Verschärfte Debatte über verpflichtende Corona-Impfung - „Eine flächendeckende Impfpflicht darf es nicht geben“

Immer mehr Politiker fordern Einschränkungen für Impfverweigerer – von Urlaubsreisen bis hin zu Restaurantbesuchen. Kommt die Impfpflicht also schon bald durch die Hintertür? Der Infektiologe und FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann über den Sinn und die Gefahren der aktuellen Entwicklung.

Ein Mann während einer Kundgebung gegen die Coronamaßnahmen / dpa
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Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Prof. Dr. Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie, Bundestagsabgeordneter der FDP und stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses Globale Gesundheit im Bundestag.

Herr Ullmann, im März vergangenen Jahres wurde eine Impfpflicht noch ausgeschlossen, die Argumentation aber hat sich in letzter Zeit verändert. Kommt eine deutschlandweite Impfpflicht?

Eine flächendeckende Impfpflicht darf es nicht geben. Das wäre der falsche Weg. Zumal der Staat es immer noch nicht hinbekommen hat, das Impfangebot auf niedrigschwelligster Form anzubieten. Die Impfkampagne muss vor die Supermärkte, sie muss in die Innenstädte und auf die Dörfer auf dem Land. Sie muss flexibel sein und sich auf die Menschen einlassen, die impfwillig sind, aber es noch nicht geschafft haben, sich impfen zu lassen. Freiheitseinschränkungen, Ängste und Verbote sind immer der einfachste Weg für Regierende, aber kontraproduktiv.

Also eine Impfpflicht für niemanden?

Bei bestimmten Berufsgruppen muss man differenzierter argumentieren. Hier würde ich ebenfalls keine Impfpflicht aussprechen. Dennoch muss man prüfen, ob und wie beispielsweise ungeimpfte Personen auf Hochrisikostationen im Krankenhaus, etwa Patienten nach Stammzelltransplantation, arbeiten dürfen. Ich denke, dass der beste Weg ausführliche und vorurteilsfreie Aufklärung ist. Die Menschen müssen unbedingt auch in ihren Ängsten und Sorgen ernst genommen werden. Auf jeden Fall muss aber der Schutz aller besonders vulnerablen Gruppen sichergestellt bleiben.

Die derzeitigen Diskussionen über Lockerungen für Geimpfte und das Bezahlen des eigenen Antigen-Tests sprechen doch aber eine andere Sprache und wirken so, als käme eine Impfpflicht zumindest durch die Hintertür ...

Die Regelungen während der Pandemie werden sich weiter ändern. Derzeit gilt die 3G-Regel. Man muss für viele Bereiche geimpft, genesen oder negativ getestet sein. Die Kosten der Tests werden übernommen. Das sollte auch weiterhin Bestand haben. Es kann ja nicht in unserem Sinne sein, viele ungetestete Superspreader im Land zu haben. Die Pandemie wird sich aber weiter verändern. Irgendwann werden diese Massen an Tests nicht mehr notwendig sein. Dann hat sich das Problem entweder von selbst gelöst, oder man kann dann über einen Eigenanteil diskutieren. Jetzt ist aber der falsche Zeitpunkt. Ungeimpfte mit besonderen Restriktionen zu bestrafen, wäre der falsche Weg. Denn neben Impfskeptikern gibt es Menschen, die aus einer medizinischen Indikation heraus sich nicht impfen lassen können.

Warum ist eine Durchimpfung der Bevölkerung so erstrebenswert, dass man bereit ist, dafür härtere Maßnahmen zu ergreifen?

Wir erleben eine gewissen Engstirnigkeit aus den Reihen der Union. Zunächst hat man sich nur auf den Verlauf der Inzidenzkurve konzentriert. Nun konzentriert man sich auf die Kurve der Impfungen. In den vergangenen Tagen ist diese Kurve abgeflacht. Deutschland wurde in der Impfquote von Staaten wie Italien und Spanien überholt. Das nervt die Bundesregierung natürlich. Aber anstatt über Zwänge und Pflichten zu reden, sollte die Bundesregierung schauen, warum sich bestimmte Menschen bisher noch nicht haben impfen lassen. Dann muss ein niedrigschwelliges und flexibles Impfangebot mit entsprechender Aufklärung gemacht werden.

Stellt eine Impfpflicht nicht einen Eingriff in das Recht der körperlichen Unversehrtheit dar?

Das kann ich nur schwer beurteilen, weil ich kein Jurist bin. Allerdings gab und gibt es auch in Deutschland Impfpflichten, die nicht vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurden. Eine Impfpflicht gegen Covid-19 passt allerdings nicht in mein politisches Leitbild. Es ist die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass jeder Erkrankte eine Behandlung erhält, und das ist nur möglich, indem wir das Gesundheitssystem nicht überfordern. Zudem halte ich es auch für eine Aufgabe des Staates, niedrigschwellig den Menschen ein Impfangebot zu unterbreiten.  

Führen wir derzeit die falsche Diskussion? Wäre es nicht besser, über den Prozentteil zu sprechen, der prinzipiell bereit zur Impfung ist, aber eben noch Hindernisse sieht? Würde es da nicht reichen, dass diese Menschen sich alle impfen?

Das stimmt. Die fünf Prozent der radikalen Impfverweigerer erreichen wir nicht, weder durch Vernunft noch Zwang. Wir müssen ein flächendeckendes und niedrigschwelliges Impfangebot auf die Beine stellen. Nicht jeder hat einen Hausarzt, und nicht jeder hat die Zeit, um in langen Warteschleifen zu sitzen. Wir müssen raus auf die Straße. Die Politik muss dafür sorgen, dass Impfangebote in der Fußgängerzone oder auf Marktplätze genauso sichtbar sind wie die Wahlkampfstände der Parteien.

