Corona-Demos - Uneinigkeit und Unrecht und Unfreiheit

Während die Ampelregierung auf die Impfpflicht zusteuert, gehen in Dörfern und Städten Zehntausende wütende Menschen auf die Straße. Die Protestwelle wird in ihrer Heterogenität zu einem ernsthaften Problem für die Politik. Wie gefährlich ist die Spaltung für das Land?

In allen Teilen des Landes demonstrieren Zehntausende Menschen gegen die Corona-Maßnahmen / Jens Gyarmaty
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Mit ineinander verschränkten Händen steht Olaf Scholz am letzten Tag des Jahres 2021 am Fenster des Kanzleramts, hinter ihm leicht verschwommen der Reichstag mit leuchtender Kuppel. Er spricht mit fester Stimme in die Kamera und zu den 83 Millionen Menschen in diesem Land: „Manche beklagen in diesen Tagen, unsere Gesellschaft sei gespalten. Ich möchte hier mit aller Deutlichkeit sagen: Das Gegenteil ist richtig!“ Was es gebe, räumt er ein, seien „unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, gerade zum Thema Corona“.

Vielleicht hätte der gerade angetretene Bundeskanzler vor seiner Ansprache an einem Montagabend im sächsischen Bautzen vorbeischauen sollen, auf dem Marktplatz von Schwäbisch Gmünd oder auf der Berliner Karl-Marx-Allee.

Dort, unweit des Berliner Fernsehturms, hat sich an einem Samstag eine junge Regisseurin postiert, vor sich eine Antifa-Flagge, dazu ein Schild mit den Worten: „Maske auf – Nazis raus“. Sie demonstriert gegen einen Korso aus etwa 100 Auto- und ebenso vielen Fahrradfahrern, der sich auf der anderen Straßenseite formiert, um gegen die Corona-­Maßnahmen zu protestieren. Die Frau lehnt zwar auch die Impfpflicht ab, sieht manche Maßnahmen kritisch, aber „das darf kein Grund sein, mit Nazis zu demonstrieren“. 

Karl-Marx-Allee

Tiefe Spaltung

Persönlich hat sie schon die Erfahrung der Spaltung gemacht: Ihr langjähriger Kameramann sei „abgedriftet“, wie sie es ausdrückt: Aus Kritik an den Corona-Maßnahmen sei er inzwischen bei Holocaust-Relativierung angekommen. Und doch versucht sie mit ihm im Gespräch zu bleiben. Als aber ein Pärchen an sie herantritt und um eine Erklärung der Parole „Maske auf – Nazis raus“ bittet, ist sie abweisend. „Wenn ihr es nicht versteht, dann geht halt rüber zu euren Freunden da drüben“, patzt sie genervt zurück. 

Später stellt sich heraus, dass die beiden nicht Teil der Demonstration sind, dafür aber in Krankenhäusern arbeiten und deshalb ihre ganz eigene Kritik an Corona-Politik und Impfpflicht haben. Zu einem Dialog kann es aber nicht kommen, wenn eine Seite nur ein Schild mit Parolen vor sich hält. So sieht Spaltung aus.

Seit die Ampelregierung Kurs auf die allgemeine Impfpflicht genommen hat, schwillt von den Dörfern bis zur Hauptstadt eine Protestwelle an, die in ihrer Heterogenität zu einem ernsthaften Problem für Ministerpräsidenten, Bürgermeister und Polizisten wird – und für die Bundesregierung. Eindrucksvoll belegt sie, was aus dem Fenster des Kanzleramts offenbar nicht zu sehen ist: Dieses Land ist in einer Tiefe und Breite gespalten, die möglicherweise noch die Zeit nach der Flüchtlingskrise 2015 übertrifft. Seit Ende Dezember gehen von Montag bis zum Wochenende in Hunderten Orten dezentral organisiert Hunderttausende auf die Straßen.

