Bundestagswahlkampf - Wandelnder Widerspruch

Die Sozial­demokraten berauschen sich an ihrem Kanzler­kandidaten Martin Schulz. Sie glauben wieder an den Wahlsieg. Doch kann ihn die Welle der Euphorie tatsächlich bis ins Kanzleramt tragen?

Erschienen in Ausgabe
Wird der Schulz-Effekt verpuffen? / Jörg Brüggemann
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Von einem Zug reden sie in der SPD neuerdings mit glasig glänzenden Augen. Noch weiß niemand, wo dieser Zug am Ende einfahren wird, aber hier, in der Schöneberger Straße 3 in Berlin-Kreuzberg, fährt er jedenfalls los. Jeden Morgen gegen halb neun.

In Sichtweite der Mauerreste des Anhalter Bahnhofs ducken sich zwei dunkle Limousinen mit Bonner Kennzeichen. Vor dem Eingang eines gehobenen Mittelklassehotels steht ein Grüppchen junger Leute mit eingezogenen Köpfen, um ihr Nikotindepot hastig aufzufüllen. Als ein gedrungener Mann durch die Tür nach draußen in Richtung der beiden Wagen stürmt, kommt Leben in die Gruppe. Sie stupsen sich, recken die Hälse, tuscheln. Satzfetzen zwischen Rauchschwaden: „Schau mal … das ist doch der …“ Dann fällt ein Allerweltsname. Der Mann bemerkt die Aufmerksamkeit, die ihm nicht unangenehm ist, reagiert aber nicht. Mit Schwung steigt er stattdessen in den Wagen. Tür zu, und die beiden Limousinen gleiten los. 

Martin Schulz macht sich auf die Reise, die ihn, wenn es nach ihm und seiner SPD geht, am 24. September ins Kanzleramt führen soll, Luftlinie vielleicht zwei Kilometer entfernt von seiner Berliner Bleibe für die nächsten sechs Monate. Die Leute drehen sich nach Martin Schulz um. Der Mann mit einem Allerweltsnamen und einem runden Allerweltsgesicht ist plötzlich ein Star. Wie aus dem Nichts gekommen. Ein 61-Jähriger als Neuentdeckung. Schulz war immer schon da, aber selten besonders aufgefallen. Außer sich selbst. 

Vom Nobody zum Kanzlerkandidat

Mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat Sigmar Gabriel seiner SPD einen letzten Dienst als Vorsitzender erwiesen. Gabriels Coup, einhergehend mit dem persönlichen Verzicht, hat die gesamte politische Landschaft umgeformt. Wie von Packeis befreit wirkt sie. Deutschland erlebt einen politischen Frühling, wie ihn sich selbst erfahrene Meinungsforscher kaum erklären können. Wie betoniert schienen die Umfragen über Monate und Jahre, die SPD immer im 20-Prozent-Keller. Und auf einmal schießen die Sozialdemokraten auf 32 Prozent. Bei der Kanzlerfrage begegnet Schulz, der eben noch ein Nobody war, Angela Merkel, die das Land seit elfeinhalb Jahren regiert, auf Augenhöhe. Und die Genossen berauschen sich an ihrem Kanzlerkandidaten, wählen ihn einstimmig zum neuen SPD-Vorsitzenden. So etwas hat es in der Partei noch nicht gegeben. Ein Phänomen ist dieser Stimmungsumschwung. Neugier und Spannung sind zurück. Plötzlich ist nicht mehr sicher, dass Merkel im Herbst eine vierte Amtszeit beschieden sein wird. Die Bundestagswahl ist wieder offen. 
Wie konnte das passieren? Was lag da verborgen? Wieso gibt es mit einem Mal eine Wechselstimmung im Lande, von der es vor kurzem kein Anzeichen gab? 

