Corona-Gedenkfeier - Eine Pause in der demokratischen Schlacht

Gestern fand in Berlin ein zentraler Staatsakt für die Toten der Corona-Pandemie statt. Ein Empathie-Test, eine Einladung, einmal nicht höhnisch abzuwinken, sondern mitzutrauern. Sollten wir dazu nicht in der Lage sein?

Bundespräsident Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung für die Corona-Toten / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

So erreichen Sie Jens Nordalm:

Anzeige

Für viele sprach vieles gegen diesen Staatsakt. Die bevorzugende Herausstellung der Corona-Toten: Mehr Menschen sind immer noch an anderem gestorben! Der Zeitpunkt: Hätte man nicht warten können, bis wir in der Bewältigung des Ganzen an einem anderen Punkt sind? Und, das wird ja tatsächlich von nicht Wenigen geäußert und auch aufgeschrieben: „Trauern“ hier nicht heuchlerisch die eigentlich Verantwortlichen für die Toten? Solche Verantwortlichkeit mit einer von keinem Zweifel angekränkelten Selbstgewissheit zu behaupten, ist allerdings eher ein weiteres trauriges Symptom der überhaupt in unserer Zeit so sehr fehlenden Demut im politischen Urteil.

Offenbar war das Bedürfnis groß, über die Sache bedenklich den Kopf zu wiegen. Die Welt fragte rhetorisch und wolkig: „Aber wie sieht so ein Moment [des Innehaltens] aus, wer gedenkt wessen, in einer an den Rändern zerfaserten Zeit, von der keiner vorherzusagen weiß, wie weit sie noch reicht?“ Ja, ja. Und natürlich die Skepsis, wie das am Bildschirm funktionieren soll? Es könnten ja gar nicht alle Bundesbürger teilnehmen – wurde gegrummelt.

Sollten wir dazu nicht in der Lage sein?

Doch es gibt etwas, das für diesen Akt spricht. Dass er eine sichtbare Möglichkeit, eine Einladung ist, einmal eben nicht höhnisch abzuwinken, sondern sich innerlich mit hinzustellen und mit denen traurig zu sein, die hier traurig sind und die diesen Akt als tröstlich empfanden. Sollten wir dazu nicht in der Lage sein? Nicht in der Lage dazu, in diesem sozialen Horror, in den wir uns als Menschen der Moderne und als Bürger dieses Staates manövriert haben, einmal genau das zu sagen: Wir sind das?

Hier geht es nicht um einzelne Verantwortlichkeiten, die es geben mag – man kann dann ja im September entsprechend wählen, wenn man das meint. Hier ging es darum zu sagen: Wir haben es gemeinsam so und nicht besser hingekriegt bisher. Ein Indiz dafür, dass wir die Steine liegen lassen sollten, weil sie kreuz und quer flögen, ist ja, dass nicht jeder Unzufriedene aus demselben Grund unzufrieden ist. Im Gegenteil. Den einen war und ist es zu viel Lockdown und Kontaktbeschränkung und Inzidenzmaßstab, den anderen von all dem zu wenig und zu inkonsequent. Die dritten stört vor allem, was sie als Widersprüchlichkeit und Lavieren empfinden. Die Umfrage-Mehrheiten waren übrigens stets bei der Regierung – nicht vergessen bitte, von wegen Demokratie.

Pause in der demokratischen Schlacht

Aber egal. Hier geht es gerade um die Pause in der demokratischen Schlacht. Hier geht es ums Innehalten als Land – dieser schlichte Gemeinschaftsbegriff des „Landes“ scheint uns völlig abhandengekommen zu sein in der Bitterkeit der letzten Monate – ganz anders übrigens, als man es anfangs glaubte, hoffen zu dürfen. Es schien doch der Moment der nationalen Solidarität.

Im Akt selbst nun, am Sonntag in Schinkels Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin, in Fernsehen und Radio übertragen, ging es nicht nur um die Toten durch Corona. Auch der einsame Tod überhaupt in dieser Zeit, fehlendes Abschiednehmen, das Nicht-zueinander-kommen-Können wegen der Kontaktbeschränkungen, ausfallende Trauer-Rituale – des Leids, das all dies ausgelöst hat, wurde ebenso gedacht. In einem Kreis von knapp zwanzig Personen: Hinterbliebene und die fünf Repräsentanten der Verfassungsorgane des Bundes.

Ein Empathie-Test

Es kommt dann eben doch darauf an, dass man hinsieht. Dass man sich ansieht und anhört, was unsere vier Mitbürger da zu sagen hatten: Witwe, zwei Töchter, ein Sohn von Verstorbenen – die nach ihren Worten Kerzen entzündeten. Eine Mutter, die nicht sprach, trug eine Kerze für ihre nur 23 Jahre alt gewordene Tochter. Viele Fotos anderer Verstorbener sah man während der Totenerinnerung am Ende des Aktes. Ein Empathie-Test. Das stellvertretende Sprechen und Trauern funktioniert am Bildschirm; man muss nur bereit sein, sich darauf einzulassen.

Musikalisch eingeblendet hörte und sah man etwas, das zum schönsten und eindringlichsten deutschen Bühnen-Erleben der vergangenen zehn Jahre gehört. Das zuerst 2012 von Jochen Sandig und Sasha Waltz im Radialsystem in Berlin eingerichtete „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms – mit dem im Saal schreitenden und singenden Berliner Rundfunkchor, unter den man sich als hörendes und stehendes und gehendes Publikum selbst mischen durfte. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

Staatsbürger sein

Momente wie dieser Akt sind solche, an denen man es üben könnte: Staatsbürger zu sein. Eine Meinung haben, sie im öffentlichen und privaten Raum vertreten – aber dann, auf einer anderen Ebene, im Modus des Allgemeinen, Verbindenden, Menschlichen, die politische Erregung runterfahren, sich neben den Anderen stellen. Und darauf sehen, dass dieses Jahr eben nicht nur leidenschaftliche Empörung über politische Entscheidungen gebracht hat – sondern Leid, das von uns allen gemeinsam beklagt werden darf. Vielfältiges Leid – das der Bundespräsident in seiner Rede vielfältig ansprach.

Der Staatsakt also als Aufruf zur Demut. Sich selbst zurückzunehmen, von sich selbst auch einmal abzusehen, sich einzureihen, den eigenen, subjektiv so wahnsinnig richtigen Standpunkt zu relativieren, das heißt: zur Kenntnis zu nehmen, dass auch die Anderen wahnsinnig richtig zu liegen glauben, während sie ganz anderes meinen. Nicht immer, aber gestern zum Beispiel.
 

Anzeige