Bundestagsdebatte zum Migrationspakt - Im Schützengraben der Selbstgerechtigkeit

Bei der Debatte um den UN-Migrationspakt steuerten die Abgeordneten zwischen Holocaust-Vergleichen und gegenseitigen Vorwürfen zielsicher an den eigentlichen Fragen vorbei. So vergaben sie die Chance auf eine echte inhaltliche Auseinandersetzung. Von Alexander Kissler

Der SPD-Abgeordnete Christoph Matschie warf der AfD vor „Hass und Angst zu schüren“ / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Auf dem Stundenplan des Deutschen Bundestags standen heute 90 Minuten Textarbeit. Grundlage war ein auf Englisch verfasstes, in seiner deutschen Übersetzung 32 Seiten umfassendes „Ergebnisdokument“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit dem Titel: „Globaler Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“. Er soll Mitte Dezember in Marrakesch verabschiedet werden. Die heutigen Redebeiträge wandten sich gegen „Verschwörungstheorien“, gegen „Angstmache vor Migration“, gegen „permanenten Nazi-Jargon im Hohen Haus“, orteten eine „niederträchtige Schweinerei“ und erinnerten an den „millionenfachen Mord“ durch die Nationalsozialisten. Aus alldem ergibt sich unmittelbar: Es war die AfD, auf deren Antrag über den „Globalen Pakt“ debattiert wurde.

Schelte für die AfD

Doch war es wirklich eine Debatte über den Migrationspakt, eine Textarbeit, die den Namen verdiente, oder nicht eher ein Sittengemälde aus dem argumentativen Schützengraben? Die habituelle Soforteskalation überlagerte jene drei Fragen, die den Kern der Debatte hätten bilden können und die in den anderthalb Stunden oft nur am Rand gestreift wurden: Welche Qualität hat ein solcher „Globaler Pakt“? An wen ist er gerichtet? Und was steht eigentlich drin?

Schon bei der ersten Frage taten sich unter denen, die ihn befürworten, gravierende Unterschiede auf. Lars Castellucci (SPD), Professor für Nachhaltiges Management, insbesondere Integrations- und Diversity Management in Mannheim, verwandte einen Großteil der Redezeit auf den „Missbrauch“ des Parlaments durch die AfD, die eine „verfassungsfeindliche Agenda“ betreibe und einen „permanenten Nazi-Jargon“ pflege. Der Migrationspakt sei ein „unverbindlicher Pakt, der nicht einmal unterschrieben wird“. Ganz anders sah es sein Parteifreund Christoph Matschie, der den Pakt einen „internationalen Vertrag“ nannte. Als solcher hätte er weit größere Bindekräfte.

Auch Matschie, studierter evangelischer Theologe aus Thüringen, schalt laut die AfD, der es nicht um „unser Land“ gehe, sondern nur darum, „Hass und Angst zu schüren“. Deshalb müsse er am Vortag des Gedenkens an die Reichspogromnacht daran erinnern, dass einst mit brennenden Synagogen „millionenfacher Mord“ begann. Heute lege die AfD Feuer, „Sie hetzen Menschen gegeneinander auf!“ Matschie hatte einen Abgang mit Effekt, der indes die Frage nach dem Charakter und dem Inhalt des Migrationspakts nicht berührte. Mit seiner These vom bindenden „internationalen Vertrag“ stand Matschie bemerkenswert nahe bei der gescholtenen AfD.

Migration als Menschenrecht?

Deren Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland, Publizist aus Brandenburg, sah in den „unverbindlichen Verpflichtungen“ des Migrationspakts ein „hölzernes Eisen“, ein sachlogisch unmögliches Ding. Die „Preisgabe der Souveränität unseres Landes“ drohe, das vom Nationalstaat zum „Siedlungsgebiet“ umgeschmolzen werden solle. Der Pakt betrachte Migration ausschließlich positiv und ausschließlich aus der Sicht der Migranten und sei „der erste Schritt, Migration zu einem Menschenrecht zu machen, das Staatenrecht übersteigt und zu einem Völkergewohnheitsrecht wird“. Fraktionskollege Martin Hebner, IT-Unternehmensberater aus Bayern, lobte die Ablehnung des Paktes durch Österreich als „klug und besonnen“ und entdeckte im Text die Erfindung von speziellen „Migrantenmenschenrechten“, die es gar nicht gebe. Ein „valides Einwanderungsgesetz“ sei dringend geboten.