Die Suche nach dem Ursprung dieses Phänomens führt zurück in den Herbst vergangenen Jahres. Sigmar Gabriel war noch Parteichef, Wirtschaftsminister und potenzieller Kanzlerkandidat. Kurz aufeinander hatte die SPD in ihrer Bundestagsfraktion Frank Stauss und Renate Köcher zu Gast. Beide Parteienexperten, der eine zugleich politischer Campaigner, die andere Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach. Sie eher der CDU zugetan, er SPD-Mitglied. Aber beide, Köcher und Stauss, präsentierten den Abgeordneten der SPD übereinstimmende Zahlen. Das Potenzial ihrer Partei liege bei 37 Prozent, viele ihrer Themen, wie etwa Mindestlohn oder flexibleres Arbeitslosengeld I, erreichten sogar eine Zweidrittelmehrheit. Bei der Sonntagsfrage jedoch verharrte die SPD bei 20 Prozent. Was wie ein Rätsel wirkte, löste sich jetzt auf: Sigmar Gabriel lag als Person wie eine Grabplatte auf seiner Partei. Er konnte machen, was er wollte. Er kam bei den Menschen nicht an. Als möglicher Kanzler war er bei den Wählern bereits durchgefallen. Gabriel selbst war sich dessen lange bewusst und wartete nur auf den Moment, die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Zweifel der CDU

Die Konsequenz bei der SPD heißt Martin Schulz. Und das Problem bei der CDU heißt plötzlich Angela Merkel. Monatelang hatten sich die innerparteilichen Gegner zurückgehalten, sich der Kanzlerin bis zur Selbstverleugnung untergeordnet, sich insbesondere in der Flüchtlingspolitik auf die Zunge gebissen. Schließlich versprach Merkel den abermaligen Wahlsieg. Zweifel gab es keine. Die Frage schien nur zu sein, mit welchem Vorsprung die Union stärkste Partei wird und mit wem Merkel zukünftig regiert. Und nun das: ein dramatischer Stimmungsumschwung, der sich zum Trend auswachsen kann. Und noch zwei weitere Landtagswahlen vor der Tür, bevor der Bundestagswahlkampf in seine heiße Phase tritt: Fest eingeplante Siege könnten sich in Niederlagen verwandeln. Schlechter hätte das Wahljahr für die CDU nicht beginnen können.

Drei Muster waren in den ersten Tagen des neuen Herausforderers bei der Union zu beobachten: erst Sprachlosigkeit, dann Diffamierung, schließlich Zweckoptimismus. „Das schweißt uns zusammen!“, sagt Carsten Linnemann, der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU, einer der ganz wenigen, der sich in den Monaten zuvor kritische Bemerkungen über Merkels Kurs erlaubt hat. 
Aber stimmt das? Oder besser: Reicht das? 

Keine Reaktion

Im stumm leidenden Kreis der Merkel-Kritiker in der CDU wird fassungslos beobachtet, wie die CDU-Spitze auf den überraschenden Herausforderer reagiert: gar nicht. Als Dreieck des Grauens werden Generalsekretär Peter Tauber, Fraktionschef Volker Kauder und Kanzleramtsminister Peter Altmaier ausgemacht. Aber das wispern einem Christdemokraten nur hinter vorgehaltener Hand zu. Wer sich als Kritiker zu erkennen gibt, findet sich auf den Landeslisten schnell auf den hinteren Plätzen wieder. Der Wahlkampfprofi Frank Stauss, der die Aussichten der Sozialdemokraten im Herbst noch in düsteren Farben beschrieben hatte, liest inzwischen aus den Beschimpfungen und den Rundumschlägen der CDU gegen Schulz eine gewisse Ohnmacht heraus. Ihr Kampf gegen den Abschied von der Macht lege „offen, was der Union fehlt: eine einzige, winzige Idee davon, warum man für die Union sein sollte und nicht nur gegen die anderen. Die Hütte brennt lichterloh.“

Daniel Günther formuliert es in der Gemeinschaftsschule von Bad Schwartau an einem Mittwochabend Anfang März etwas dezenter. Der zartgliedrige Mann steht auf dem grauen Filz eines kreisrunden Podests inmitten der Mensa, umringt von einem Publikum, das so handfest ist wie die Gegend hier. Günther, 43 Jahre alt, jungenhaftes Äußeres, freundliches Wesen, möchte am 7. Mai Ministerpräsident von Schleswig-Holstein werden. Bis vor kurzem hatte der christdemokratische Blitzstarter, nach dem überraschenden Rücktritt seines Vorgängers so kurz vor der Wahl, ziemlich gute Aussichten. Bei 34 Prozent sah eine Umfrage Anfang Dezember die CDU, satte 8 Prozentpunkte vor der SPD des Amtsinhabers Torsten Albig. 

