Corona-Lockerungen an Weihnachten - Wunder gibt es immer wieder

Über die Feiertage sollen die Corona-Restriktionen gelockert werden. Darauf haben sich die Länderchefs geeinigt. Das mag viele Familien freuen, doch das Ergebnis dürfte ein harter Lockdown im neuen Jahr sein. So irrlichtert die Politik durch die Pandemie und zerstört mit ihrem Populismus dringend benötigtes Vertrauen.

An diesem Montag wurde vor dem Brandenburger Tor in Berlin der Weihnachtsbaum aufgestellt / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der Wunder, und warum sollte am Heiligen Fest deshalb nicht auch das Corona-Virus mal eine Pause einlegen?

Dieser Grundgedanke jedenfalls scheint jener Beschlussvorlage zugrunde zu liegen, auf die sich jetzt die Ministerpräsidenten der Länder vor ihrer morgigen Pandemie-Runde mit der Bundeskanzlerin geeinigt haben: In der Zeit vom 23. Dezember bis zum 1. Januar werden demnach einheitliche Kontaktregeln gelten, die Treffen von bis zu zehn Personen auch aus unterschiedlichen Haushalten zulassen; Kinder bis 14 Jahre sind davon sogar ausgenommen.

Damit sich aber bloß niemand zu früh freut und angesichts bevorstehender weihnachtlicher Lockerungen gar auf die Idee kommt, womöglich schon während der Adventszeit in größerer Runde zu feiern, sollen vom 1. Dezember an jedoch erst einmal weitere Restriktionen in Kraft treten. Private Zusammenkünfte wären demnach von nächstem Dienstag an nur noch zwischen Angehörigen zweier Haushalte und maximal fünf Personen erlaubt.

Zweifel an der Stringenz

Man muss kein Epidemiologe sein, um bei diesem Fahrplan gewisse Zweifel an Stringenz und Sinnhaftigkeit der Eindämmungsstrategie zu bekommen. Denn sie orientiert sich offenbar am Motto: Luft anhalten, und dann ist in ein paar Wochen alles gut. Was bestenfalls Kinderglauben ist – und im Übrigen auch allem widerspricht, was der Bevölkerung von der Politik und von großen Teilen der Wissenschaft über das sogenannte Infektionsgeschehen bisher erzählt wurde.

Tatsächlich kann nicht der allergeringste Zweifel daran bestehen, dass ohne bevorstehendes Weihnachtsfest an Lockerungen nicht zu denken gewesen wäre. Wenn also der bisherige Weg sinnvoll gewesen sein soll (wofür es einige gute Argumente gibt), warum soll dann an Weihnachten plötzlich etwas anderes gelten? Aus Sentimentalität? Damit war es mit Blick auf Lockdown-bedingte Verwerfungen sozialer und wirtschaftlicher Art weiland jedenfalls nicht weit her. Aber wie gesagt: In der wundersamen Weihnachtszeit gelten eben andere Maßstäbe.

Der Münchener Epidemiologe Ulrich Mansmann hält die jetzt vereinbarten Feiertagsregeln denn auch für außerordentlich kontraproduktiv: „Das bringt extrem viel Unruhe und ist nicht sinnvoll“, sagte der Direktor des Instituts für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) an der Ludwig-Maximilians-Universität gegenüber Cicero. Da werde nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Woche alles zunichte gemacht, was man sich mit dem vorangegangenen „Lockdown light“ teuer erkauft habe. „Es wird an Weihnachten eine große Reiseaktivität entstehen, und das Virus wird dann nochmal über das ganze Land hin und her verteilt.“ Die daraus erwachsenden Gefahren seien mit Blick auf das Infektionsgeschehen vergleichbar mit den Vorgängen in österreichischen Wintersportgebieten im Februar dieses Jahres.

Grotesker Paternalismus

Dass über die Feiertage hinweg Kontaktbeschränkungen weitgehend ausgesetzt werden, mag zwar dem Wunsch vieler Familien entsprechen, aber es handelt sich ganz klar um gesundheitspolitischen Populismus. Denn sollte es hinterher zu erneuten Restriktionen kommen (und es ist durchaus damit zu rechnen, dass diese dann sogar noch härter ausfallen als bisher), wäre den Familien ein kolossaler Bärendienst erwiesen worden: Wer trägt eigentlich die Last, wenn Schulen geschlossen, Freizeitaktivitäten unterbunden werden und sportliche Betätigung kaum noch möglich ist? Es sind exakt jene Kinder, Mütter, Väter, denen jetzt die Vorfreude auf Weihnachten und Silvester nicht genommen werden soll, damit sich der wachsende Unmut gegenüber der erratischen Corona-Politik nicht noch weiter aufstaut. Ein grotesker, in sich widersprüchlicher Paternalismus manifestiert sich da.

