. Während bundesweit die Zahl der positiven PCR-Tests aufgrund eines anwachsenden Epidemie-Geschehens oder schlicht aufgrund steigender Testungen wieder wächst, nehmen auch die Risikomeldungen auf den 18 Millionen Corona-Warn-Apps mit jedem Tag weiter zu.

Wie viele es derzeit genau sind, das kann aufgrund der dezentralen Datenverarbeitung niemand sagen. Ohnehin, die meisten Warnmeldungen scheinen nicht weiter ins Gewicht zu fallen. Sie beruhen auf Begegnungen mit Infizierten, die die Warn-App aufgrund einer zu kurzen Dauer von unter 15 Minuten oder dank eines hinreichenden Sicherheitsabstands von über 1,5 Metern mit einem geringen Risiko bewertet haben.

Grün ist nicht rot

Wie man als Nutzer auf derlei Meldungen reagieren soll, ob panisch oder abgestumpft? Auch Gesundheitsminister Jens Spahn scheint da etwas ratlos zu sein: Die App zeige grüne und rote Risikobegegnungen, erklärte er gestern gegenüber Medienvertretern. Wenn es also grün sei, dann sei es nicht rot. Alles klar? Auch im Bekanntenkreis des Ministers habe derlei Ungenauigkeit übrigens gelegentlich schon zu Verwirrung geführt. Im Notfall also: Händewaschen, Abstand halten und Mund-Nasen-Schutz vors Gesicht!

Warum dann also 20 Millionen Euro für eine App, deren Nutzen in der Praxis mehr als zweifelhaft ist und auf die nicht einmal alle Corona-Testlabors in Deutschland mit einer digitalen Schnittstelle zugreifen wollen oder können? Die Antwort auf diese Frage hat Jens Spahn bei der Pressekonferenz nicht gegeben. Vielleicht findet sie sich aber in einem Interview, das er vor zwei Jahren der FAZ gegeben hat: „Es muss cool werden, dabei zu sein, für Ärzte und Patienten.“

Gemeint hatte der digital-affine Gesundheitsminister damals übrigens nicht die die Corona-Warn-App, sondern die Elektronische Gesundheitskarte samt Telematikinfrastruktur und elektronischer Patientenakte. 2,2 Milliarden Euro habe nach Schätzungen des Bundes der Steuerzahler aus dem Jahr 2017 allein schon die Hardwareentwicklung für dieses immer noch nicht abgeschlossene Projekt gekostet. Da sind 20 Millionen Euro fürs "appen" doch nun wirklich ein echt cooler Liebesdienst.
 

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