Volle Straßen in Schwäbisch Gmünd

Michael Länge, Redaktionsleiter der Gmünder
Tagespost in Schwäbisch Gmünd / Jens Gyarmaty

Michael Länge muss nachdenken, bis ihm einfällt, wann es zuletzt so viele Menschen in Schwäbisch Gmünd auf die Straßen getrieben hat, jener schmucken Kleinstadt östlich von Stuttgart. Mutlangen fällt ihm schließlich ein, jener Nachbarort, wo die Amerikaner Anfang der achtziger Jahre Pershing-II-Raketen aufstellten – und sich im Protest eine Menschenkette von Stuttgart bis Ulm formierte. Länge, seit 1995 Redaktionsleiter der Gmünder Tagespost, damals mittendrin. 

Auf dem Marktplatz haben sich an einem Dienstagabend an die 200 Bürger zum „offenen Mikrofon“ versammelt. Tags zuvor sind fast 1000 Menschen durch die Straßen gezogen, wieder 300 mehr als in der Woche zuvor. Viele gehen erstmals auf einen Corona-Protest. Corry Chmielewski, Krankenschwester im Drei-Schicht-Betrieb seit 25 Jahren, spricht zum ersten Mal.
Die Mittfünfzigerin schimpft über das heruntergewirtschaftete Gesundheitssystem: Der Grund für die harten Corona-Maßnahmen liege in der Überlastung der Krankenhäuser. Sie und ihre Kollegen seien tatsächlich am Limit, aber das liege eben „nicht nur an Corona“, sondern an den Einsparungen und der Privatisierung. „Das Schiff fährt schon seit Jahrzehnten an die Wand, aber niemanden interessiert es!“ Unter Applaus sagt sie: „In einer echten Pandemie würde man Kranke behandeln und nicht Gesunde jagen!“

Viele Reden, die von den Mauern des 700 Jahre alten Münsters widerhallen, haben eine religiöse Grundierung, klingen aber eher nach Evangelischem Kirchentag als nach katholischem Gottesdienst. In den Reden tauchen mit Blick auf die Corona-Maßnahmen Vergleiche mit der NS-Zeit auf. Aus den Lautsprechern tönt eine Popversion des Gedichts „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, das Dietrich Bonhoeffer wenige Monate vor seiner Ermordung durch das NS-Regime schrieb. Ein Mann, der sich als Erwin vorstellt, ruft dreimal aus: „Oh Herr, gib uns unseren Verstand zurück!“ Dann behauptet er: „Ich habe die Pandemie beendet, die Viren haben die Erde verlassen!“ Tanja Buschbeck, seit 2020 Organisatorin der Proteste, sagt: „Mit unseren Spaziergängen holen wir die Menschlichkeit zurück. Wir müssen es schaffen, immer mehr Menschen rauszuholen. Wir arbeiten alle daran!“

Keineswegs Impfgegner

Den Geist, der durch den Südwesten weht, haben die Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei von der Universität Basel nach Interviews mit Anhängern der Querdenken-Bewegung in Baden-Württemberg so zusammengefasst: Die Mitglieder eine keine gemeinsame Ideologie, sondern das Selbstverständnis, eingeweiht oder gar erwählt zu sein. 

Nach einem Anschwellen der Proteste im ersten Pandemiejahr war es 2021 ruhiger geworden: Die Impfkampagne ließ auf ein Ende der Pandemie hoffen – und schien die Proteste zu einem vernachlässigbaren Randphänomen zu machen. Nun sind sie mit voller Wucht zurück – und auf den Plätzen und Straßen stehen neben wenigen Radikalen ganz normale Bürger: Krankenschwestern, Ingenieure, Lehrer, Friseure, Künstler und Studenten, Grünen-Wähler wie Tanja Buschbeck.

