Epidemiologe Scholz zur neuen Corona-Variante - Wie gefährlich ist die Mutation?

Auch das noch. In Südengland wurde eine mutierte Corona-Variante entdeckt, die deutlich ansteckender sein soll. Der Epidemiologe Markus Scholz verrät im Interview, warum ihn diese Nachricht nicht beunruhigt und wie die Einreisestopps zu beurteilen sind.

Der Flugverkehr zwischen Großbritannien und Deutschland wird bis Ende Dezember gestoppt / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

So erreichen Sie Jakob Arnold:

Anzeige

Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie.

Herr Scholz, Sie haben bereits vor zwei Wochen mit uns gesprochen. Damals haben Sie die Corona-Lage mit Sorgen betrachtet. Wurden diese Sorgen jetzt mit der Nachricht über ein mutiertes Corona-Virus aus England bestärkt?

Höchstens leicht. Es ist tatsächlich so, dass sich dort eine Mutation entwickelt hat, die als kritisch eingestuft wird. Aber man muss sagen, dass Mutationen bei diesem Virus die Regel sind.

Das ist also nicht die erste Mutation des Virus?

Das Virus mutiert die ganze Zeit, wenn auch langsamer als zum Beispiel die Grippe-Viren. Es gibt ungefähr ein bis zwei Mutationen pro Monat.

Was ist an dieser so besonders?

Die Mutation, die jetzt entdeckt wurde, wurde mit größerer Sorge betrachtet, weil jetzt Proteine betroffen sind, die das Andocken des Virus beeinflussen. Es ist allerdings nicht klar, ob dadurch die Viren wesentlich besser eindringen können. Es liegen auch Daten vor, dass Infizierte mit der mutierten Version eine höhere Viruslast haben.

Was ist die Viruslast?

Es ist so, dass man das Virus regelmäßig sequenziert. Das heißt, dass man anhand von Proben die Erbinformation des Virus ausliest. Daran sieht man, wie sich das Virus verändert. Und dabei bestimmt man auch, wie viele Viren diejenigen tragen, die infiziert sind. Wie stark ein Patient also von dem Virus befallen ist. Das bezeichnet man als Viruslast.

Und bei der neuen Mutation ist diese Viruslast höher. Das würde darauf hinweisen, dass die Mutation jetzt aggressiver ist. Das ist aber nur ein Hinweis aus vorläufigen Daten. Ich sehe keinen Grund, deswegen in Panik zu geraten. Auch in den Sommermonaten war eine Virusvariante aus Spanien mit ähnlichen Hinweisen im Gespräch, was sich dann jedoch nicht bestätigt hat.

Außerdem soll die mutierte Version ansteckender sein. Von 70 Prozent ist häufig die Rede. Was genau heißt das?

Diese 70 Prozent stammen indirekt aus epidemiologischen Daten. Man vergleicht, wie sich verschiedene genetische Varianten des Virus ausbreiten. Und dabei kommt man zu der Einschätzung, dass sich diese Variante schneller ausgebreitet hat.

Das ist jedoch ein lokaler Ausbruch in Südengland. Die spezifische Dynamik dort vor Ort könnte die stärkere Ausbreitung auch nur vortäuschen. Diese Zahl ist also mit Vorsicht zu genießen. 

Weil Südengland ohnehin ein stärkerer Hotspot sein könnte?

Richtig. Es könnte durchaus an anderen Gründen liegen, dass die Zahlen dort explodieren. Es gibt Berichte, dass dort viele Weihnachts-Shopping-Events und ähnliches stattfanden. Die Zahlen lassen sich wegen lokaler Begebenheiten daher eventuell nicht verallgemeinern. Über die 70 Prozent wird viel berichtet, weil die natürlich schockieren, aber die Zahl ist wackelig. 

Wie sieht so eine epidemiologische Untersuchung zur Ansteckungshäufigkeit aus?

Markus Scholz / privat

Die Ansteckung misst man über die so genannte „Attack-Rate“. Die besagt, wie viel Prozent bei einem Risikokontakt der Kategorie 1 angesteckt werden. Das wäre beispielsweise bei einem Kontakt innerhalb eines Haushalts. Verschiedene Studien zeigen, dass dieser Wert bei Sars-Cov-2 bei circa 20 Prozent liegt. Also gar nicht so hoch. Dieses Virus wird in vielen Fällen gar nicht weitergegeben, aber in einigen an ganz viele. Man kann also sagen, dass sich das Virus im Wesentlichen über Superspreading verbreitet. 

