Bundestag - „Baumwollpflücker konnten sich beschweren, aber nicht wir“

Nachdem zwei Abgeordnete im Bundestags zusammengebrochen sind, hat die Politikerin Anke Domscheit-Berg die Arbeitsbedingungen im Parlament als „menschenfeindlich“ bezeichnet. Der SPD-Abgeordnete Fritz Felgentreu widerspricht ihr. Aus Angst vor dem Zorn der Bürger?

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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Fritz Felgentreu sitzt seit 2013 für die SPD im Bundestag. Davor war der Lehrer für Latein und Altgriechisch zehn Jahre Kreisvorsitzender der SPD in Berlin-Neukölln und stellvertretender Vorsitzender der Berliner SPD. 

Herr Felgentreu, Sie sitzen seit 2013 für die SPD im Bundestag. Haben Sie sich schon mal dabei ertappt, dass Sie im Bundestag kurz eingenickt sind?
Nein, das ist mir noch nicht passiert. Aber ich war schon oft ziemlich müde. Es kommt vor, das man nur zwei, drei Stunden Schlaf kriegt, weil die Sitzung am Vorabend so lange war und weil es am nächsten Tag früh losgeht.  

Was waren Ihre härtesten Nächte? 
Donnerstags kommt es vor, dass ich erst um zwei Uhr morgens zu Hause bin. Ich kann mich dann aber nicht einfach hinlegen und einschlafen. Ich muss dann erstmal wieder runterkommen. Am Freitag geht die erste Sitzung aber schon um 7.30 Uhr los. Dazwischen muss ich meine Tochter noch für die Schule fertigmachen. 

Am vergangenen Donnerstag ist ein CDU-Kollege kurz vor dem Ende seiner Rede zusammengebrochen, eine Politikerin der Linken hatte wenig später einen Schwächeanfall. Abgeordnete haben berichtet, auch sie führe der Sitzungsmarathon an den Donnerstagen an eine Grenze. Was war an diesem Tag im Bundestag los? 
Beide Zusammenbrüche passierten tagsüber. Über die Ursachen möchte ich nicht spekulieren. 

Wie sah die Tagesordnung für diesen Tag denn aus?
Für mich ging es um 8.30 Uhr los mit der Obleute-Runde zur Vorbesprechung des Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. Gegen zwei Uhr morgens war ich wieder zu Hause. Wobei ich etwas früher aufgebrochen bin. Die Bundestagssitzung ging bis halb drei. 

Ist das nur donnerstags so?
Ja, diese Taktung  hat das Präsidium gewählt, um die verschiedenen Themenblöcke abzuarbeiten. Wir versuchen das aber zu entzerren, indem wir einige der Gesetzesentwürfe, über die wir bislang am Donnerstag diskutiert haben, auf den Mittwochnachmittag vorverlegen. Die Plenarsitzungen sind aber nur alle zwei Wochen. Die andere Hälfte des Jahres ist für Termine im Wahlkreis frei. Solche Termine gehören ja auch zu den Aufgaben eines Bundestagsabgeordneten.  

Die FDP hat angeregt, elektronische Geräte für namentliche Abstimmungen einzuführen. Würde die Abgeordneten das entlasten?
Im Abgeordnetenhaus von Berlin gibt es das schon. Es beschleunigt diese Abstimmungen sehr. 

Die parteilose Abgeordnete Anke Domscheit-Berg von den Linken hat von „menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen“ gesprochen. Sie kritisierte, man könne während der Sitzungen nicht mal etwas trinken. Sie teilen ihre Kritik nicht. Warum nicht? 
Niemand muss ununterbrochen sitzen. Jeder kann zwischendurch rausgehen, um etwas zu essen oder zu trinken. Unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen stelle ich mir die Arbeit im Salzbergwerk vor. Es ist zwar ein anstrengender Job, den wir machen. Aber unmenschlich wäre etwas anderes. 

Körperliche Maloche?
Die Baumwollpflücker auf den Plantagen in den Südstaaten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg konnten sich über unmenschliche Arbeitsbedingungen beschweren, aber nicht wir. 

Wie sieht es mit der Krankenschwester in Neukölln aus?
Was Krankenschwestern leisten, verdient großen Respekt. Wir Abgeordneten haben einen Job, der uns auch Freiräume für kurze Erholungspausen lässt.

Wieviele Stunden arbeiten Sie denn pro Woche?
In den Plenarwochen habe ich eine 70-Stunden-Woche. Die langen Sitzungen stellen hohe körperliche Anforderungen. Ich versuche, viel Fahrrad zu fahren, um mir mit körperlicher Bewegung einen Ausgleich zu schaffen. Und ich schalte zwischendurch auch mal eine Viertelstunde ab und spiele online eine Partie Schach. 

