Corona-Politik und Grundgesetz - Vom Geist der Verfassung und vom Ungeist der Zeit

Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Recht auf körperliche Unversehrtheit: Diese und andere Grundrechte wurden von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes im Jahr 1949 als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden. Heute gilt als Querdenker, wer sie auch in Pandemiezeiten hochhält. Die Intention des Grundgesetzes wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes standen die Grundrechte keineswegs unter Pandemievorbehalt: Schlusssitzung des Parlamentarischen Rats am 23. Mai 1949 / dpa
Anzeige

Autoreninfo

René Schlott, geboren in Mühlhausen/Thüringen, ist Historiker und Publizist in Berlin.

So erreichen Sie René Schlott:

Anzeige

Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes hatte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung im Jahr 2019 die aufwendig gestaltete Website 70jahregrundgesetz.de freigeschaltet. Darauf erläutern Juristen, meist Lehrstuhlinhaber deutscher Universitäten, unter anderem die einzelnen Grundrechte in kurzen, 70 (!) Sekunden langen Videosequenzen. Zum „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ etwa führt eine Professorin aus: „Artikel 2 schützt zum einen, was wir sind, unseren Körper, unser Leben und unsere Freiheit. Deshalb dürfen wir nicht einfach ohne Grund verhaftet werden, und wir dürfen auch über medizinische Behandlungen selbst entscheiden.“ Und zu der in Artikel 8 garantierten Versammlungsfreiheit erläutert ein Professor: „Die Behörden haben die Pflicht, Veranstaltungen zu ermöglichen und zu schützen. Sie dürfen sie nur dann beschränken, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist.“

Die professoralen Statements sind erst drei Jahre alt und scheinen doch aus der Zeit gefallen. In beiden Videos werden Selbstverständlichkeiten ausgesprochen, auf die wir uns alle bis vor kurzer Zeit wahrscheinlich noch ohne längere Diskussion und ohne den Verdacht des Querdenkertums oder der Sympathie mit Rechtspopulisten hätten einigen können. Doch in diesen Zeiten flächendeckender, präventiver Demonstrationsverbote, die notfalls auch mit Polizeigewalt durchgesetzt werden, und in Zeiten anhaltender Forderungen nach einer allgemeinen, gegen jede Evidenz gerichteten Impfpflicht würden sie so mit Sicherheit nicht mehr formuliert werden. Der Zeitgeist ist längst über den Geist unserer Verfassung hinweggegangen.

Das Wort „Gesundheit“ kommt in der Verfassung nicht vor

Ähnlich wie in George Orwells Romandystopie „1984“, gerade jetzt in einer interessanten Hörspielfassung beim Deutschlandfunk kostenfrei abrufbar, wird schon etwas länger, aber derzeit besonders intensiv und mit Erfolg versucht, die Geschichte quasi umzuschreiben, Begriffe wie Freiheit und Solidarität umzucodieren, sie den Tageserfordernissen anzupassen und politischen Zielen unterzuordnen; konkreter: die Intention des Grundgesetzes in ihr Gegenteil zu verkehren und die ursprüngliche Verfassung der Freiheit in eine Verfassung der Sicherheit oder aktuell der Gesundheit umzuinterpretieren. Das Wort „Gesundheit“ etwa jedoch sucht man vergeblich im Text der Verfassung.

Wie ein Sperrriegel gegen jeden zeitgeistigen vulgärpandemischen Vereinnahmungsversuch gegenüber der Verfassung stehen dabei die insgesamt 14 gewichtigen grünen Bände der Reihe „Der Parlamentarische Rat 1948–1949“, die einen interessanten Einblick in die Diskussionen um die Entstehung des Grundgesetzes und in die Genese der einzelnen Artikel geben. Aus dem Wortlaut der dort abgedruckten Vorentwürfe, Akten und Gesprächsprotokolle geht etwa die ursprüngliche Intention der heute vieldiskutierten Grundrechte hervor.

Menschen allein sterben zu lassen, Besuchsverbote in Krankenhäusern und die Isolation von Menschen in Altenheimen, alles schreckliche Vorkommnisse, die nicht der jüngsten Vergangenheit angehören, sondern derzeit immer noch angeordnet werden, zum Beispiel sind keinesfalls mit der Intention von Artikel 1 vereinbar – auch nicht zum Zweck des Lebensschutzes. Der seinerzeit vielgescholtene Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verwies früh auf die Tatsache, dass der Lebensschutz keinen absoluten Verfassungsrang genießt, auch nicht in einer Pandemie, sondern alles der ganz am Beginn der Verfassung postulierten unantastbaren Würde des Menschen, die vom Staat stets zu achten und zu schützen ist, unterzuordnen sei.

