Cicero im Dezember - Geht's noch?

„Europa“ soll die Antwort auf fast alle Probleme unserer Zeit sein. Das klingt gut, geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Denn eine immer weiter fortschreitende Vergemeinschaftung der EU lässt demokratische Strukturen erodieren und birgt sozialen Sprengstoff. Jetzt entwickelt sich auch noch der Euro zum Sorgenkind. Höchste Zeit für eine realistische Bestandsaufnahme.

Cicero im Dezember / Ian Whadcock
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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„Europa ist die Antwort“: So lautete das apodiktische Motto der SPD zur zurückliegenden Europawahl. Aber welche Frage soll mit dem Begriff „Europa“ eigentlich beantwortet werden? Und was ist mit „Europa“ überhaupt gemeint gewesen? In damaligen Wahlkampfzeiten jedenfalls ganz sicher nicht der Kontinent als solcher, sondern vielmehr das politische Gebilde namens „Europäische Union“. Bringen wir es also auf den Punkt: Die deutschen Sozialdemokraten, übrigens keineswegs nur sie allein, halten die EU für ein alternativloses Zukunftsmodell. Und zwar im Sinne einer „Ever Closer Union“ – einer Staatengemeinschaft also, die sich unaufhaltsam in Richtung eines Bundesstaats entwickelt. Entsprechende Übertragung von immer mehr Kompetenzen aus den einzelnen Mitgliedsländern nach Brüssel inklusive.

Doch längst nicht alle EU-Bürger wollen sich mit einem Konzept anfreunden, das Jacques Delors einst mit dem Vergleich skizzierte, die Europäische Union sei wie ein Fahrrad: „Hält man es an, fällt es um.“ Denn diese Eigendynamik impliziert auch einen drohenden Kontrollverlust, der die freiheitsliebenden Briten bekanntlich dazu bewog, von dem Fahrrad lieber rechtzeitig abzusteigen, bevor ein Unfall passiert. Die politischen Eliten in Brüssel scheint das aber wenig beeindruckt zu haben, vielmehr legen sie seit dem Brexit noch an Tempo zu: Es werden Hunderte Milliarden schwere Corona-Wiederaufbauprogramme mit dem sprechenden Titel „Next Generation EU“ auf den Weg gebracht, der gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme wurden Tür und Tor geöffnet, und für die EZB ist der Euro als Gemeinschaftswährung schon längst Mittel zum Zweck schier unbegrenzter Anleihenkäufe geworden.

Der Euro und die polnische Verfassung

Ganz zu schweigen vom Europäischen Gerichtshof, der sich selbst zur alles bestimmenden Autorität auch weit über seine Kompetenzen hinaus ermächtigt. Kein Wunder, dass manchen doch sehr unbehaglich wird angesichts der Geschwindigkeit dieses europäischen Fahrrads, von dem man nicht einmal genau weiß, wer es eigentlich lenkt. Wenn wir mit dieser Ausgabe von Cicero einerseits die jüngsten Entwicklungen in Sachen Währungspolitik kritisch hinterfragen und andererseits den aktuellen Verfassungsstreit mit Polen auseinanderdröseln, hat das also nichts mit chauvinistischer Europa-Skepsis zu tun.

Sondern, im Gegenteil, mit dem berechtigten Interesse der Europäerinnen und Europäer an Transparenz, an Vertragstreue und an demokratischen Prinzipien. Denn ein „Europa“, das seine Bewohner mit hohlen Sprüchen, mit viel umzuverteilendem Geld und mit gelegentlichen Drohungen glaubt, auf Linie bringen zu müssen, ist ganz bestimmt keine gute „Antwort“. Egal, wie die Frage lautet.

 

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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