En Passant - Wundersame Verwandlung der CDU

Nach der Thüringen-Wahl war die CDU sowohl auf die Linkspartei als auch auf die AfD zugegangen. Was nach Opportunismus aussieht, muss jedoch in unserer modernen Welt kein Widerspruch mehr sein

Erschienen in Ausgabe
Das Verhalten der CDU in Thüringen passt zu alten Kinderbüchern
Anzeige

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

So erreichen Sie Sophie Dannenberg:

Anzeige

Alle klagen über unsere schnelllebige Zeit und hängen Weihnachtsdeko auf, aber ich bin hinterher. Beim Shoppen, mitten im Spielwarenladen, zerbrach ich mir immer noch den Kopf über die Thüringenwahl. Warum bloß, fragte ich mich, ist die CDU auf die Linkspartei zugegangen? Und zeitgleich auf die AfD? Beides ist ja total skurril.

Und siehe da, die Antwort lag plötzlich vor mir, in Form eines Verwandlungsbuchs. Jeder kennt das: Die Seiten sind mehrfach geteilt, sodass beim Umblättern immer neue Bildkombinationen entstehen. Hier ging es um Tiere, die sich in Chimären verwandeln ließen, also zum Beispiel oben Affe, unten Maus und in der Mitte Schwein. Das Prinzip funktioniert auch mit anderen Figuren und ist ziemlich alt.

Eines der ersten Verwandlungsbücher für Kinder, „Walter Wonderment’s Wonderful Changes“, erschien 1863 in London und ist jetzt vergilbt und teuer bei Sotheby’s zu haben. In Deutschland war „Die lustige Tante“ von Lothar Meggendorfer, 1891, beliebt. Die Tante kann zum Beispiel oben feine Dame, unten Blumenmädchen und in der Mitte Gouvernante sein. Sieht lustig aus, ist aber revolutionär, wenn man bedenkt, dass hier nicht nur die Kostüme, sondern auch die Stände miteinander gemischt werden.

Über Verbindlichkeiten und multiple Optionen

Die Idee des beweglichen Bilderbuchs ist übrigens älter als der Buchdruck, als Kinderspiel auch für Erwachsene verbreiten sich die Klappbilderbögen ab dem 18. Jahrhundert. Also mit dem Beginn der Moderne. Und das ist spannend. Die Moderne zeichnet sich ja vor allem dadurch aus, dass aus Verbindlichkeiten multiple Optionen werden. Die Verwandlungsbücher zeigten diese Entwicklung schon auf, bevor sie irgendein Gesellschaftstheoretiker formulieren konnte.

Tatsächlich waren sie visionäre Versuchsanordnungen und spielten systematisch durch, was passiert, wenn man, wie in der klassenlosen Gesellschaft, die Dame mit dem Blumenmädchen gleichsetzt oder, wie in der Gentechnik, Affe und Schwein kreuzt – lange bevor es so was überhaupt gab. Das Ergebnis kann ulkig oder erschreckend sein, fast immer ist es spektakulär, aber erstaunlicherweise nie schön. Denn das ist das Herz der Moderne: die letztlich banale Kombination von allem mit allem. Nichts anderes passiert in der Politik. Eine Synthese von CDU, AfD und Linkspartei wäre folgerichtig, einfach darum, weil sie technisch möglich ist. Wer sich darüber aufregt, ist also ein Anachronist.

Dieser Text ist in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

 

 

 

Anzeige