Ein Teilnehmer einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin hält ein Grundgesetz in der Hand

Ihr kleinster Nenner ist die Skepsis gegenüber den mRNA-Impfstoffen. Gegen Masern, Polio und Tetanus sind die meisten aber geimpft. Impfgegner also? Mitnichten. Groß ist die Wut auf den Staat, der Menschen, die nicht gegen Corona geimpft sind, mit der Verschärfung der Zugangsregeln zu Kinos, Theatern und Restaurants zunehmend aus dem öffentlichen Leben verbannte. Tanja Buschbeck musste ihren Volleyballverein verlassen. „Mein kompletter Freundeskreis hat sich geändert. Aber jetzt ist es viel schöner“, sagt sie. Auch das ist Spaltung.

Von Politikern getäuscht

Als Wortbruch fassen die Menschen auf, dass die Politik zu Beginn der Impfkampagne eine Impfpflicht ausschloss – und nun mehrheitlich dafür eintritt. Populär ist ein Video des FDP-Chefs und Finanzministers Christian Lindner aus dem Sommer, auf dem er Fans von Borussia Dortmund erklärt: „Wir sind der Auffassung, dass Ungeimpfte nicht diskriminiert werden sollen.“ Auch im Herbst, sagt er in die Handykamera, sollten Ungeimpfte in die Gaststätte gehen können, vielleicht mit der Voraussetzung eines negativen Tests, den sie aber nicht bezahlen müssen. Auf die Nachfrage, ob er das auch nach den Wahlen sagen werde, antwortet Lindner: „Das sage ich vor den Wahlen und nach den Wahlen.“ Inzwischen trägt die FDP die 2G-Regeln zum Nachteil der Ungeimpften mit – und Lindner erwägt eine allgemeine Impfpflicht. Dass er sich auf Meinungsumfragen stützt, wonach FDP-Wähler überdurchschnittlich für die Impfpflicht eintreten, ist für Menschen, die das als Wählerbetrug empfinden, unerheblich. 

Auch die jüngsten Datenskandale bestätigen bei ihnen nur die Überzeugung, dass Politiker tricksen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren: Die Länderchefs von Hamburg und Sachsen hatten im Herbst ein völlig überhöhtes Verhältnis von Ungeimpften zu Geimpften bei den Krankenhauseinweisungen behauptet: Menschen, deren Impfstatus unbekannt war, wurden dafür einfach den Ungeimpften zugerechnet. 

Wütend sind die Menschen auf den Straßen und Marktplätzen über ihre Verunglimpfung in Politik und Medien: Lange wurden die Proteste mit dem Dreiklang „Nazis, Schwurbler, Verschwörungstheoretiker“ abgehandelt, in dem sich viele Demonstranten nicht wiederfinden. Entfremdung ist ein Begriff, der die Situation nur unzureichend beschreibt. Selbst in Schwäbisch Gmünd haben sie Journalist Länge schon „Lügenpresse“ ins Ohr geflüstert.

Unterwandert durch Rechtsextreme

Von ARD und ZDF wollen die Demonstranten nichts mehr wissen, saugen dafür auf, was in den unzähligen Gruppen im Netzwerk Telegram verbreitet wird. Ken Jebsen, Boris Reitschuster und Russia Today gehören noch zu den seriösen Quellen, weil zumindest der Absender klar ist. Oft kommen Corona-News, Statistiken und Berichte über Polizeigewalt auf Anti-Corona-Demonstrationen aus völlig unbekannten Quellen, weitergeleitet aus Gruppen wie den Freien Sachsen.

Im Freistaat, so scheint es, haben die Freien Sachsen den Protest monopolisiert: Auf Telegram folgen der Gruppe knapp 140.000 Menschen, sie ist Dreh- und Angelpunkt für Berichte von Demos, Tipps für den Umgang mit Festnahmen, Bekanntgabe von Demoterminen. Die Freien Sachsen sind eine vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Kleinstpartei, gegründet 2021 von Martin Kohlmann, einem Anwalt, der schon 2018 eine zentrale Figur bei der Organisation der zum Teil gewalttätigen Proteste in Chemnitz nach dem Mord eines Irakers an einem Deutsch-Kubaner war. „Wir wollen grundsätzlich etwas anderes, als nur wieder in die Kneipe oder die Läden zu dürfen“, gestand er der FAZ freimütig: Sachsen solle raus aus der Bundesrepublik und seine eigene Politik machen, in der „das Königshaus wieder eine große Rolle spielen“ müsse. Kohlmann wird vom NPD-Kader Stefan Hartung und dem nach Sachsen emigrierten Dortmunder Neonazi Michael Brück unterstützt.

