Bundestagswahlkampf - „Gabriel kann Kanzler“

Die deutliche Zustimmung der SPD zum Freihandelsabkommen Ceta stärkt Sigmar Gabriel den Rücken. Die Kanzlerkandidatur ist ihm offenbar kaum noch zu nehmen. Gabriel könnte sogar Merkel schlagen, sagt Volker Riegger, einst Berater von Willy Brandt

Neue Stärke nach dem Parteikonvent: Sigmar Gabriel / picture alliance
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Florian Beißwanger ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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Herr Riegger, Sie waren an der Konzeption des SPD-Bundestagswahlkampfes 1972 beteiligt. Damals holte Willy Brandt 45,8 Prozent der Stimmen. Inzwischen hat sich der Stimmenanteil für die SPD halbiert. Wie gewinnen die Sozialdemokraten wieder eine Bundestagswahl?
Sie müssen wieder eine Geschichte erzählen, die eine Mehrheit von Menschen anspricht, bewegt und überzeugt.

Und Sigmar Gabriel kann das?
Er ist neben Frank-Walter Steinmeier von den führenden Personen der SPD für das Amt des Bundeskanzlers am besten geeignet. Wer eine so anspruchsvolle und breit aufgestellte Partei wie die SPD zusammenhalten kann, der kann auch Kanzler. Seine bisherigen Personalentscheidungen mit Blick auf den Wahlkampf sind erstklassig. Und mit dem Thema „Mehr Gleichheit!“ ist in Zeiten wie diesen ein Bundestagswahlkampf zu gewinnen.  

Rechnerisch hätte Rot-Rot-Grün im Bundestag eine Mehrheit. Warum verlässt die SPD nicht die Große Koalition und bildet mit den Grünen und Linken eine Regierung?
Rot-Rot-Grün würde zum dauerhaften Bettvorleger des rechten Lagers in Deutschland werden. Koalitionen macht man entweder direkt nach der Wahl, wie Brandt und Scheel 1969, oder man bereitet sie sorgfältig vor, wie das Helmut Kohl mit Genscher 1980/82 oder Gerhard Schröder mit den Grünen 1998 gemacht haben.

Prof. Volker Riegger

Was ist für Sie im Wahlkampf entscheidend?
Viele verstehen bis heute nicht, dass ein Bundestagswahlkampf nicht primär über eine Person oder bestimmte Sachfragen entschieden wird. Das ist immer noch ein blinder Fleck bei vielen journalistischen und wissenschaftlichen Beobachtern von Wahlkämpfen. So war das auch 1976 bei Helmut Schmidt, der uns damals gesagt hat: „Wir müssen den Menschen sagen, was wir alles für sie geleistet haben, dann werden sie uns auch wählen.“ Das war natürlich totaler Unsinn, von dem er sich durch nichts und niemanden hat abbringen lassen. Denn Dankbarkeit ist in der Politik keine Kategorie. Die Menschen wählen richtigerweise mit dem Blick nach vorn. Churchill, der Retter Englands, ist trotz des unter seiner Führung siegreich überstandenen Krieges gegen Nazi-Deutschland unmittelbar danach abgewählt worden.

Wie werden denn dann Wahlen gewonnen, wenn Personen und Sachfragen nicht den Ausschlag geben?
Entscheidend ist, wem es besser gelingt, ihm und seiner Sache wohlgesinnte Menschen anzusprechen, einzubinden, zu bewegen und zum Wählen zu bringen. Umgekehrt gehört natürlich auch dazu, diese Mobilisierung bei der politischen Konkurrenz zu hemmen. In Deutschland regiert seit 2005 die ungekrönte Königin in dieser politischen Disziplin.

Sie meinen Angela Merkel?
Niemand ist so brillant wie sie beim Hacking von Themen der Konkurrenz, in der Konfrontationsverweigerung und in allen Spielarten des Einschläferns jener, die sie garantiert nie wählen werden.

