Corona-Lockerungen - Ramelow beendet in Thüringen den Angstzustand

Der thüringische Ministerpräsident will ab 6. Juni auf Ge- statt auf Verbote setzen. Das wütende Geschnaube seiner Amtskollegen kann Bodo Ramelow geflissentlich ignorieren. Er trägt die Verantwortung für die Lage in seinem Bundesland.

Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, vor einer Sitzung des Landtags im Mai / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Man sei „schockiert“, es sei ein „hochgefährliches Experiment für alle Menschen in diesem Land“, was der Ministerpräsident des Nachbarlands Thüringen da vorhabe, tönte der Leiter der bayerischen Staatskanzlei Florian Herrmann stellvertretend für seinen Chef Markus Söder am Sonntag im Bayerischen Rundfunk. Was war geschehen?

Bodo Ramelow, seit 2014 Ministerpräsident von Thüringen, hat am Samstag angekündigt, ab 6. Juni die bisher staatlich erlassenen Corona-Verbote in Gebote umzuwandeln. Um es kurz zu machen: Angesichts stabil sehr niedriger Ansteckungszahlen will Ramelow den schwedischen Weg gehen und es weitgehend den Landkreisen und Städten überlassen, welche Regelungen sie erlassen. In dem skandinavischen Land galten seit Beginn der Corona-Krise vor allem Gebote: Wer kann, arbeitet von zu Hause aus, wer sich krank fühlt, soll zu Hause bleiben. Gleichzeitig gelten für Gaststätten und Bars Distanzregeln, die auch weitgehend eingehalten werden. Warum sollte das nicht auch in Thüringen funktionieren?

Ein bisschen Schweden

Ramelow erläuterte später, die bisher geltenden Regeln seien erlassen worden, weil man im März davon ausgegangen sei, dass es allein in Thüringen bis zu 60.000 schwerste Corona-Fälle geben könnte. Dieses Worst-Case-Szenario ist aber bei weitem nicht eingetreten: In dem Bundesland mit seinen gut zwei Millionen Einwohnern haben sich seit Beginn der Pandemie 2871 Menschen infiziert, 152 Menschen sind verstorben, die täglichen Neuinfektionen liegen seit Wochen durchschnittlich zwischen 20 und 30, das Land ist frei von lokalen „Hotspots“. In der Hälfte der Landkreise, so erklärte Ramelow, gebe es seit drei Wochen überhaupt keine Infektionen mehr.

Ramelow erntete heftige Kritik für seine Pläne, vom saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans bis zum baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl, nicht zu vergessen: Auch der sozialdemokratische Corona-Obermahner Karl Lauterbach wurde seiner selbstgewählten Rolle gerecht. Nur aus Sachsen, das bisher sehr strikt in der Anwendung der Corona-Einschränkungen war, ist zu vernehmen, dass man sich dem Thüringer „Paradigmenwechsel“ nach dem 5. Juni anschließen könnte.

Kein Laissez-faire in Erfurt

Das Getöse der politischen Konkurrenz braucht Ramelow nicht zu kümmern. Auf seiner Webseite konkretisierte er später noch einmal, was genau er vorhat. Was er morgen seinem Kabinett vorschlagen wird, ist kein bedenkenloses Laissez-faire, wie es Donald Trump oder der Brasilianer Bolsonaro praktiziert haben. So soll etwa die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr erhalten bleiben. Auch werden die Landkreise dazu aufgefordert, bei einem Ansteigen der Neuinfektionen über den Grenzwert von 35 pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen wieder strengere Auflagen zu erlassen. Die allgemeine Öffnung der Kitas und Schulen soll flankiert werden von ausreichenden Möglichkeiten für Lehrer und Erzieher, sich auch bei leichten Beschwerden testen zu lassen. Ansonsten appelliert Ramelow an den gesunden Menschenverstand der Thüringer. Ob Ramelow auch die Distanzregelungen in der Gastronomie kippt, wird sich morgen zeigen - damit würde Thüringen sogar weiter gehen als Schweden.

Aber womöglich ist Ramelows Plan in seiner Gesamtheit ein Weg, der gerade in einem Land wie Thüringen funktioniert: Das Land ist recht dünn besiedelt, selbst die Hauptstadt Erfurt vermittelt trotz ihrer 200.000 Einwohner Kleinstadtfeeling. Es gibt hier keine zu Stoßzeiten aus allen Nähten platzenden U-Bahnen, stattdessen rattern die Trams gemütlich durch die Erfurter Altstadt.

Ramelow gibt den Menschen die ersehnte Normalität zurück

Ramelow schaltet vom Krisenmodus in den Normalitätsmodus und verschiebt die Kompetenzen wieder dorthin, wo sie grundsätzlich hingehören: in die Landkreise. Damit gibt er seinen Bürgern, insbesondere denen mit Kindern, ein Stück dessen zurück, wonach sie sich sehnen: Normalität. Dass er dafür aus den im Thüringer Landtag vertretenen Parteien im schlechtesten Fall mürrische Zustimmung erhält, zeigt, wie richtig er damit liegt. Einzig in der B-Note bekommt er Abzug: In selbstherrlicher Art hatte er seine Lockerungspläne in einem Interview am Samstag angekündigt, ohne seine grünen und roten Koalitionspartner vorher zu warnen.

Dass die lauteste Kritik an Ramelow aus Bayern kommt, hat übrigens Gründe: Wegen der Nähe zu Österreich, aber auch aufgrund der zu spät erlassenen Verbote, etwa von Starkbierfesten, lagen im April in Deutschland acht der zehn am stärksten von Corona-Infektionen betroffenen Landkreise in Bayern. Die Zahl der Corona-Toten pro 100.000 Einwohnern liegt in Bayern mehr als doppelt so hoch wie im Nachbarland Thüringen. Ministerpräsident Markus Söder machte sich als größter Einschränker unter allen Ministerpräsidenten bundesweit einen Namen und konnte die Konkurrenz aus der Lockerungsabteilung lange Zeit mit gutem Grund des Leichtsinns bezichtigen. In dieser Rolle ist Söder über die vergangenen Wochen bundesweit populär geworden: Sein Tun wirkte stets progressiv. Nun - das zeigt die Reaktion auf Ramelow - fällt es ihm schwer, wieder aus dieser Rolle herauszukommen.

Anzeige