Früh hatten Verfassungsschützer vor der Unterwanderung durch Rechtsextreme gewarnt – in Sachsen scheint sie gelungen zu sein. Rassistisches Gedankengut findet sich im Chat der Freien Sachsen kaum, dafür eine Sprache, die das Leben mit jenem in einer Diktatur vergleicht. Von „wöchentlichen Knüppelorgien der Regierungsmilizen“ und „paramilitärischen Einheiten“ ist da die Rede, Ministerpräsident Michael Kretschmer ist „sächsischer Despot“, die Regierung ein „Regime“. „Kretschmer verhaften“ steht auf Bannern, die man bestellen kann. Aus den Botschaften spricht die Lust am Sturz des Systems: „Die Realitäten in Ost und West gehen immer weiter auseinander. Natürlich gibt es im Westen auch positive Ausnahmen, aber: Ein Großteil der Menschen folgt dem Parteiensystem dort (noch?) blind. Gerade wir Sachsen sind dagegen aufgewacht. Wir trauen diesem Apparat nicht mehr!“

„Spaziergänge“ in Sachsen

Doch darf man aus der Tatsache, dass einige Rechtsradikale auf Telegram die Hoheit gewonnen haben, auf die Menschen schließen, die an den Protesten teilnehmen? 

Von Sachsen aus haben die Montagsspaziergänge sich in der Republik ausgebreitet. Sie waren Reaktion auf die strengen Corona-Vorschriften der Regierung angesichts steigender Infektionszahlen und voller Intensivstationen: Nur noch zehn Menschen durften sich in Sachsen versammeln. Die Antwort der Protestbewegung: Anstatt angemeldeter Demos verabredeten sich die Menschen zu „Spaziergängen“ in den Innenstädten. Der Freistaat hat die Proteste mit dieser Regelung nur befeuert. Das wird auch an diesem Januar­abend in Bautzen deutlich.

Auf den Betonplatten des Bautzener Kornmarkts steht in der Dunkelheit ein Herz aus Kerzen, daneben ein blauer Kleinbus mit aufgemalter Friedenstaube. Eine Frau hält eine mit Bibelzitaten gespickte Andacht, wünscht sich „mehr Liebe in diesem Jahr“. Ein Sprecher verurteilt Gewalt, aber fügt hinzu: „Es wird auch sehr viel Gewalt vonseiten der Polizei eingesetzt.“

Krankenschwester Corry Chmielewski spricht auf dem
Marktplatz von Schwäbisch Gmünd

Die Polizei hat den Kornmarkt umstellt: Umgeben von Mannschaftswagen findet ganz legal die Andacht statt, aber eben nur mit zehn Personen. Rundherum haben sich Hunderte Menschen aus Bautzen und der Umgebung versammelt. Die Älteren fühlen sich an vergangene Zeiten erinnert. „Das ist ja ein Gefühl wie 89“, sagen zwei ältere Damen, während Dutzende Mannschaftswagen mit Sirenen und Blaulicht vorbeirasen. 

Gewaltausbrüche

Der Grund für die Hektik ist, dass sich eine Gruppe von einigen Hundert jüngeren Menschen auf den Kornmarkt zubewegt. Einige sind maskiert, manche tragen Kleider von Marken, die unter Rechtsradikalen beliebt sind: „Aryan Nations“ steht da, oder „Thor Steinar“. „Widerstand, Widerstand“, brüllen sie, manche recken ihren rechten Arm in den Himmel. Mittendrin mit einer Kamera: Simon Kaupert, ein Filmemacher der rechtsex­tremen Szene, der die Proteste dokumentiert und eine digitale deutschlandweite Protestkarte entwickelt hat. Das Marschtempo ist hoch, das ist kein Spaziergang, doch an diesem Abend geht die Polizeistrategie auf: Durch beherzte Manöver wird der Marsch gestoppt, Mannschaftswagen stellen sich so auf, dass er sich nicht neu formieren kann.