Es hängt auch von der Phase ab, in der man gerade in der Infektion ist. Es ist nur ein relativ kleines Zeitfenster, in dem man wirklich sehr ansteckend ist und ansonsten ist die Hochinfektionsphase schnell vorbei, aber man weiß diesen Zeitpunkt nicht genau. Im Mittel kommt man auf diese 20 Prozent. Bei einer 70-Prozent-Erhöhung wären das dann 34 Prozent. Aber nochmal: Diese Zahl kommt nur aus indirekten epidemiologischen Daten. 

Ist es ein Zufall, dass die Mutation aus England kommt? Oder könnte sich das Virus bereits an die ersten Impfungen dort angepasst haben?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Durch die Impfung kann es schon einen Selektionsdruck auf das Virus geben. Aber so viel wurde auch in England noch nicht geimpft. Es ist auszuschließen, dass das etwas mit der Impfung zu tun hat. 

Es gelten jetzt Einreisestopps aus England. Bringen die aus epidemiologischer Sicht überhaupt etwas? Die mutierte Version kommt doch wahrscheinlich ohnehin aufs europäische Festland.

Man kann Deutschland gegen diese Virusvariante nicht abriegeln. Diese Einreisebeschränkungen verschaffen höchstens ein paar Wochen Zeit, um die Mutation mit biologischen Untersuchungen besser einschätzen zu können. Es ist auch schon berichtet worden, dass die mutierte Variante wohl in anderen Ländern wie Italien oder den Niederlanden aufgetreten ist. Deutschland lässt sich davon nicht dauerhaft isolieren.

Wie beurteilen Sie im Anbetracht dessen die Einreisestopps?

Es ist nur ein kurzer Zeitgewinn. Man kann die Entscheidung schon so treffen, um die mutierte Version so lange wie möglich gering zu halten. Auch innerhalb von England wird Südengland zu isolieren versucht. Das Vorgehen war bei der ersten Welle das gleiche. Auch damals wurde über Einreisebeschränkungen versucht, Sars-Cov-2 so lange wie möglich aus Deutschland herauszuhalten. Eine Weile hat es auch funktioniert, aber dauerhaft ist es bei dem Reiseverkehr nicht möglich.

Ist der bisherige Impfstoff gegen die mutierte Version eigentlich noch wirkungsvoll?

Man weiß ohnehin nicht genau, wie anhaltend der Impfstoff Schutz bietet. Das Problem ist, dass man das nur schwer testen kann. Man kann schließlich Geimpfte nicht absichtlich mit Sars-Cov-2 infizieren, um zu überprüfen, ob die Impfung noch wirkt. 

Ob die Impfung jetzt auf die neue Variante passt, ist deshalb auch nicht klar. Das ist ähnlich wie beim Grippeimpfstoff, der auch immer unterschiedlich gut wirkt. Ich bin aber überzeugt, dass der Impfstoff auch bei der mutierten Variante eine Wirkung hat.

Die mutierte Version soll sich genetisch stark unterscheiden.

In der Genomanalyse ist aufgefallen, dass die mutierte Version viele genetische Veränderungen aufweist. Es sind auch Gene betroffen, die die Immunwirkung der Impfung beeinflussen können, aber ich gehe davon aus, dass der Impfstoff dann nur leicht modifiziert werden muss. Wenn man einmal die Zielstruktur des Impfstoffes hat, kann man den auch schnell auf neue Varianten adaptieren. 

Wie lange dauert so eine Adaption?

Das ist wesentlich einfacher, als die Impftechnologie selbst zu etablieren. Das wird viel schneller gehen als bei der Erstentwicklung. Ich kann mir vorstellen, dass für Sars-Cov-2 wie bei der Grippe regelmäßig Impfungen notwendig sein werden. Sodass man jährlich neue Impfstoffe gegen neue Varianten hat. Für die Impfung ist die Mutation also nicht weiter kritisch. So wie das Virus mutiert, kann voraussichtlich auch der Impfstoff modifiziert werden. 

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

Anzeige