Corona-Gipfel der Bundeskanzlerin - Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Derzeit beraten die Ministerpräsidenten der Länder und Angela Merkel wieder einmal das weitere Vorgehen in Sachen Corona. Diese Veranstaltungen sind inzwischen zum Symbol dafür geworden, wie kläglich die Regierungen angesichts der Krise versagen. Deutschland versinkt in Ambitionslosigkeit und Mittelmaß.

Angela Merkel bei der heutigen Ministerpräsidentenkonferenz / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Ein ganzes Jahr lang quält sich dieses Land inzwischen durch die Pandemie – und zwar mit einer staatlichen Inkompetenz, die wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte. Zu Beginn der Corona-Krise konnte in der Tat niemand erwarten, dass die politisch Verantwortlichen spontan einen stringenten Weg aus der Malaise aufzeigen. Ganz einfach, weil damals noch zu wenig über jenes Virus bekannt war, das in den vergangenen zwölf Monaten jedes andere Problem in den Schatten gestellt hat (obwohl letztere keineswegs weniger geworden sind).

Aber die Wissenschaft, hinter der sich die Politik gern verschanzt, um eigenes Handeln als alternativlos darzustellen, hat längst geliefert. Unsere staatlichen Institutionen hingegen desavouieren sich selbst mit jedem Tag ein bisschen mehr: Wenn Impfstoffe trotz Produktionsengpässen zwar vorhanden sind, aber nicht verabreicht werden, weil weiterhin über Priorisierung gestritten wird, dann gibt es da nichts mehr schönzureden. Und so weiter und so fort, die Negativbeispiele nehmen kein Ende.

Wenn schließlich der Bundesgesundheitsminister auch noch mit großer Geste Corona-Schnelltests ankündigt, um ein paar Tage später von der Kanzlerin zurückgepfiffen zu werden, dann ist das Vertrauen in deutsche Regierungsarbeit schlichtweg erschöpft. Das alles hat übrigens nichts mit wohlfeiler Nörgelei zu tun und erst recht nichts mit Defätismus. Es ist nur ganz einfach so: Die Liste an Versäumnissen ist endgültig zu lang geworden.

Dieses Versagen spiegelte sich einmal mehr im Vorgeplänkel auf die in diesen Stunden stattfindende Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin: eine Runde, für die sich der Name „Corona-Gipfel“ eingebürgert hat, obwohl die Beteiligten dort von Mal zu Mal einen neuen Tiefpunkt erreichen. Das unbedachte Bekenntnis von Thüringens Regierungschef Ramelow, er vertreibe sich bei solchen Veranstaltungen die Zeit auch schon mal mit dem Computerspiel „Candy Crush“, mag man noch als bizarre Anekdote abtun. Aber was dort beschlossen wurde und wird, ist kein Anlass für Heiterkeit, weil damit die Axt gelegt wird an bestehenden und künftigen Wohlstand. Weil einer ganzen Generation junger Menschen der Bildungsnotstand verordnet und die Zukunft verbaut wird. Weil Existenzen ruiniert und Familien an den Rand des Wahnsinns getrieben werden.

Tappen im Dunkeln

Doch das alles sind ja offenbar vernachlässigbare Kollateralschäden, Nebeneffekte eines mit einer nachgerade besessenen Inbrunst betriebenen Inzidenzwert-Fetischismus. Denn an irgendeiner Zahl muss man sich ja schließlich festhalten, wenn doch schon die Behörden nicht willens oder in der Lage sind, nachvollziehbare und transparente Auswertungen des gesamten Infektionsgeschehens abzuliefern. So herrscht weiterhin das große Tappen im Dunkeln, wird weiterhin an komplett bornierten Lockdown-Maßnahmen festgehalten, die in keinem schlüssigen Gesamtzusammenhang stehen.

Inzwischen erinnern die Candy-Crush-Happenings eher an Erich Honeckers Diktum zum 40. Jahrestag der DDR: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Oder an die behavioristischen Irrwege der „sunk cost fallacy“ nach dem Motto: Die bisher verursachten Kosten waren einfach zu hoch, um jetzt noch den geordneten Rückzug anzutreten.

Ein bisschen Umkehr, darum wird es beim heutigen „Corona-Gipfel“ zwar gehen. Aber von Ordnung, von Strategie, von einer auch nur irgendwie durchdachten Marschrichtung kann dabei keine Rede sein. Vielmehr sehen sich die Regierungschefs der Länder einfach nur dazu gezwungen, dem Volk das Gefühl zu vermitteln: Es tut sich doch ein bisschen was, jetzt bloß nicht aufmucken!