Doch immer wieder kommt es auf den „Spaziergängen“ zu Gewalt, wenn Menschen versuchen, Polizeiketten zu durchbrechen. In Bautzen gibt es Ende Dezember mehrere Verletzte auf beiden Seiten. Am Mikrofon auf dem Kornmarkt berichtet ein älterer Mann, „Feuerwehrmann seit 1976“, wie er nach einem Faustschlag der Polizisten zu Boden ging und im Krankenhaus behandelt werden musste.

Anfang Januar lief die sächsische Polizeigewerkschaft Sturm gegen das De-facto-Versammlungsverbot: Weil es sich als unmöglich erwies, an über hundert Orten in Sachsen gleichzeitig mit so starken Kräften präsent zu sein, um es umzusetzen. Und weil dadurch eine Gewaltspirale entsteht, die die Bürger immer mehr von der Polizei entfremdet. Mitte Januar kippte Sachsen die Regel. 

Wer protestiert in Sachsen?

Auf dem Kornmarkt steht auch der 42-jährige Daniel Heinke, rot-weiß-gestreifte Strickmütze, Ingenieur, auch er kein Impfgegner, aber wie so viele hier überzeugt, dass es sich bei der mRNA-Impfung um eine „Gentherapie“ mit möglichen Folgen wie Unfruchtbarkeit handelt. „Meine Kinder sollen mir mal Enkel schenken“, sagt er. „Es geht mir um Selbstbestimmung.“ Sein Cousin Micha, Rastafrisur, ebenfalls Ingenieur und wie Heinke alles andere als ein Rechtsextremer, nickt zustimmend. Die beiden sind sich sicher: „Die kriegen die Zahnpasta nicht wieder in die Tube.“ Soll heißen: Die Einführung der Impfpflicht ist im bundesweiten Impfschlusslicht Sachsen, wo weniger als zwei Drittel der Menschen vollständig geimpft sind, aussichtslos. Und was halten sie von der Online-Petition gegen die Montagsspaziergänge in Bautzen, die fast 50.000 Menschen unterschrieben haben? „Na wer hat da unterschrieben? Das ist doch die Hautevolee, nicht die Kellner“, sagt Heinke lachend. „Meine Freunde denken alle wie ich.“
Die Verweigerungshaltung gegenüber den Impfstoffen gegen Corona ist hier unter den Jüngeren tatsächlich weit verbreitet. In Bautzen muss sich ein geimpfter 35-Jähriger gegenüber seinen Altersgenossen erklären, in den westdeutschen Bundesländern ist es eher andersherum. 

Montagsdemonstration in Berlin

Zentrale Figur des Protests in Bautzen ist ein Mann, der sich vom politischen und medialen Mainstream nicht erst mit Corona verabschiedet hat: Veit Gähler, Jahrgang 1970, sitzt am nächsten Morgen in seinem Spielzeugladen „Holzwurm“ direkt neben dem Kornmarkt. Als 19-Jähriger demonstrierte er für das Ende der DDR, zog für die DSU in den Kreisrat ein, ein Parteiprojekt der CSU für die neuen Länder, das dann auf Weisung von Helmut Kohl eingestampft wurde. Gähler, gerade in die Politik gestartet, hatte fertig mit dem Parteiensystem. Und schwor sich: „Nie wieder Partei.“ 

