Christian Lindner im „Borchardt“ - Seid umschlungen, Millionen!

Der FDP-Chef Christian Lindner umarmt einen Bekannten vor dem Berliner Prominentenrestaurant Borchardt. Vor Corona wäre man von der Herzlichkeit des Liberalen vielleicht überrascht gewesen, jetzt wird er von der Twitter-Polizei gemaßregelt.

Bislang braver Maskenträger, auch im Bundestag: Christian Lindner / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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FDPler, möchte man meinen, sind Menschen des Handschlags. Schließlich gelten sie als politische Interessensvertreter von Unternehmern und Dealmakern, und zu jedem Deal, das wissen wir spätestens seit Donald Trump, gehört ein fester Händedruck. Der Handschlag allerdings ist seit der Corona-Pandemie in Verruf geraten und die Wirtschaft geht den Bach runter. Keine guten Zeiten für Liberale, vor allem für solche, bei denen es nicht nur beim Handschlag bleibt. Denn erstaunlicherweise sind Freie Demokraten auch Freunde der Umarmung. 

Bei Christian Lindner hat sich dies gerade wieder gezeigt, indem er Wirtschaft und körperliche Nähe auf eine ungeschickte Weise in der Halböffentlichkeit verband. Am Freitagabend dinierte er im Berliner Nobelrestaurant Borchardt, das an diesem Tag zum ersten Mal seit Beginn des Corona-Lockdowns wieder öffnen durfte. Prompt kam an jenem Abend die Polizei, weil jemand sich beschwert hatte, dass in dem Restaurant die Sicherheitsabstände zur Bekämpfung der Virusausbreitung angeblich nicht eingehalten würden. Der Betreiber bestritt dies, die Polizei sprach gegenüber der Berliner Boulevardzeitung BZ von etwa 300 Personen, die sich gleichzeitig im Borchardt aufgehalten hätten - viel zu viele.  

Beim Umarmen fotografiert

Das, sei hier gleich gesagt, ist natürlich nicht Lindners Problem, sondern das des Restaurantbesitzers. Als Gast konnte der FDP-Chef wenig Einfluss darauf nehmen, wie viele Menschen sich gleichzeitig im Lokal aufhielten. Dass ihm nun die Twitter-Polizei vorwirft, sich verantwortungslos zu verhalten, hat einen anderen Hintergrund: Er hat jemanden umarmt. 

Denn offenbar dinierten Lindner und seine Freundin Franca Lehfeldt mit dem Unternehmer Steffen Göpel, der auch Honorarkonsul von Weißrussland ist. Zum Abschied umarmte Lindner, seine Schutzmaske unters Kinn gezogen, Göpel herzlich vor der Tür des Borchardt. Und wurde dabei fotografiert. Das Bild landete bei BZ, dann bei Twitter und nötigte Lindner letztlich zu einer Entschuldigung, die er über den Spiegel verlautbaren ließ

Am Ende „bleibt man Mensch“

Denn das Ganze wurde prompt zum Aufreger: Ein Spitzenpolitiker, der sich nicht an die Schutzmaßnahmen gegen das Virus hält. Bald schon wurde spekuliert, ob Lindner absichtlich auf die Vorsichtsmaßnahmen pfeife, ob er auch zu den Zweiflern gehöre, die Corona nach wie vor für mit einer einfachen Grippe vergleichbar halten. Andere versuchten, das Abendessen zu einem Lobby-Skandal aufzublähen, schließlich sehe man hier, wie unschön verquickt Politik und Wirtschaft seien. 

Es sei „kein Vorsatz“ gewesen, eine „Unkonzentriertheit“, „ein Fehler“, versuchte Lindner sogleich zu beschwichtigen und die Umarmung zu erklären. Am Ende bleibe man Mensch, sagt er dem Spiegel. Und ist es denn nicht auch so? Im Grunde sehnen wir uns alle nach einem Stück alter Normalität, nach einem geselligen Abend mit Freunden, die wir zur Begrüßung und Verabschiedung umarmen können. Politikern geht es da nicht anders, und vielleicht sollte man gnädig sein, auch wenn sie eine gewisse Vorbildfunktion haben. Jedenfalls entsteht, wenn man sich derzeit durch eine Stadt wie Berlin bewegt, nicht gerade der Eindruck, dass sich noch besonders viele Menschen an Abstandsregeln und Maskengebote halten. Warum sollte ausgerechnet ein Liberaler, dem es per se um so wenig Regeln und so viel Freiheit wie möglich geht, der moralische Leitstern sein?

Dass Lindner sich mit einem Immobilienunternehmer zum Abendessen trifft, darauf ging er in seiner Entschuldigungsoffensive nicht ein. Es wäre auch nicht angebracht gewesen. Schließlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen aus Politik und Wirtschaft auch privat befreundet sind - das dürfte für alle Parteien gelten, die ja in allererster Linie Interessensvertretungen sind. Darüber hinaus dürfte Lindners politischer Einfluss zur Zeit gelinde gesagt eh eher bescheiden sein.

Der Fall weckt allerdings Erinnerungen an einen Vorgänger Lindners, der immerhin mal Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister war, also Regierungsverantwortung getragen hat: Philipp Rösler traf 2013 im Silicon Valley auf Kai Diekmann, seines Zeichens damals noch Chef der Boulevardzeitung Bild. Die Umarmung der beiden Machtmenschen wirkte auf einem Foto so herzlich, so Bromance-haft, dass eine Debatte darüber entstand, wie innig befreundet Politiker und Medienmenschen sein dürfen. Die Antwort spielte im Fall Rösler ein paar Monate später keine Rolle mehr, denn die FDP flog aus dem Bundestag und Rösler landete in der vorläufigen Bedeutungslosigkeit. Aus der versucht sich Lindner hingegen derzeit zu befreien. 

 
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