Andrew Ullmann / privat

Ein beliebtes Argument für eine Impfpflicht ist auch jenes, dass das Nicht-Impfen noch viel größere Einschränkungen im Herbst für viel mehr Menschen erzeugen wird. Hebelt dieses Argument aber nicht gerade eine Errungenschaft unserer liberalen Gesellschaft aus, in der eben die Rechte des Individuums nicht einfach so schnell für das Wohl der größeren Gesellschaft preisgegeben werden?

Wir dürfen uns nicht an Lockdowns und Freiheitseinschränkungen gewöhnen. In meinen Jahren im Deutschen Bundestag habe ich leidvoll mit ansehen müssen, wie die Union Ausnahmeregelungen für das Regierungshandeln als selbstverständlich ansieht und einfach weiter bestehen lässt. In der nächsten Bundesregierung bedarf es einer Partei der Freiheit. Eine Partei, die die Werte der freiheitlich liberalen Grundordnung in der Bundesregierung handfest verteidigt.

Die derzeitigen Diskussionen können selbst ohne Umsetzung Impfmuffel aufschrecken und Impfverweigerer in Erklärungsnot bringen. Sind das aber effektive Instrumente, um aufgeklärte Bürger bei der Impfentscheidung zu unterstützen?

Natürlich haben autoritäre Mittel eine gewisse Wirksamkeit. Aber meistens ist die Halbwertszeit kurz und der angerichtete Schaden enorm. Daher plädiere ich für das nachhaltigere Modell: Aufklärung und niedrigschwellig Impfen. Damit schützen wir unsere liberale Gesellschaft und viele Menschenleben.

Wie wird es jenen Menschen ergehen, die sich auch im Herbst nicht impfen lassen wollen? Mit welchen Konsequenzen ist da zu rechnen?

Sie werden ein nahezu unkalkulierbares Risiko für sich und die Gesellschaft eingehen. Nach und nach werden sich alle anstecken, das ist klar. Daher kann ich nur dafür werben, sich impfen zu lassen. Ich selber und meine Familie, wir sind vollständig geimpft und ich habe ein großes Vertrauen in die Impfstoffe, weil diese sicher sind und der Nutzen das Risiko bei Weitem überwiegt. Im Herbst wird es wichtig, dass wir die vulnerablen Gruppen ausreichend schützen. Auch doppelte Impfungen schützen wahrscheinlich nicht zu 100 Prozent vor einem schweren Krankheitsverlauf. Die Hygieneregeln werden auch weiterhin Bestand haben. Wir wollen schließlich die Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden. Und zwar ohne Lockdown.

Wie beurteilen Sie den erhöhten Druck auf Impfskeptiker? Zum einen sind Sie ja Wissenschaftler und Infektiologe, zum anderen Abgeordneter einer Partei, die Liberalität gern als ihr Markenzeichen sieht. Welcher Teil von Ihnen hat da die besseren Argumente?

Wir müssen da differenzieren. Es gibt jene, die sich prinzipiell nicht impfen lassen wollen und werden. Das sind vielleicht fünf Prozent. Und es gibt jene, die Zweifel haben. Zweifel kann man durch gute Argumente und Aufklärung entkräften. Das ist eine Aufgabe der politischen und wissenschaftlichen Kommunikation, der die Bundesregierung einfach unzureichend nachkommt. Nimmt man nur die Sachargumente, dann ist die Sache so, dass nahezu jedes Individuum aus Gründen der Vernunft sich impfen lassen sollte. Wir stehen als Liberale ja auch in der Tradition der Vernunft. Ganz logisch heißt dann also Eigenverantwortung, dass jeder, bei dem es keine medizinische Kontraindikation gibt, sich impfen lassen sollte. Ich sehe da keine Widersprüche.  

Würde eine offenere Debatte, die auch mehr Kritik an Impfungen zulässt, vielleicht mehr Menschen überzeugen? Durch die allgemeine Moralisierung des Themas werden viele doch nur skeptischer ...

Meines Erachtens wird sehr wohl kritisch diskutiert. Aber von Seiten der Regierung kommt mir da zu wenig. Wir haben mit der Stiko eine hervorragende unabhängige Institution. Sie entscheidet nicht nach den Wünschen der Politik. Und das ist gut so. Ich bin beispielsweise bei der Impfempfehlung für Kinder ab zwölf Jahren aus wissenschaftlicher Sicht anderer Ansicht als die Stiko. Aus meiner Sicht spricht die jetzige Datenlage dafür, eine Impfempfehlung auszusprechen. Dennoch begrüße ich, dass die Stiko sich keinem politischen Druck beugt. Das ist gut für unsere Diskussionskultur.  

Unterschätzt die deutsche Politik mit einer Impfpflicht nicht das Verantwortungsbewusstsein ihrer Staatsbürger?

Die Union und die Grünen sehen die Bürger gerne als Kinder, um die man sich kümmern muss. Sie haben wenig Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit. Das ist aus meiner Sicht der falsche Ansatz. Wir müssen wieder Vertrauen in die Eigenverantwortung der Bürger bringen und auch die Kompetenzen der Menschen gerade im Gesundheitsbereich stärken. Ich spreche mich seit langem dafür aus, verstärkt die Vermittlung von Gesundheitskompetenz schon in der Schule weiter zu fördern. Mehr Bildung ist immer der beste und nachhaltigste Weg.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu.

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