Er gründet eine Familie, engagiert sich in der Kirche, zieht Kinder groß. 2015 dann das Erweckungserlebnis: Gähler schaut sich die Übertragung einer Pegida-Demonstration an – und findet, dass das nichts damit zu tun habe, was die Medien berichten. Er gründet einen Ableger der gegen die Regierungspolitik gerichteten Organisation „Wir sind Deutschland“, organisiert zusammen mit dem einflussreichen Bauunternehmer Jörg Drews Informationsabende mit Experten, die man als Crème de la Crème des für alle Theorien abseits des Mainstreams bekannten Kopp-Verlags beschreiben kann: Willy Wimmer ist dabei, langjähriger CDU-Abgeordneter und radikaler Kritiker westlicher Militärinterventionen, der Fondsmanager Max Otte, heute Chef der Werteunion, und Bernd Senf, ein emeritierter VWL-Professor und Kritiker des zinsbasierten Geldsystems.

Raue Töne

In dieser Gedankenwelt, die sich dadurch auszeichnet, alle bestehenden Säulen des Systems infrage zu stellen, bewegt sich auch Gähler: repräsentative Demokratie? Er träumt von einem politischen System mit mehr direkter Demokratie, das den Volkswillen besser zum Ausdruck bringen soll. Das Finanzsystem? Das sei schuldgeldbasiert, deshalb müsse nach Alternativen gesucht werden. Die Privatisierung von Telekommunikation, öffentlichem Nahverkehr, Gesundheitsvorsorge, Wasser und Strom? Falsch, denn: „Der Mensch hat Anspruch auf eine Grundversorgung. Er sollte alles haben, was er zum Leben braucht.“ 

November 2020: Gewaltsame Proteste gegen das Infektionsschutzgesetz vor dem Berliner Reichstag

Gähler vergleicht seinen Weg mit dem Erkunden von Kellergewölben in einem Altbau: „Da öffnest du eine Türe und findest einen Keller, von dort geht es durch die nächste Tür und immer weiter. Wenn man die Dinge für sich erkannt hat, dann gibt es kein Zurück mehr.“ Seine Offenheit für Ideen abseits des Mainstreams ist fast grenzenlos – entsprechend schwer tut er sich mit der Abgrenzung, die der Bürgermeister der Stadt fordert. „Ich will mich nicht von Menschen distanzieren. So will man uns ja spalten“, sagt er. „Wenn Nazis und Antifanten beide gerne Nudeln essen, dann distanziere ich mich doch nicht von Nudeln. Es geht um die gemeinsame Sache.“ 

Wohin werden die Demonstrationen führen, etwa wenn die Impfpflicht kommt? „Im schlimmsten Fall zum Bürgerkrieg. Im besten Fall zur Transformation hin zu einer empathischen, herzgesteuerten Gesellschaft mit viel direkter Mitbestimmung. Letzteres ist das Szenario, das ich mir wünsche.“ In diesem Moment wird deutlich: Es geht um ähnliche Dinge wie in Schwäbisch Gmünd. Aber der Wind im hübschen Bautzen, dessen Marktplatz an sonnigen Tagen an eine italienische Stadt erinnert, weht härter als im Ländle. 

Bautzens Bürgermeister

Das weiß auch Alexander Ahrens, geboren in Westberlin, in der Welt herumgekommen und seit 2015 Bürgermeister von Bautzen. Er empfängt im prächtig restaurier­ten Ratssaal, erzählt von den sanierten Schulen und der geplanten Fußgängerbrücke, die das andere Spreeufer mit der Altstadt verbinden soll. 

Ahrens ist Politiker vom Typ  Brückenbauer, nach der Eskalation der Proteste im Dezember fand der Sozialdemokrat aber erstmals deutliche Worte gegenüber den Demonstranten: Er forderte von den Organisatoren die Distanzierung von politischen Radikalen. Laut Behörden sind an die 130 gewaltbereite Neonazis und Mitglieder der sächsischen Hooligan-Szene mit von der Partie. Er nimmt die Menschen zwar in Schutz, der Protest sei vielschichtig und keinem Lager zuzuordnen. „Aber sie sollen sagen: Es geht gegen die Corona-Maßnahmen, nicht um Fundamentalkritik am System.“