Es wird schwer

Fühlt sich lange her an. Die letzte eigene Umfrage aus der unmittelbaren Nominierungsphase von Martin Schulz hat die CDU im Norden gar nicht mehr öffentlich gemacht. Wäre nicht hilfreich gewesen. Der Moderator in Bad Schwartau kündigt den „Spitzenkandidaten und künftigen Ministerpräsidenten“ an, da murmelt der vierschrötige Sitznachbar: „Seh ich noch nich so. Wird schwer.“ Lichtkegel flackern etwas verloren durch den Raum. Dann umfasst Günther das Mikrofon mit beiden Händen wie einen Ast, an dem er sich festhält, und sagt, was zu sagen ist, nämlich, dass die CDU alle Chancen habe, die Regierungsmehrheit zu erlangen. Er sagt aber auch, rechtschaffen, wie er ist: „Die Umfrageergebnisse der Union auf Bundes­ebene waren schon mal besser.“ Es sei nicht mehr so: „Der Gabriel hat eh keine Chance, und die Merkel ist ja da, da kann ja nix anbrennen.“ 

Es kann jetzt eben doch etwas anbrennen. Die Stimmung in der CDU lässt sich irgendwo zwischen 1994 und 1998 verorten. 1994 war der Bundeskanzler Helmut Kohl nach zwölf Jahren schon nicht mehr im Zenit seiner Macht, aber die Kraft der SPD reichte noch nicht, den Christdemokraten abzulösen. Damals hieß der SPD-Kandidat Rudolf Scharping. Der fing auch stark an und ließ dann noch stärker nach. Massive Patzer, die als „Brutto, Netto, Mexiko“ ins kollektive politische Gedächtnis eingingen, und eine Rote-Socken-Debatte um ein mögliches Bündnis mit der SED-Nachfolgepartei PDS ließen ihn straucheln. Der Rückhalt der Parteifreunde schwand in dem Maß, in dem er Schwächen zeigte. Scharping verlor. 1998 war es dann aber so weit. Gerhard Schröder drängte einen Kohl aus dem Amt, der nicht hören wollte, als ihm engste Parteifreunde rieten, von der Kandidatur zu lassen, weil er die Wahl nicht mehr gewinnen werde. 

Akribie und Zielstrebigkeit

Martin Schulz trägt zwar Bart und Brille wie Scharping. Im Wesen und von der Herkunft ähnelt er aber viel mehr Schröder. Schulz strotzt vor Willen und Selbstbewusstsein. Er kommt wie Schröder aus einfachen Verhältnissen und hat sich gegen viele Widerstände nach oben gearbeitet. Er will auch das Unmögliche. Als EU-Parlamentspräsident etwa wollte er Kommissionspräsident werden. Auf den Einwand seiner Leute, das gehe gar nicht, es seien zwei völlig unterschiedliche Wege, die zu diesen beiden Ämtern führten, sagte er: Ist mir egal. Ich will das werden. 

Menschen, die ihn gut kennen, die ihn aus der Nähe erlebt haben, erzählen von einem Machtdrang, dem er alles unterordnet. Die Familie, private Interessen, alles. Auch das Schicksal anderer Menschen. Einen „Meuchler“ nennt ihn so jemand. Aber zugleich reden die gleichen Menschen auch voller Bewunderung über diesen Kugelblitz. Zwei Buchtitel fallen: „Ein Mann will nach oben“ und: „Kleiner Mann – was nun?“ Jahrzehntelang habe er über Parteigrenzen hinweg in ganz Europa ein enges Netzwerk geknüpft. Eine fast manische Akribie und Zielstrebigkeit werden Schulz bescheinigt. Ein Mundwerk wie ein Maschinengewehr. Wie seinerzeit Franz Müntefering verkörpert er die traditionelle SPD. Das unterscheidet ihn wieder von Schröder. Da ist nichts mit Brioni. 

Gefühle vor Fakten

Er werde sich weder seinen Bart abnehmen noch eine andere Brille zulegen, keine anderen Anzüge und Krawatten tragen und auch kein Hannover-Deutsch lernen, hat Schulz seinen Wahlkampfberatern unmissverständlich erklärt. Müntes Look mit dem altmodischen Halbohr-Haarschnitt war auch irgendwann Kult. Schulz spricht Münteferings einfache Sprache, nur nicht mit Sauerländer Färbung, sondern im Sound von Aachen und Umgebung. Würselen-Deutsch. 

