Corona-Rebellen von rechts - Der antiautoritäre Staat

Angesichts der Corona-Rebellen von rechts, die auch 68er-Methoden kopieren, zeigt sich der eklatante Mangel an staatlicher Autorität. Denn der Staat, längst in den Händen der rotgrünen Erben von 68, weiß nicht, was er dieser Herausforderung entgegensetzen soll, außer einer Endlosschleife aus Infektionsschutzverordnungen und Impfappellen.

Von den 68ern gelernt: Demonstranten gegen Covid-Maßnahmen / dpa
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Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Wenn man mich tief in der Nacht aufwecken und fragen würde, was mir im Leben das Wichtigste sei, würde ich, ohne zu zögern, antworten: Freiheit. Innere und äußere Freiheit. Gewissens- und Bewegungsfreiheit. Autonomie. Selbstbestimmung. Unabhängigkeit. Danach kommt alles andere. Früher, in den wilden siebziger Jahren, hätte ich hinzugefügt: Ich bin Anarchist. Heute würde ich sagen: Ein Liberaler. Jemand, der grundsätzlich an die Selbstverantwortung jedes Einzelnen glaubt, an seine prinzipielle Fähigkeit zum eigenständigen Denken, zu Vernunft und Kompromiss. Es stimmt, die Pandemie, nicht zuletzt ein offenbar auf mehrere Jahre angelegter globaler Intelligenztest, den allzu viele nicht bestanden haben, hat mich an meinem Menschenbild zweifeln lassen.

Seit den römischen Sklavenaufständen, den deutschen Bauernkriegen und der antiautoritären Revolte von 1968 ist klar: Freiheit braucht auch Rebellion – gegen ungerechtfertigte Herrschaft. Die Freiheitskämpfe der Geschichte richteten sich fast ausnahmslos gegen reaktionäre Kräfte, ob Fürstenwillkür, Staatsmacht oder religiöse Autoritäten. Sie war stets „fortschrittlich“, seit der Französischen Revolution ausdrücklich „links“. Zumindest galt das bis vor einiger Zeit.

Antiautoritär, aber nicht links

1989, beim Fall der Berliner Mauer, richtete sich der Kampf um Freiheit allerdings gegen ein marodes sozialistisches System, in Frankreich und Italien entstanden schillernde Bewegungen, die sich antiautoritär gebärdeten, aber nicht links waren, sondern deutlich rechts der Mitte. Auch in der Schweiz und in Österreich ist das Monopol der Linken auf Protest und Rebellion längst gebrochen, und die ostdeutsche „Pegida“-Bewegung hat entscheidend zur Radikalisierung der AfD beigetragen.

Mehr denn je sind in diesen Tagen teils gewalttätige Demonstrationen gegen die Corona-Politik zum Kristallisationspunkt einer Revolte gegen den Staat geworden, die ähnlich militant ist wie zu Rudi Dutschkes Zeiten. Allerdings marschieren nun nicht mehr langhaarige Studenten und bekennende Maoisten durch die Straßen, sondern „Reichsbürger“, die für den „Tag X“ Munition horten, esoterische Heilpraktiker, schwäbische Hausfrauen mit Erleuchtungshintergrund, Anthroposophen der Rudolf-Steiner-Schule, antisemitische Verschwörungstheoretiker und krawalldurstige Knallchargen, die ihr individuelles Reflexionsvermögen schon für das Weltwissen halten, nicht zuletzt: Rechtsextremisten und Neonazis. Hier gilt der Anfangsverdacht einer „cultural appropriation“, der sonst von Antirassist*innen erhoben wird: die Aneignung linker Methoden für rechte Zwecke.

Steuerzahler auf den Barrikaden

Es ist offensichtlich, dass diese Revolte von rechts, die bis in einst linksalternative Milieus hineinragt, den liberalen Rechtsstaat auf dem falschen Fuß erwischt. Wie bei Geisterfahrern kommt ihm etwas aus einer Richtung entgegen, auf die er nicht gefasst war: Einst tugendhafte, rechts- und staatstreue Steuerzahler, die sonntags den Gottesdienst besuchten, gehen jetzt auf die Barrikaden.

Ein Teil dieses Milieus steckt bis zur Halskrause voller Verachtung für die Republik, für all das, was zu den historischen Errungenschaften von Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus gehört. Plötzlich sind sie Staatsfeinde, Rebellen gegen die eigene Regierung, die ihnen angeblich die Freiheit nehmen will, sie belügt und betrügt. Was 1968 die „Büttel des Kapitalismus“ waren, sind heute „Volksverräter“, Bill Gates und seine „Politiker-Marionetten“. Einer der erfolgreichsten Hetzer, der Antisemit Ken Jebsen, ruft gar zum Sturz der „illegalen Regierung“ auf.

Zur Ironie dieser Geschichte gehört, dass der von den antiautoritär gesinnten 68ern bekämpfte Staat nun weithin in ihrer Hand ist, jedenfalls in der Hand ihrer rotgrünen Erben, die unermüdlich gendern, Diversität fördern und das Klima retten. Eine Symbolfigur dieser historischen Dialektik ist die einstige Managerin der linksradikalen Kultband „Ton, Steine, Scherben“, Claudia Roth. Seit acht Jahren Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages mit Chauffeur und Dienstwagen, ist sie nun Kulturstaatsministerin.

Keine Macht für niemand

Die Verhältnisse haben sich gedreht. In gewisser Weise ist der Staat selbst antiautoritär geworden, progressiv und moralisch sensibel – neudeutsch „woke“. Aber dafür ist er auch ohne jene Autorität, die den neuen Antiautoritären etwas entgegenzusetzen hätte außer einer Endlosschleife aus Infektionsschutzverordnungen und Impfappellen. An „herrschaftsfreiem Diskurs“ (Jürgen Habermas) heute – den immergleichen Talkshows mit den immergleichen Gästen – herrscht wahrlich kein Mangel – aber an der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und auch gegen Widerstand durchzusetzen. „Nous sommes en guerre“ verkündete der französische Staatspräsident am 16. März 2020 seinen Bürgern in einer kriegerischen Rhetorik, die im grün-pazifistischen Deutschland undenkbar geworden ist.

Doch die Älteren erinnern sich: Es gab da mal einen sozialdemokratischen Bundeskanzler namens Helmut Schmidt, dessen größte innenpolitische Herausforderung die mörderische Terrorserie der RAF im „Deutschen Herbst“ 1977 war. Er traf die Entscheidung zur riskanten Stürmung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ und wäre bei einem Scheitern vom Amt zurückgetreten. Historische Vergleiche sind immer schief, aber es ist kein Zufall, dass zur gleichen Zeit Claudia Roths Lieblingsband „Ton, Steine, Scherben“ immer wieder ihren größten Hit zum Besten gab. Titel: „Keine Macht für niemand!“ Die Parole aus den guten alten Anarcho-Zeiten war erfolgreicher, als mancher damals zu hoffen wagte.

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