Corona-Ausbruch auf Tönnies-Schlachthof - „Die Täter sind die Sklaventreiber, nicht die Sklaven“

Mehr als 1.500 Tönnies-Mitarbeiter wurden positiv auf Corona getestet. Die meisten von ihnen stammen aus Osteuropa und leben in überfüllten Unterkünften. Der Pfarrer Peter Kossen setzt sich seit Jahren für sie ein. Hier erzählt er von ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Eingesperrt: Mehr als 7.000 Menschen mussten wegen des Corona-Ausbruchs bei Tönnies in häusliche Quarantäne / dpa
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Rixa Fürsen macht einen Master in Internationalen Beziehungen an der Hertie School in Berlin. Derzeit hospitiert sie in der Redaktion von CICERO.

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Pfarrer Peter Kossen setzt sich seit Jahren für Arbeitsmigranten aus Osteuropa ein und kritisiert die Situation der Leiharbeiter in der Fleischindustrie als „moderne Sklaverei“. Kossen lebt und arbeitet als Pfarrer in Lengerich, Westfalen.

Herr Kossen, was sagen Sie zu der Aussage von Ministerpräsident Armin Laschet, die Rumänen und Bulgaren seien schuld am Ausbruch des Coronavirus auf dem Tönnies-Hof? 
Man muss sehr aufpassen, dass man da nicht Opfer und Täter verwechselt. Die Täter sind die Sklavenhalter, nicht die Sklaven. Tönnies hat das so dargestellt, als wären die Arbeiter an einem langen Wochenende in die Heimat gefahren, was grober Unsinn ist. Die Arbeiter verdienen gar nicht so viel Geld, als dass sie einfach so in die Heimat jetten könnten. Jeder von uns kann sich überall das Virus einfangen – das haben wir in den letzten Monaten gelernt. Dafür muss man nicht nach Rumänien fliegen. Diese Aussage ist zynisch. 

In einem anderen Satz revidiert Laschet: Der Reproduktionsfaktor R sei in Rumänien und Bulgarien vergleichbar mit dem in NRW. Glauben Sie, die Schuldzuweisung von Laschet war einfach unglücklich formuliert?
Ja, bei Laschet glaube ich das schon. Bei Tönnies bin ich mir allerdings sicher, dass man versucht, die Schuld von sich zu weisen – von den Tätern auf die Opfer. 

Arbeitsminister Hubertus Heil will Tönnies für Schäden haftbar machen. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter fordert Entschädigungszahlungen aus dem Privat- und nicht aus dem Firmenvermögen. Welchen Effekt soll das haben?
Es darf keine gefühlte Gerechtigkeit gelten. Die Verantwortlichkeiten müssen geklärt und dann Schadensersatzansprüche rechtlich geltend gemacht werden. Das halte ich für überaus notwendig – um der Gerechtigkeit willen.

Sie kämpfen schon seit vielen Jahren gegen die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, lange bevor es Corona gab. Die mediale Aufmerksamkeit gibt es allerdings erst seit oder besser gesagt wegen Corona. Denken Sie, dass der Druck auf die Politik nun so groß ist, dass sie gar nicht mehr anders kann, als zu reagieren?
Ich hoffe, dass es so sein wird. Es besteht die Chance, sich aus eigener Betroffenheit heraus zu bewegen, weil die Öffentlichkeit jetzt hinschaut. Manchmal sehe ich das allerdings auch mit gemischten Gefühlen, weil die Menschen erst wach werden, wenn sie in der Nachbarschaft eine Massenunterkunft haben und um die eigene Gesundheit besorgter sind, als um das Wohlergehen der Mitmenschen. Aber im Endeffekt ist es wichtig, dass Veränderung eingefordert wird. Ich befürchte allerdings, dass es dafür keine Bereitschaft gibt, denn das System der Subunternehmer ist so kriminell durchseucht.

Unter welchen Bedingungen leben diese rumänischen und bulgarischen Leiharbeiter?
Zum einen sind da die äußerst schweren Arbeitsbedingungen – das Arbeiten auf Schlachthöfen war immer schwer –, und zum anderen, was in unserer Zeit dazugekommen ist, ist die Aushebelung des Arbeitsschutzes und der Sozialgesetzgebung. Über Werkverträge, Leiharbeit und andere Konstrukte hat man die Menschen aus der Stammbelegschaft verdrängt und durch solche atypischen Beschäftigungsverhältnisse ersetzt. Sicher auch mit dem Ziel, vom Radar der Kontrollmechanismen, Behörden, Gewerkschaften, und Betriebsräten zu verschwinden. Und so läuft es ja auch: Das, was in der Fleischindustrie und anderen Branchen passiert, rutscht vom Radar. Ganz offensichtlich funktionieren diese Kontrollmechanismen nicht. 