Politisch steht Schulz deutlich links von Schröder. Sein Angriff auf dessen Agenda 2010 hat ihm die erste große Welle an Zuspruch und Aufmerksamkeit beschert. Der Altkanzler wird ihm dafür die Absolution erteilen. Inhaltlich ist die Ausdehnung des Arbeitslosengelds I streitbar. Taktisch ist es ein Coup. Arbeitsministerin Andrea Nahles, deren eigene Aussichten umso mehr schwinden, je näher Schulz dem Kanzleramt kommt, arbeitet abgestimmt mit ihm zusammen. Patzer passieren. Schulz hat behauptet, unter den jungen Leuten befänden sich 40 Prozent in befristeten Arbeitsverhältnissen. Tatsächlich sind es 14. Die Zahl der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse nimmt entgegen seiner Kampagne zu. Aber solange der Hype anhält, stören solche Ungenauigkeiten kaum jemanden. Zumal es Schulz nicht in erster Linie um Fakten geht, sondern um Gefühle. Um eine gefühlte Ungerechtigkeit.

Es ist, als vertone Schulz den Sachbuchbestseller „Die Abstiegsgesellschaft“ von Oliver Nachtwey. Der Soziologe hält die Agenda 2010 für den endgültigen Wendepunkt einer Entwicklung, die in den siebziger Jahren ihren Anfang genommen hat. Bis dahin galt die These des Fahrstuhleffekts von Ulrich Beck, wonach alle gemeinsam, egal welcher Klasse oder Schicht sie angehören, infolge einer Wohlstandsexplosion im Fahrstuhl der sozialen Verbesserung mit nach oben fahren, kollektiv zu mehr Verdienst, Bildung oder Konsum kommen. Ab 1973 kippte die Entwicklung, so Nachtwey. Seither geht es für einige weiter nach oben. Für andere aber fährt der Fahrstuhl wieder nach unten. Das ist das, was der Wissenschaftler die Abstiegsgesellschaft nennt und was Martin Schulz aufgreift.

Der wandelnde Widerspruch

Dabei ist der SPD-Kanzlerkandidat kein Funktionärslinker. In einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion hat er einmal aus dem „Tagebuch einer Schnecke“ von Günter Grass zitiert. Dort berichtet der Erzähler, als das literarische Alter Ego von Grass, zu Hause über seine Eindrücke im Bundestagswahlkampf Willy Brandts in den sechziger Jahren. Heute, erzählt der Heimkehrer einmal, habe er endlich begriffen, was ein Sozialdemokrat sei. Was denn, will die Familie wissen. Ein Sozialdemokrat sei einer, dem die Strahlkraft einer Resolution wichtiger sei als praktische Politik, als Regieren. So ein Sozialdemokrat ist Schulz nicht. 

Er ist schwer zu packen, ein wandelnder Widerspruch. Aber genau das macht ihn für die CDU so gefährlich. Er wird als neu wahrgenommen, dabei ist er kein Novize, kein Greenhorn. Er sagt seit 20 Jahren die gleichen Dinge, aber sie klingen neu, weil ihm bisher keiner wirklich zugehört hat. Er wird nicht als Berliner Polit-Apparatschik wahrgenommen, im tiefsten Innern blieb ihm Berlin immer zuwider. Dabei ist er ein Europa-Apparatschik, was eigentlich die Quadratur des Berlin-Apparatschiks ist. Er gilt in der Hauptstadt als Seiteneinsteiger, dabei sitzt niemand länger im SPD-Präsidium als Martin Schulz. Seit 1999 hat er dort alle Grundzüge der Parteipolitik mit abgesegnet. Und setzt sich nun von vielen Parteibeschlüssen ab. 

Man kann das Chuzpe nennen. Oder einen miesen Trick. Man könnte auch sagen, Schulz ist ein gelehriger Schüler von Gerhard Schröder. Der hatte zuletzt im Bundestagswahlkampf 2005 das Kunststück fertiggebracht, einerseits seine Agenda 2010 zu verteidigen und andererseits den Wählern Versprechungen zu machen, die diese infrage stellten. Beinahe hätte der damalige Kanzler einen schier aussichtslosen Wahlkampf so noch zu seinen Gunsten entschieden.