Ahrens hat auch Verständnis für die Impfskeptiker und ist deshalb kein Freund einer Impfpflicht: Wichtiger sei es, die Menschen zu überzeugen. „Wenn Ostdeutsche staatliche Bevormundung erleben, dann kommt bei ihnen sehr schnell das Gefühl auf: Das ist ja wie früher!“ Zugleich bezeichnet er sich als 4G: „geimpft, genesen, geboostert und genervt“. Genervt, weil die Menschen auf den Demos bereit seien, absurdeste Behauptungen, etwa zu Schäden durch Corona-­Impfstoffe, zu glauben. 

Polizisten auf einer Montagsdemonstration in Berlin im Januar

Ist die Spaltung schon da?

Wie gespalten ist Bautzen nach knapp zwei Jahren Corona? „Heute gibt es nicht so eine klare Lagerbildung wie 2015“, sagt Ahrens. „Aber wir bewegen uns auf eine Spaltung hin.“ Seine Parteikollegin Astrid Riechmann, die 2015 eine Flüchtlingsinitiative in Bautzen gründete, sieht das anders: „Die Spaltung ist schon da. Und sie ist noch tiefer und breiter als 2015.“ Die Flüchtlingswelle habe nur wenige direkt betroffen, Corona dagegen alle: Gastronomen, Kosmetiker, Kulturschaffende. Auch auf der linken Seite gebe es viele Impfgegner.

Im Juni muss sich Ahrens der Wiederwahl stellen – so wie viele Bürgermeister und Landräte in Sachsen. Könnte die AfD profitieren, als einzige politische Kraft, die sich gegen die Corona-Maßnahmen gestellt hat? Ahrens sagt: „Die AfD hat 2017 ihren Zenit überschritten. Und gerade bei Personenwahlen schauen sich die Menschen sehr genau an, wer da antritt.“ Ist das Zweckoptimismus? Im September holte die AfD in Sachsen zehn von 16 Direktmandaten.

Ein politischer Erdrutsch ist im Südwesten nicht zu befürchten, extremistische Ansichten erkennt auch der Verfassungsschutz nur bei einem kleinen Teil der Mitglieder. Doch er beobachtet die Bewegung. 

Michael Ballweg

Im Zentrum des Interesses steht Michael Ballweg, der die Querdenken-Bewegung im Frühjahr 2020 ins Rollen brachte. Nun blickt der 47-Jährige von einer Parkbank einen Hügel hinab, an dem Rebstöcke wachsen. Unten verbreitert sich der Neckar im Norden Stuttgarts zu einem kleinen See. „Ich bin froh, dass sich das jetzt dezentralisiert hat. Das wollten wir von Anfang an“, sagt er.

Politik und Medien haben dem schwäbischen IT-Unternehmer viel vorgeworfen: Kooperation mit Reichsbürgern und Nazis, Selbstbereicherung, auch der Sturm einiger Demonstranten auf den Reichstag 2020 wurde den Querdenkern in die Schuhe geschoben. Ballweg weist alles zurück.

Der Stuttgarter Michael Ballweg ist Gründer der
Querdenken-Bewegung / Jens Gyarmaty

Er verweist auf das Querdenker-Manifest, in dem es heißt: „Wir sind Demokraten. Wir sind eine friedliche Bewegung, in der Extre­mismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat.“ Das sind engere Grenzen als in Bautzen.