Welche Belastungen sind für die Leiharbeiter besonders schlimm?
Die Menschen arbeiten sechs Tage in der Woche; arbeiten zehn, elf, zwölf, manchmal noch mehr Stunden am Stück und werden über die Maße hinaus ausgebeutet. Sie sind total erschöpft und haben keine Möglichkeit, den Akku wieder aufzuladen, weil sie in Behausungen leben, in denen sie nicht zur Ruhe kommen können. Oft sind das überbelegte Unterkünfte, die aufgrund von erbärmlichen Sanitäranlagen oder Schimmelbefall in sich gesundheitsgefährdend sind. Dort können die Menschen gar nicht die Ruhe finden, die sie brauchen, um zu Kräften zu kommen. Das Ergebnis ist, dass die Menschen in kurzer Zeit „verschleißen“ und wenn sie dann „verschlissen“ sind, werden sie ausgetauscht. In der Summe von schlechten Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnissen, Transport zur Arbeitsstelle und Nichtintegration in die Gesellschaft sind das menschenunwürdige Verhältnisse. 

Sie stehen regelmäßig im Kontakt mit den rumänischen und bulgarischen Arbeitsmigranten. Wie groß ist ihre Angst vor dem Virus? 
Die Menschen haben mehrfach Angst und sitzen in der Zwickmühle. Sie haben Angst vor dem Virus. Sie haben aber auch Angst, arbeitslos zu werden. Sie haben Angst, in der Quarantäne nicht bezahlt zu werden. Viele haben Angst, können allerdings nicht so leicht aus ihrer Lebenssituation heraus, weil sie Geld für ihre Familien in der Heimat verdienen müssen. So gesehen hält sie eine Zwangssituation in diesen Verhältnissen. 

Welche Standards müssen sich ändern? 
Wenn die Maßstäbe, die in Deutschland gelten, in der Fleischindustrie durchgesetzt werden würden, dann hätte man schon sehr viel erreicht. Nur man kann sie eben nicht in diesem System durchsetzen, weil es die nötigen Kooperationspartner in der Fleischindustrie nicht gibt. Dort wird mit brutaler Menschenverachtung agiert. Es gibt einen Erlass des Bundesarbeitsministers, der besagt „ein Mensch, ein Raum“ – davon darf nur als Paar oder Familie abgewichen werden. In der Fleischindustrie lässt sich allerdings nicht erkennen, wo das eingehalten wird.  

Welche Maßnahmen müssen dafür als erstes ergriffen werden? 
Wir haben in Deutschland 3,5 bis 4 Millionen Arbeitsmigranten aus der EU. Damit diese Menschen hier vernünftig wohnen können, braucht es Anstrengungen des Sozialwohnungsbaus. Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie sind mehrheitlich keine Saisonarbeiter, die für drei Monate kommen, sondern durchgehend hier und holen zunehmend ihre Familien nach. Deswegen braucht es diese Anstrengungen umso mehr. Auch, damit die Menschen unsere Sprache lernen können und überhaupt eine Chance haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – was weitgehend nicht geschieht. 

NRWs Gesundheitsmister Karl-Joseph Laumann hat in einem ZDF-Interview gesagt, der Bund stehe in der Verantwortung, Gesetze für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie zu schaffen – nicht die Länder. Der Bundestag geht jedoch Anfang Juli in die Sommerpause. Mit einem entsprechenden Gesetz ist also frühestens ab Ende des Jahres zu rechnen. In welche Verantwortung bringt das die Länder?
Das Verbot der Werkvertrags- und Leiharbeit muss auf Bundesebene geregelt werden. Das übersteigt die Länderkompetenz. Doch so lange man diese Strukturen der Ausbeutung nicht ändert, wird das, was wir bei Tönnies beobachten können, auch an anderen Standorten passieren. So ein massiver Corona-Hotspot wird auch an anderen Stellen auftauchen, wo es vergleichbare Strukturen gibt – wie in der Geflügelschlachtindustrie oder dem Versandhandel. Jeder Tag, der nicht genutzt wird, um strukturell etwas zu ändern, wird möglicherweise ein verlorener Tag sein. 

Herr Kossen, seit Jahren setzten Sie sich gegen moderne Sklaverei ein und prägen den Begriff des „Wegwerfmenschen“. Meinen Sie, der „Wegwerfmensch“ ist sozusagen ein Nebenprodukt unserer Wegwerfgesellschaft?
Es gibt innere Zusammenhänge, dass man mit Menschen so umgeht, wie man mit Tieren oder der Natur umgeht. Die Achtsamkeit und die Wertschätzung guter Produkte ist auch eine Frage des Gegenwerts: Bin ich bereit mir die Frage zu stellen, was was wert ist? Bin ich bereit, diesen Wert zu honorieren, gegebenenfalls auch durch den Kaufpreis, weil ich es mir leisten kann und will. Wenn ich das nicht will, dann muss ich mir eben auch vor Augen führen, dass der Preis dann anderswo, von anderen, bezahlt wird – möglicherweise durch deren Gesundheit. Insofern ja, das ist auch ein Ausdruck unserer Wegwerfgesellschaft.

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