Wenn nach dem systemrelevanten Friseurbesuch jetzt auch der eine oder andere Baumarkt wieder geöffnet hat und hier oder da mal wieder Wechselunterricht stattfindet – dann soll das wohl als echtes Zukunftsversprechen verstanden werden. Und bis April steht dann sicherlich auch die staatlich durchdachte Schnelltest-Gesamtstrategie, welche sich harmonisch einbettet in die kanzleramtliche Impf-Logistik mit einem „Impf-Angebot“ bis spätestens Frühherbst. Rom ist ja auch nicht an einem Tag erbaut worden!

Dinner mit Spendern

Womöglich darf sich die Bevölkerung sogar auf ein neues Kontakt-Reglement einstellen. Es wäre ja auch durchaus mal wieder an der Zeit, den Menschen insofern Hoffnung zu geben, als dass von nun an Treffen mit zwei Haushalten inklusive drei Schwippschwagern unter der Voraussetzung eingetragener Lebenspartnerschaften im Umkreis von 100 Metern um die eigene Wohnung erlaubt sind, wenn dabei kein Alkohol getrunken wird und die Zahl der anwesenden Kinder das Lebensalter des Gastgebers nicht um den Faktor 20 überschreitet. Oder so ähnlich. Zwar würden es die meisten Bewohner dieses Landes gewiss lieber mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn halten, der sich wegen Corona die Lust auf ein Dinner im Kreise trauter Parteispender einfach nicht nehmen lässt. Aber es hat eben nicht jeder einen so erlauchten Unterstützerkreis. Pech gehabt!

Das Volk darf also gespannt sein, was beim Corona-Bingo heute für Überraschungen herauskommen. Wobei: Spätestens morgen Nachmittag werden sich die Ministerpräsidenten wieder gegenseitig unterstellen, die eine Lockerung entgegen besseren Wissens ermöglicht oder die andere Verschärfung aus purer Verantwortungslosigkeit verhindert zu haben. Bis dahin dürften dann auch die Regierungs-Virologen in Stellung gebracht worden sein um zu erklären, dass die Kanzlerin von vorneherein mit allem völlig richtig lag. Hätte man auf sie gehört, wäre „im Großen und Ganzen“ also noch weniger schief gelaufen, als es Merkels Eindruck zufolge der Fall war. Also less than zero.

Festgefrorene Altlasten

Was wir in Deutschland allerdings verlernt haben, ist das Bewusstsein dafür, dass es auf Dauer extrem unbefriedigend ist, wenn die Dinge „im Großen und Ganzen“ einfach nur nicht schieflaufen (wobei auch noch das exakte Gegenteil davon der Fall ist). Warum fällt der Bundeskanzlerin nicht auch mal ein, dass eine Industrienation mehr zu leisten imstande sein muss, wenn deren Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Steuern abgeknöpft, sondern auch Wege in eine gute Zukunft eröffnet werden sollen? Zumal sich das mit den Steuern ohnehin schnell erledigt, wenn „nicht schiefgelaufen“ künftig als Beschönigungsfloskel dafür dient, dass es sogar noch Schlimmer hätte kommen können. Mehr Wurstigkeit, mehr Ambitionslosigkeit lässt sich mit einem Satz kaum zum Ausdruck bringen als in Merkels Statement zum EU-Impfstoff-Debakel, „im Großen und Ganzen ist nichts schiefgelaufen“.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder lässt sich seit einiger Zeit öfter mit der Bemerkung vernehmen, nach Corona müsse man eine Bestandsaufnahme machen und wie nach einer Schneeschmelze schauen, was unter der Eisdecke von der Bundesrepublik übriggeblieben ist. Das Eis jedenfalls wird von Tag zu Tag dünner. Und eines ist sicher: Es haben sich viele Altlasten darunter festgefroren – von eklatanten Defiziten in der Digitalisierung bis hin zu maroden Schulen. Das Schlimmste aber ist der unverbrüchliche Wille dieser Bundesregierung, der Bevölkerung immer und immer wieder unteres Mittelmaß als Spitzenleistung zu verkaufen. Das war schon vor der Corona-Krise so. Aber jetzt ist es offenkundig.

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