Albigs Alleingänge

Ein Freitag in Ratzeburg, das Seehotel empfängt Torsten Albig, den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Draußen vor den Fenstern wiegen sich die Schilfhalme im Wind, drinnen versammelt sich die SPD-Klientel. Der Pressesprecherin der Partei entfährt zu Schulz erst mal ein Wort: „Hammer!“ Die ersten Veranstaltungen mit dem neuen Kandidaten hätten zu Platznöten geführt. 1200 Leute allein in Lübeck. „Hammer“, sagt sie nochmals. Und 500 Leute sind in die SPD eingetreten, seit Schulz nominiert ist. „Hammer.“

Albig ist kein Mann, dem die sozialdemokratischen Herzen zufliegen wie Schulz. Er kämpft gegen den Wind, der draußen das Schilf kämmt. Präziser: gegen die vielen Windräder im Land, die viele Bürger in Wut versetzen. Auch an diesem Abend bekommt er es damit zu tun. Er verteidigt seine Position mit der gleichen Beharrlichkeit (und leisen Arroganz) wie seine Position zu Afghanistan: Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein hat verfügt, dass bis auf Weiteres keine Flüchtlinge ins Land am Hindukusch abgeschoben werden. 

Manche SPD-Wahlkampfstrategen in Berlin haben da die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. Wieder ein echter Albig. Haut immer mal so einen raus. So wie vor vier Jahren, als er seine Partei wissen ließ, er habe dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück freundschaftlich abgeraten. Zwischenzeitlich hat Albig öffentlich verlauten lassen, die SPD könne sich 2017 sparen, mit einem eigenen Kandidaten anzutreten. Inzwischen kann er ganz froh sein, dass es ihn gibt. „A rising tide lifts all ships“, hat Margaret Thatcher einmal gesagt. Die Schulz-Flut hat Albig wieder eine Handbreit Wasser unterm Kiel verschafft. In der jüngsten Umfrage hat die SPD in Schleswig-Holstein 7 Prozentpunkte zugelegt, die CDU hat 7 Punkte verloren. Der Schulz-Effekt schlägt auch im nördlichsten Bundesland voll durch. 

Achillesferse: Flüchtlingsfrage

Dabei verzichtet Schulz darauf, Merkel an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Der neue SPD-Vorsitzende ignoriert das Vermächtnis seines Vorgängers. Im Rücktrittsinterview im Stern hatte Sigmar Gabriel Merkels Alleingang in der Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 massiv kritisiert. Und die Marschrichtung vorgegeben. Seine Marschrichtung. Er sprach vom „Kontrollverlust“ der Kanzlerin, „nicht nur mit Blick auf die massenhafte unkontrollierte Zuwanderung“. Niemals hätten in seinen Augen „Kanzler wie Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder Entscheidungen über die Öffnung der Grenzen getroffen, ohne wenigstens einmal mit unseren Nachbarn zu sprechen“. Die „Naivität“, mit der das erfolgt sei, habe er „nie für richtig erklärt“. Schließlich: „Angela Merkel hat eben Deutschland und Europa gerade in dieser Frage in eine Sackgasse geführt.“ 

Von Schulz dazu kein Wort in dieser Richtung. Stattdessen setzt er sich für den Familiennachzug ein. Er versucht, das bestimmende innenpolitische Thema der vergangenen zwei Jahre zu übertünchen mit seinem Reden von der Gerechtigkeit. Schulz wird die Kanzlerin nicht an deren Achillesferse attackieren. Vermutlich, weil es auch seine ist. Auch er hat sich in der akuten Phase nach der Grenzöffnung euphorisch gezeigt über die positiven Folgen des Flüchtlingsstroms. „Wertvoller als Gold“ seien die Menschen, die ins Land kämen. Ganz so ist es nicht gekommen. 

Einstweilen gelingt es: das Ausblenden dieses Themas. Aber was, wenn es zurückkommt? Wenn die nächste Welle kommt, wenn Erdogans Türkei abermals Hunderttausende in Marsch setzt? 

„Wer tut Martin richtig weh? AfD!“

Noch rollt der Zug in Richtung Kanzleramt. Vor der Stadthalle in Kamen in Westfalen warten an diesem Sonntagmorgen die ersten Schaulustigen schon kurz vor neun. Hinter einer Absperrung hat sich ein Grüppchen von AfD-Anhängern postiert und skandiert Parolen. „Wer tut Martin richtig weh?“, ruft einer ins Megafon in Richtung Wartende. „AfD!“, reimen seine Freunde in Hellblau. Der Frontmann der AfD hier ist ein ehemaliger Sozialdemokrat. 