Vor der Sitzung gab es auch aus den Reihen der Union kritische Stimmen zum Pakt, etwa durch den CDU-Abgeordneten Marian Wendt. Ans Rednerpult traten heute ausschließlich Befürworter. Sie bekräftigten den unverbindlichen Status des Papiers, das „im nationalen Interesse Deutschlands“ liege, weil so „die Anreize, nach Deutschland zu kommen“, zurückgingen. Keinen Anlass gebe es zur „Angstmache vor Migration“ – erklärte Stephan Harbarth (CDU), Rechtsanwalt aus Heidelberg, der als Hauptadressaten des Pakts die Länder außerhalb Deutschlands ausmachte. Die Lage „andernorts“ solle verbessert werden, etwa durch den erleichterten „Zugang zur Gesundheitsvorsorge“. Ins gleiche Horn stießen Frank Steffel (CDU), Kaufmann in Berlin, und Michael Kuffer (CSU), Rechtsanwalt in München: „Andere Staaten“ sollten sich dank des Paktes „deutschen Standards“ annähern. Offen blieb die Frage nach der realistischen Perspektive für eine vereinte globale Niveauanhebung: Auf welchen Pfaden zwischen Mogadischu, Asmara und Lahore, mit welchen Geldern?

„Nützlichkeitsrassimus“ und „dumpfe Vorurteile“

Frank Steffel durchbrach als einziger Abgeordneter von CDU, CSU, Grünen, Linkspartei und FDP das informelle Embargo und ließ eine Nachfrage der AfD zu – die diese freilich in Gestalt von Martin Erwin Renner brachial verzockte, indem Renner die despektierliche Alternative aufwarf, Steffel müsse wohl getrieben sein von der Liebe zum Fremden oder dem Hass auf das Eigene. Steffel setzte die Eskalationsfestspiele fort und empörte sich in Richtung AfD über „dumpfe Vorurteile“ und „die niederträchtige Schweinerei Ihrer Politik“. Da war der Vorwurf Sevim Dağdelens von der Linkspartei, einer Journalistin aus Duisburg, fast schon elegant, die AfD kultiviere einen „Nützlichkeitsrassimus“, wenn sie nach erwünschten und unerwünschten Migranten unterscheide.

Die dritte Frage, die Kernfrage nach dem Inhalt des zu debattierenden Textes, wurde dann wie letztlich der gesamte Antrag „Kein Beitritt zum Global Compact for Migration durch die Bundesrepublik Deutschland“ zur weiteren Befassung in den Auswärtigen Ausschuss verwiesen. So viel wir auch hörten und sahen in der Länge eines Fußballspiels: Zur Arbeit am Text war fast niemand bereit. Derart gemütlich hatte man es sich eingerichtet im Schützengraben der Selbstgerechtigkeit, dass wir nicht erfuhren: Ab wann will die Bundesregierung, wie es der Pakt vorsieht, „Arbeitsmigranten aller Qualifikationsniveaus (…) Zugang zu Sozialschutz“ gewähren? Aus welchem Ministerium sollen die Mittel stammen, um „die öffentliche Wahrnehmung des positiven Beitrags einer sicheren, geordneten und regulären Migration zu gestalten“? Und was bedeutet es für den mühsam errungenen migrationspolitischen Kompromiss der Regierung, wenn künftig „für Migranten auf allen Qualifikationsniveaus“ der „Zugang zu Verfahren der Familienzusammenführung“ erleichtert werden soll?

Nein, es war keine parlamentarische Sternstunde heute in Berlin. Es war eine verpasste Gelegenheit.

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