Im Wahlkampf müssen die Gefühle der Menschen angesprochen werden. Wie macht Merkel das?
Merkel versucht bis heute, den Menschen das Gefühl zu vermitteln: Mit mir als Bundeskanzlerin könnt ihr ruhig schlafen. Von mir aus dürft ihr euch gern um eure eigenen Sachen kümmern. Das mit der Politik mach ich schon – ihr müsst mich einfach nur machen lassen.

Ist so ein Politikstil noch zeitgemäß?
Nein, diese Phase ist beendet.

Woran machen Sie das fest?
Am ungelösten Euro-Problem und an der Flüchtlingskrise. Jetzt sind die Menschen da, man kann sie auf der Straße sehen. Man kann sehen, dass das nicht mehr funktioniert mit dem „Lasst mich nur machen“ auch wenn es diesmal semantisch in ein „Wir schaffen das“ verpackt worden ist. Die Bürger haben angesichts der offenen Grenzen einen staatlichen Kontrollverlust beobachtet. Das ist das Schlimmste, was einer politischen Autorität passieren kann.

Hätte Ihr ehemaliger Chef Schmidt auf die Flüchtlingskrise anders agiert?
Vor seinem Tod ist er noch gefragt worden, wie er sich verhalten hätte, als die Flüchtlinge am Budapester Bahnhof festsaßen. Er meinte, ein deutscher Bundeskanzler könne in einer solchen Situation wohl nicht anders handeln, als die Ungarn zu entlasten und diese Flüchtlinge bei uns aufzunehmen.

Er hätte es also genauso gemacht wie Merkel?
Nein, vor allem danach nicht. Anstatt wie Merkel einfach die anrührenden Bilder wochenlang wirken zu lassen, die vermittelt haben, dass alle herzlich willkommen bei uns sind, hätte Helmut Schmidt sofort an die Menschen an vorderster Front gedacht. Er hätte – so wie er es 1977 im deutschen Herbst des Terrors der RAF gemacht hat - umgehend die betroffenen Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten, die sich letztes Jahr sehr allein gelassen gefühlt haben, ins Kanzleramt gerufen, um mit ihnen die Lage zu besprechen und dabei nach außen klar zu machen, dass die deutschen Grenzen zu respektieren sind.

Wie erklären Sie sich, dass dies versäumt worden ist?
Die für mich am meisten naheliegende Erklärung ist, dass Merkel die Reflexe fehlen, die man sich in der Kommunalpolitik oder in anderen Bereichen aneignet, in denen man ganz nah und praktisch mit Menschen zu tun hat. Jeder mit solchen Erfahrungen hat vermutlich gesehen, dass das so heroisch klingende und ein gutes Gefühl machende „Wir schaffen das“ angesichts der Dimension des Problems ein Pfeifen im Walde war.

Hätte sie den Friedensnobelpreis dennoch verdient? In diesem Jahr zählt die Kanzlerin wieder zu den Favoriten.
Ich würde mich mit ihr und für uns Deutsche herzlich darüber freuen. Dafür spricht allein schon, wie sie damals in der Ukrainekrise agiert hat, auch gegen die USA, und wie sie heute als weiblicher Sisyphos versucht, Europa zusammenzuhalten. Damit macht sie ihre wenig rühmliche Rolle im Irakkrieg vergessen, als sie in Washington dem damals aufs äußerste bedrängten Kanzler Gerhard Schröder öffentlich in den Rücken gefallen war. Für seinen Mut, seine Standfestigkeit und Weitsicht mit Blick auf den Krieg im Irak hätte er den Preis mehr als jeder andere verdient.

Volker Riegger war von 1972 bis 1986 Leiter der Abteilung Politische Planung, Wahlen und Öffentlichkeitsarbeit beim Vorstand der SPD in Bonn. Seit 1986 lehrt er Strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste Berlin. Von 1989 bis 2015 war er Vorstand der von ihm gegründeten logos Holding AG für Unternehmenskommunikation und -beratung in München.

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