Corona und Gesellschaft - Die große Entkoppelung mit unabsehbaren Folgen

Die Corona-Pandemie reglementiert den Alltag der Menschheit. Die Folgen für die Wirtschaft und die Gesundheit sind messbar – die für den Zusammenhalt der Gesellschaft weniger. Droht sie zu zerreißen?

Was bleibt von der Menschheit übrig nach der Krise? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Vor vier Wochen muss jemand die Welt verhext haben. Seitdem leben wir in einem Paralleluniversum und finden den Ausgang nicht. Anders kann ich mir nicht erklären, was minütlich mit der Heftigkeit von Salven auf uns einstürzt und noch vor vier Wochen für völlig undenkbar gegolten hätte: Schulen, Universitäten, Geschäfte sind geschlossen, die Einreise ins Land ist ebenso wie die Reise im Land reglementiert, Fluggesellschaften stellen den Betrieb ein, Gottesdienste gibt es nicht mehr, Spielplätze dürfen gar nicht, Restaurants nur tagsüber betreten werden, der öffentliche Raum leert sich.

Sind das apokalyptische Zeichen? Auf jeden Fall erleben wir gerade die große Entkoppelung mit unabsehbaren Folgen. Slogans, die uns leicht von den Lippen gingen, zeigen nun ihre abgründige Rückseite. Disruption zum Beispiel ist ein schnittiges Motto, solange damit nur die Jagd nach neuen Geschäftsmodellen gemeint ist oder die Neigung der internationalen Politik, neue Machtzentren zu entwickeln.

Das Game „Menschheit“

Solche Disruptionen sind wiederkehrende Kapitelüberschriften im Buch der Weltgeschichte. Sie hängen am Gewebe, das sie zu zerreißen vorgeben. Das bisher unbeherrschbare Coronavirus ist ein disruptiver Faktor, der die Zusammenhänge unseres Lebens momentan wirklich zerreißt. Der Enden abschneidet, die sich nicht mehr fügen. Er ist – um eine andere modische Chiffre anzuführen – tatsächlich und nicht nur rhetorisch ein Gamechanger.

Das Game, das wir spielen, heißt Menschheit und deren Prinzip ist Verbundenheit. Nun werden die Elemente entkoppelt, um die Infektionswege zu kappen, und wir erkennen, dass Globalisierung der Normalzustand ist seit den Tagen Alexanders des Großen, Trajans und Karls V. Wenn Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden und darum Waren in ihrem Verbreitungsgebiet, werden wir auf die Nahdistanz zurückgeworfen.

Ein Unterschied zwischen Drinnen und Draußen?

Ausgangssperren gibt es in Frankreich, Italien, Spanien, Österreich. Deutschland stehen sie noch bevor. Wir lernen wieder, dass alles Leben Ökonomie ist: die Sorge um das Haus, die Ordnung im eigenen Haus. Der öffentliche Raum leert sich. Das Draußen wird weitgehend durch ein vielgestaltiges, unverbundenes Drinnen ersetzt.

Zum Klausner auf Zeit werden viele, die dachten, es gebe keinen Unterschied mehr zwischen Drinnen und Draußen, es existierten keine Grenzen mehr oder nur solche, die wir spielerisch überschreiten. Wir publizierten unser Innerstes. Transparenz hieß das Zauberwort, Einblicke ins Drinnen schufen wir von draußen her. Bodentiefe Fenster gehörten zum Seelenhaushalt wie zum Menschenhaus.

Vierzehn Tage – das Maß der Dinge

Nun hängt unser Leben in hohem Maß davon ab, das Innere vom Äußeren peinlich genau zu scheiden. Zuhause bleiben kann Leben retten. Die Wand schützt vor Menschen, potentiellen Virenträgern allesamt, und andere vor uns. Grenzen helfen. Transparenz erschloss sich bisher im Nu. Ein Blick genügte. Jetzt müssen wir warten. Die Alles-sofort-Attitüde ist passé, die Inkubationszeit dauert zwei Wochen oder mehr.

Vierzehn Tage, lernen wir, kann das Virus sich Zeit lassen, bis es ausbricht. Wer also sklavisch zwei Wochen bei sich bliebe und nicht erkrankte, der wäre virusfrei. Der wäre gesund, erst einmal. Das Virus verlangsamt uns. Es sendet Signale, die sich nicht gleich deuten lassen. Das ist kein Zugewinn, das ist ein Verlust an Lebensqualität, doch wir haben keinen Einfluss darauf. Die Zeit rast nicht mehr, sie steht an vielen Stellen – zumindest in Ansehung von Sars-CoV-2.

Mensch entkoppelt sich von Mensch

Dadurch wächst ihr moralisches Gewicht. Entkoppelt wird der Mensch vom Mensch, das Land vom Land, das Drinnen vom Draußen, das Jetzt vom Bald, – aber manchmal auch der Kopf vom Verstand. Die Krise sorgt auch für eine Entladung der Unvernunft. Da bitten Menschen zu „Corona-Parties“, als könnten sie es nicht erwarten, auf die Bahre zu fahren.

Das Virus als Kugel in der Revolvertrommel. Da trifft man sich im Freien in großen Gruppen, umarmt und herzt sich, als wäre nichts dabei. Da finden unverändert Konzerte statt und Märkte mit vollem Gedränge. Flugzeuge aus Hochrisikogebieten landen in Deutschland. Dass der Mensch, das soziale Wesen, sich sein Menschsein nicht nehmen lässt, ist schön. Asozial aber wird jener unmenschliche Egoismus, der den anderen als ihr Gefährder gegenübertritt.

Schließlich entkoppelt das Virus auch das Tun vom Lassen. Das geht nicht mehr geschmeidig ineinander über. Halbheiten werden als Halbheiten offenbar, Ironie verbietet sich. „Wir sind im Krieg“, sagte der französische Staatspräsident Macron und musste sich dafür viel Kritik gefallen lassen. Ein asymmetrischer Krieg mit einem unsichtbaren Feind ist es aber doch. Der Homo sapiens wird nicht untergehen, soviel steht fest. Es wird weiter gehen mit ihm und der Menschheit. Auf welchen Pfaden freilich, das steht in den Sternen. Passen Sie auf sich auf.

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