Abwehrrechte gegen einen übermächtigen, übergriffigen Staat

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes entschieden sich ganz bewusst und abweichend von damals vorliegenden Verfassungsentwürfen, etwa einem bayerischen aus dem Jahr 1948, und entgegen der deutschen Verfassungstradition dafür, nicht den Staatsaufbau an den Anfang des Grundgesetzes zu stellen, sondern diesen erst auf die elementaren und in ihrem Wesensgehalt nicht antastbaren Menschen- und Bürgerrechte folgen zu lassen.

Aus der historischen Erfahrung heraus sollte das Individuum in der neu zu gründenden Republik gegenüber dem Staat immer den Vorrang haben und das Verhältnis Staat–Bürger zugunsten der Bürger definiert werden. Die in den Artikeln 1 bis 19 festgehaltenen Grundrechte wurden so vor allem als Abwehrrechte gegen einen übermächtigen, übergriffigen Staat formuliert. Immer wieder verweisen die Mitglieder des Parlamentarischen Rates in ihren Beratungen und Argumentationen auf die zum damaligen Zeitpunkt nur wenige Jahre zurückliegende historische Erfahrung des Nationalsozialismus, die insbesondere in die Formulierung des heute oft herangezogenen Artikel 2 eingeflossen ist.

Dem dort festgehaltenen „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ wurde ganz bewusst und in einer Mehrheitsentscheidung das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, also die allgemeine Handlungsfreiheit, vorangestellt, auch um eine entsprechende Priorisierung vorzunehmen. Und bei der Formulierung des „Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (zwischenzeitlich war bei den Beratungen einmal angedacht, hier auch das Wort „Sicherheit“ einzufügen, was aber wieder verworfen wurde) dachten die Mütter und Väter des Grundgesetzes keineswegs an eine Schutzverpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürgern, sondern ganz im Gegenteil mit Blick auf Euthanasie, Massenmord, Sterilisationen, Folter, medizinische Experimente in den Konzentrationslagern und die willkürliche Verhängung der Todesstrafe an ein Abwehrrecht der Menschen gegen einen Staat, der niemanden das Leben nehmen oder in dessen körperliche Integrität eingreifen darf, egal zu welchem Zweck.

Eine Impfpflicht etwa, die zuletzt vom zu einer einfachen Wortwahl neigenden „Wumms“-Kanzler mit dem banalen Hinweis auf den Wechsel der Jahreszeiten („dass wir nicht vergessen dürfen, dass es auch einen nächsten Herbst geben wird“) begründet wurde, ist mit der historischen Intention von Artikel 2 schlicht unvereinbar. Wäre eine diesbezügliche Einschränkung der verfassungsrechtlich garantierten „körperlichen Unversehrtheit“ von den Verfassungsmüttern und -vätern vorgesehen gewesen, dann hätten sie dies „zur Bekämpfung von Seuchengefahr“ wortwörtlich festgehalten. Diese Einschränkungsmöglichkeit findet sich jedoch nur in Artikel 13 Absatz 7, der Ausnahmen von der Unverletzlichkeit der Wohnung regelt, und in Artikel 11 Absatz 2, der Beschränkungen der garantierten Freizügigkeit im Bundesgebiet festhält. Alle anderen Grundrechte dürften vom Wortlaut der Verfassung her also nicht zur Pandemiebekämpfung eingeschränkt werden.

Das Grundgesetz sieht keine Erlaubnispflicht für Demonstrationen vor

Darunter auch Artikel 8, das Recht auf Versammlungsfreiheit. Während die (freilich nie in Kraft getretene, aber für die deutsche Verfassungsgeschichte wichtige) Paulskirchenverfassung von 1848 und die Weimarer Verfassung von 1919 noch ausdrücklich und wortwörtlich die Möglichkeit eines Verbotes von Demonstrationen festhielten, hat man 1949 nur noch die Möglichkeit einer Beschränkung dieses Rechts vorgesehen. Doch Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit gehen sieben Jahrzehnte nach der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht nur an dieser Stelle weit auseinander. Demonstrationen können inzwischen mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts, eigentlich Hüter der Verfassung, präventiv und pauschal sogar für einen bestimmten Zeitraum verboten werden. Auch hier ist aus dem Abwehrrecht des Bürgers, der eigentlich sowohl Zeitpunkt, Ort, Art und Inhalt seines Protestes selbstbestimmt festlegen kann, ein vom Staat und seinen Exekutivorganen gewährtes oder wegen Formalitäten verweigertes Recht geworden.