Große Offenheit

„Wenn sich lokale Initiativen nicht an unsere Prinzipien gehalten haben, haben wir sie ausgeschlossen“, sagt Ballweg. Gleichzeitig war ein Markenzeichen der Querdenker von Anfang an eine große Offenheit: „Wir reden mit allen, die friedlich und gewaltfrei agieren, egal wie sie von Dritten bezeichnet werden“, sagt Ballweg. Er und andere Querdenker trafen sich im November 2020 mit dem Reichsbürger Peter Fitzek, Oberhaupt des von ihm ausgerufenen „Königreichs Deutschland“. Ballweg sagt: „Ich will mir immer ein persönliches Bild von Menschen machen, bevor ich sie bewerte.“ Und er erzählt von seiner Jugend auf dem Dorf, als beim Biertrinken am Brunnen auch ein Skinhead dabeistand – und Ballweg ein Shirt mit einem Hakenkreuz trug, das in den Mülleimer geworfen wird. „Wir haben viel diskutiert. Aber ich bin überzeugt: Ausgrenzung ist die schlechteste Option.“ 

Dass die Querdenker in ihrem Manifest Regeln festgelegt haben, hat auch dazu geführt, dass in vielen Regionen Initiativen entstanden sind, die unter ganz anderen Bannern laufen. In München heißen sie „München steht auf“, in Berlin organisiert der Rechtsextremist Eric Graziani einen Montagsspaziergang, im Osten sind es die Freien Sachsen. Ballweg hat sich deren Programmatik angeschaut und sagt: „Die auf der Website der Freien Sachsen beschriebenen Ziele sind nicht mit dem Manifest von Querdenken vereinbar. Trotzdem finde ich es gut, dass sich Menschen zusammengetan haben und den Protest in Sachsen organisieren.“

Keine Anti-Corona-Bewegung

Er betont, dass auch die Querdenker eigentlich keine Anti-Corona-Bewegung seien, sondern eine Grundrechtsbewegung. Ballweg kritisiert das durch Zentralbanken gesteuerte Geldsystem, in dem Geld aus dem Nichts erschaffen werde, „und damit die enteignet werden, die sparen, niedrige Einkommen haben oder in Rente sind“. Auch die Debatte um eine neue Verfassung – was ihm den Vorwurf der Nähe zu Reichsbürger-Narrativen eingebracht hat – verteidigt er als legitim. „Ich würde mir ein politisches System nach schweizerischem Vorbild wünschen.“ Die Gewaltenteilung sieht er durch Corona „entartet“, Pharma- und Digitalkonzerne mit der Regierung verbündet.

Aber besorgt ihn nicht, wie auf Telegram die Sprache verroht und sich völlig verschiedene Narrative vermischen? „Ich würde mir wünschen, dass alle Seiten rhetorisch abrüsten“, sagt Ballweg. Leider hätten noch zu wenige die Meditation entdeckt, um wieder zur Mitte zu kommen. Und nimmt seine Mitstreiter in Schutz: „Seit zwei Jahren werden wir beschimpft als Nazis, Covidioten, rechte Spinner. Die Leute sind am Limit. Dabei treten wir für die Grundrechte ein!“

Wie weiter? 

Simon Kaupert, der rechtsextreme Filmemacher, schreibt Mitte Januar auf Twitter: „Jeden Montag protestieren in mehr als 1600 Orten unzählige Leute gegen #Impfzwang & #BRD. Wir müssen über Abschaffung der #Impfpflicht hinaus jetzt konkrete Forderungen und einen Weg finden. Die Frage lautet: Wo wollen wir hin?“ Das ist die Gefahr, vor der Verfassungsschützer warnen: Dass Rechtsextreme den Schwung der Proteste über Corona hinaus für einen Systemsturz nutzen könnten. Doch wie realistisch ist das?

Journalist Michael Länge in Schwäbisch Gmünd glaubt an die Rückkehr des gesellschaftlichen Zusammenhalts. „Wenn die Pandemie vorbei ist, kommen die Vereinsstrukturen wieder“, ist er sich sicher. Doch wie nah ist der Kipppunkt in Ostdeutschland, wo die Bande von Parteien und Vereinen schon vor Corona viel schwächer waren? Bürgermeister Ahrens hofft darauf, dass die Omikron-Variante den Weg in die Endemie und einen Ausweg aus der politisch verzwickten Lage bietet. Er ist sich sicher: Bei einer Einführung der Impfpflicht würden die Proteste noch deutlich zunehmen.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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