Denn wenn man beim Kampf gegen die Pandemie schon eine Marschrichtung vorgibt, dann ist es das mindeste, nicht plötzlich eine Woche lang ganz anderswohin zu laufen. Für solche Ab-, Um- oder Irrwege ist der bisherige Einsatz nämlich viel zu hoch gewesen – den übrigens nicht nur Familien gezahlt haben (und noch zahlen werden). Sondern alle, die wirtschaftliche Einbußen, Stress, Verängstigung und noch vieles mehr zu erleiden hatten. Da wirkt der Verweis auf einen christlichen Feiertag doch seltsam deplatziert. Zumal ansonsten ja gerade vonseiten der Politik gar nicht oft genug darauf hingewiesen werden kann, dass eine entsprechende Leitkultur in diesem Land ohnehin nicht existiert. Aber wie gesagt: Das übliche Mantra „Follow the science“ hat an Weihnachten Sendepause – um hinterher wieder mit aller Härte vorgetragen zu werden.

Keine Impf-Strategie

Mit welcher Inkonsequenz politische Entscheidungsträger in der Coronakrise unterwegs sind, zeigt sich auch im neunten Krisenmonat in fast allen Bereichen. Beispiel Impfkampagne: Dass inzwischen Vakzine entwickelt wurden, ist zweifellos ein Erfolg für die Wissenschaft. Was nichts daran ändert, dass trotzdem noch viel Unmut auf unsere Gesellschaft zukommt. Denn das allermeiste ist nach wie vor völlig ungeklärt. So wird es zum Beispiel eine zeitliche Überlappung geben, während der die Geimpften zu ihrem gewohnten Leben zurückkehren wollen und gleichzeitig der andere Teil der Bevölkerung noch unter dem restriktiven Corona-Regime steht. „Diese Spannung ein ganzes Jahr lang auszuhalten, das wird nicht einfach“, sagt auch der Epidemiologe Mansmann. Ganz davon abgesehen: Was soll eigentlich passieren, wenn bei den weitgehend unerprobten Impfstoffen plötzlich unerwünschte Nebenwirkungen auftreten? Eine diesbezügliche Strategie ist bisher nicht erkennbar.

Ähnliches Irrlichtern herrscht hinsichtlich des Schulunterrichts. Wechselunterricht und eine Kohortierung der Schüler in dem Sinne, dass sie als Gruppen wirklich getrennt werden, sind aus epidemiologischer Warte heraus zwar sinnvolle Maßnahmen, aber fast überall fehlt es an der dafür notwendigen Vorbereitung. Fest steht, dass Schulen sich bisher nicht als Corona-Hotspots erwiesen haben; auch mangelt es an Belegen dafür, dass einzelne infizierte Kinder wie „Superspreader“ etliche ihrer Klassenkameraden anstecken. Ulrich Mansmann konstatiert deshalb nüchtern: „Es ist überreagiert, die ganze Klasse in Quarantäne zu schicken, wenn ein einzelnes Kind positiv auf Corona getestet wurde.“ Auf diesem Feld scheint Symbolpolitik jedenfalls den Vorrang zu haben vor Pragmatismus.

Einschnitte das ganze Jahr

Mehr um Symbolik als um Evidenz geht es schließlich auch beim hochemotionalen Thema Maskenpflicht. Während etwa die Krankenhaushygienikerin Ines Kappstein in einem Fachaufsatz zu dem Ergebnis kommt, dass das Tragen von Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit praktisch keine Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen hat, kommt die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie zu dem Ergebnis, dass das Tragen von Masken zumindest innerhalb von geschlossenen Räumen einen schützenden Effekt haben kann. Unter freiem Himmel ist das jedoch (bei Einhaltung von Mindestabständen) nach Ansicht der Pneumologen nicht der Fall. Trotzdem herrscht in Deutschland inzwischen vielerorts auch draußen eine Maskenpflicht. Vor dem Hintergrund gelockerter Kontaktbeschränkungen über Weihnachten wirkt das reichlich absurd.

„Ich rechne damit, dass wir bis Ende nächsten Jahres wegen Corona noch gewaltige Einschnitte erleben müssen“, so die Prognose des Münchener Epidemiologen Ulrich Mansmann. Warum ausgerechnet in der Woche zwischen Heiligabend und Neujahr plötzlich andere Maßstäbe gelten sollen, bleibt da ein Rätsel. Außer eben man glaubt an Wunder.

Anzeige