Dabei sieht das Grundgesetz ausdrücklich keine Anmelde- und Erlaubnispflichten des Bürgers vor, diese gehen auf das der Verfassung nachgeordnete Versammlungsgesetz zurück und dürfen allein dazu dienen (sonst wären sie nach allgemeiner Auffassung von Grundgesetzkommentaren nämlich verfassungwidrig), die zuständigen Behörden in die Lage zu versetzen, die Demonstration zu schützen und alle notwendigen Vorkehrungen zur ungestörten und sicheren Grundrechtsausübung der Bürger zu treffen.

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit kennt also keinen Erlaubnisvorbehalt und auch keine Gewissensprüfung. Demonstrieren dürfen alle: selbst Bürger, die für die Regierung auf die Straße gehen, um die vielfältigen Eindämmungsmaßnahmen gutzuheißen und etwa die FFP2-Maskenpflicht zu unterstützen; Bürger, die anderen Menschen in prekär bezahlten Berufen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung absprechen, oder auch Bürger, die ein Berufsverbot für nicht gegen das Coronavirus geimpfte Mitbürger fordern.

Wer Grundgesetz, Grundrechte oder gar Freiheit sagt, hat sich derzeit dafür zu rechtfertigen

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes gewährleisteten großzügig und selbstbewusst selbst den Gegnern der Verfassungsordnung, auf die Straße zu gehen, weil sie an die Überzeugungskraft der Demokratie glaubten. Sie konnten sich wohl kaum vorstellen, dass demokratisch gewählte Politiker sowie einige Medien die in Artikel 5 des Grundgesetzes festgehaltene, für eine Demokratie essentielle Pressefreiheit nutzen würden, um Bürger, die sich für das Gemeinwesen engagieren und an die Kraft der Veränderung durch den Protest auf der Straße glauben, zu diffamieren und zu beschimpfen, ja sie verächtlich zu machen und der Spaltung der Gesellschaft das Wort zu reden.

Sie konnten sich bei der Formulierung des in Artikel 3 festgehaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes wohl eben so wenig vorstellen, dass selbst nach den angekündigten sogenannten Lockerungen der Maßnahmen gesunden Bürgern die voraussetzungslose Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben verweigert werden würde. Und dass selbst nach zwei Jahren eine elementare Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit wie das verpflichtende und bußgeldbewehrte Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen für alle Menschen ab sechs Jahren im Land noch von Gerichten gebilligt werden würde, obwohl die Masken allenfalls noch symbolischen Charakter haben und jüngst selbst EU-Behörden an deren Nutzen für den Infektionsschutz zweifelten. Aber man erinnere sich an die Worte von Markus Söder, von der Maske als „Instrument der Freiheit“ (nicht der Pandemiebekämpfung!) und sein schon vor Monaten aufgestelltes Diktum, wonach die Maskenpflicht als letztes fallen dürfe, weil sie jeden Bürger eben auch sichtbar daran erinnere, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei.

Wie hat Carlo Schmid bei einer Rede im Parlamentarischen Rat den Geist des Grundgesetzes so treffend festgehalten: „Der Staat soll nicht alles tun können!“ Ob er dabei an die Maskenpflicht für Kinder ab sechs Jahren, Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen, die Sperrung von Spielplätzen, das Verbot von Gottesdiensten, die flächendeckende Schließung aller Kultureinrichtungen im Land, die Diskriminierung gesunder Menschen dachte? Die Liste ließe sich fortsetzen. Der Blick zurück lässt einen erschaudern, und der nach vorne stimmt wenig zuversichtlich. Denn die Geschichtsvergessenheit hat sich so rasch ausgebreitet wie das Virus. Wer derzeit öffentlich die Begriffe Grundgesetz, Grundrechte oder gar Freiheit in den Mund nimmt, hat sich seit nunmehr zwei Jahren dafür zu rechtfertigen. Ein gefährlicher, womöglich irreversibler Gewöhnungseffekt hat eingesetzt. Doch wie kann man dieser verhängnisvollen Entwicklung begegnen? Vielleicht durch einen Blick in die grünen Bände zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und durch ein größeres Bewusstsein für dessen eigentliche Intention. Dem eingangs erwähnten bayerischen Verfassungsentwurf etwa waren Worte von Augustinus vorangestellt: „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas.“ Im Zweifel für die Freiheit.

Anzeige