Jürgen Coße kratzt das an diesem Morgen gar nicht. Es ist lange her, dass man Genossen wie ihn so frohgemut und so aufrechten Ganges erlebt hat. Die Älteren, sagt der Bundestagsabgeordnete Coße, der früher im Parteirat saß, „die Älteren sagen: Das ist wie bei Willy Brandt damals.“ Alle acht Minuten, rechnet der Moderator später auf der Bühne vor, würde jemand in die NRW-SPD eintreten. Schulz zieht gegen elf Uhr in die Halle ein wie seinerzeit Lafontaine und Schröder. Ein Spektakel. Ein Heimspiel. „Es sind gute Zeiten für die Sozialdemokratie!“, ruft Hannelore Kraft in den Saal und kündigt den an, mit dem das alles zusammenhängt: das Wunder aus Würselen. 

Der Schulz-Sound

Seine Rede ist aufschlussreich. Der Kandidat probt seinen Text für die kommenden Monate. Er spielt SPD-Oldies wie eine Juke-Box. Die Grundmelodie erinnert an jene, mit der Schröder 1998 gegen Kohl angetreten ist. Danke Helmut, es reicht, hieß eine Parole, eine andere lautete: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.“ Bei Schulz klingt das so: Deutschland ist ein starkes Land, aber es gibt auch Probleme. „Es ist vieles gut, aber es ist auch vieles nicht gerecht.“ Den ehrbaren Bäckermeister stellt er gegen den windigen Konzern. Den absahnenden Spitzenmanager gegen die rechtschaffene Verkäuferin. So klingt Populismus von links. „Wenn ein Bäckerladen seine Steuern zahlt und ein amerikanischer Kaffeekonzern seine Milliarden am Fiskus vorbeischleust, dann ist das nicht gerecht!“, schimpft er. Der Zusatz „dann ist das nicht gerecht“ zieht sich wie ein Refrain durch seine Rede. Immer geht es bei ihm um die da oben gegen die da unten. Er wettert gegen die Statistik, weil sie die Nöte der kleinen Leute nicht abbilde. Und er packt die Globalisierungsgewinner bei den Hörnern, verspricht: „Ich werde als Bundeskanzler im Prinzip auf die Agenda der EU setzen: Das Land des Gewinns ist das Land, wo du deine Steuern zahlst!“ Bevor der Zug weiterrollt, hält er noch ein flammendes Plädoyer für Europa und ein ebenso flammendes Plädoyer gegen all jene, die er „moderne Ultranationalisten“ nennt. Zur Flüchtlingskrise verliert er auch in Kamen kein Wort. 

Der Schulz-Sound dürfte sich in den kommenden Monaten kaum ändern. Vor allem zu zwei Themen wird er schweigen. Zur Frage, mit welchen Parteien er nach der Wahl eine Koalition bilden will, um tatsächlich ins Kanzleramt einziehen zu können, und zur Flüchtlingspolitik. Er weiß, auf die Machtfrage gibt es im Vielparteiensystem nur komplizierte Antworten, die die Wähler vor allem verwirren oder verunsichern. Und mit dem Thema Flüchtlinge kann er nicht gewinnen, sondern nur verlieren. Zu tief ist der Riss, der sich hier in den vergangenen zwei Jahren zwischen der Bevölkerung und allen Parteien aufgetan hat. Ansonsten wird Schulz politisch weitgehend vage bleiben, viel Gefühl zeigen und wenig Konkretes versprechen. Vage bleiben, das hat ihm auch Gerhard Schröder geraten, der bislang letzte sozialdemokratische Kanzler. 

Der Schulz-Effekt

Sein erstes Etappenziel hat der Kanzlerkandidat bereits vor Augen: Bei den Landtagswahlen dieses Frühjahrs will er vor allem ein Signal setzen. Rot schlägt Schwarz. Die SPD kann siegen. Und wenn anschließend hier oder dort eine Große Koalition unter Führung der SPD steht, wird Schulz wenig dagegen einzuwenden haben. Denn auf diesem Gleis soll der Schulz-Zug im September auch in Berlin einrollen. Die nächsten Stationen auf dem Weg dorthin heißen Kiel und Düsseldorf. Anschließend wird man besser einschätzen können, ob ihn die Welle der Euphorie wie seinerzeit Gerhard Schröder 1998 bis ins Kanzleramt trägt. Oder ob der Schulz-Effekt verpufft und die Sache ausgeht wie bei Rudolf Scharping 1994. 

 

Dieser Text stammt aus der Aprilausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.      

 

 

 

 

 

 

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