Arbeiten alle so viel wie Sie?
Jeder Abgeordnete muss sich seine Arbeitszeit selbst einteilen. Wir haben keinen Chef und im engeren Sinne keinen Dienstplan. Es gibt bestimmte Pflichttermine, aber es gibt niemanden, der die Teilnahme erzwingen kann. Nach meiner Erfahrung nehmen aber alle Kollegen diese Termine wahr. Wer in den Bundestag geht, ist normalerweise auch bereit, dieses Engagement mitzubringen. Es gibt sicherlich Fleißigere und Faule wie in jedem Beruf. 

Fritz Felgentreu / picture alliance 

 

Aber Sie kennen doch bestimmt Kollegen, die als Drückeberger gelten.
Nein, im Augenblick fiele mir da keiner ein. Ganz ehrlich nicht. Ich erinnere mich aber daran, dass vor einigen Legislaturperioden ein gewisser Fürst Bismarck aus der Union diesen unrühmlichen Ruf hatte. 

Bundestagsabgeordnete verdienen rund 10.000 Euro im Monat brutto. Kann man so viel Engagement für das Geld nicht auch erwarten? 
Ich kann mich über das Geld nicht beklagen. Wie die meisten anderen habe ich in meinem Beruf als Lehrer weniger verdient, bevor ich Abgeordneter geworden bin. Für mich war das Geld aber nicht der Anreiz, um mich für ein Bundestagsmandat zu bewerben. Das Entscheidende ist doch die Möglichkeit, als Politiker an diesem wichtigen Ort arbeiten zu können. 

Es ist ein privilegierter Job. Können Sie verstehen, dass Ihr Einkommen bei vielen Bürgern Neid weckt? 
Wir sind tatsächlich der einzige Berufsstand, der über die Höhe des eigenen Einkommens selbst entscheidet. Die oft kritisierten jährlichen Erhöhungen gibt es aber schon seit einigen Jahren nicht mehr. In der vorletzten Legislaturperiode hat eine Kommission entschieden, dass sich die Diäten an der Höhe des Einkommens von Bundesrichtern orientieren sollten. Seither legt der Bundestag die Diäten am Anfang jeder Legislaturperiode einmal fest, danach entwickeln sich die Diäten nach dem allgemeinen Lohn-Index. Wenn der Durchschnittslohn steigt, steigen die Diäten. Wenn er sinkt, sinken sie. Die Anpassung erfolgt automatisch immer am 1. Juli. 

Warum können Sie nicht ebenso leicht etwas an den Arbeitsbedingungen ändern? 
Weil wir keinen Chef haben. Das Arbeitsaufkommen richtet sich nach den Arbeitsanträgen, die die Fraktionen stellen. In diesem Bundestag sitzen mit der AfD und der FDP zwei Fraktionen mehr, das heißt, es gibt auch mehr Anträge – sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen. Die müssen abgearbeitet werden. Das ist eine Gewissensentscheidung. 

Was meinen Sie damit? 
Wenn ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, könnte ich auch den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und gar nichts machen. 

Aber dann würden Sie nicht wiedergewählt werden.
Genau, und darum macht es ja auch keiner. Ich glaube, dass Parteien nur solche Kollegen für den Bundestag vorschlagen, von denen sie wissen, dass sie eben nicht so arbeiten. 

Ist das höhere Arbeitsaufkommen durch den Einzug der FDP und der AfD in den Bundestag der einzige Grund, warum der Druck im Bundestag gewachsen ist?
Es ist der Hauptgrund. Daneben ist das politische Klima aber insgesamt rauer geworden, weil mit der AfD ein anderer Stil der politischen Auseinandersetzung eingezogen ist. 

Sind Sie schon mal beleidigt worden?
Ich nicht, aber ich bin Zeuge geworden, wie das passiert ist. Es geht aber nicht nur um Pöbeleien. Es geht auch um eine Nichteinhaltung parlamentarischer Gepflogenheiten. 

Geht das nur von der AfD aus?
Aus meiner Sicht: ganz klar ja. Ganz typisch dafür war, wie die AfD auf die Abwahl ihres Abgeordneten Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses reagiert hat. Journalisten lächerlich zu machen, das ist genau der Stil der AfD. Der lässt sich auch auf die politischen Themen herunterbrechen, die am Ende immer auf die nationalistischen Kernfragen und auf den Umgang mit der Migration hinauslaufen. Aber auch im persönlichen Umgang ist das eben die Art, wie die AfD arbeitet. 

Wie reagieren Sie darauf? Ignorieren? Oder die Auseinandersetzung suchen?
Ich habe meinen eigenen Stil. Ich versuche, höflich im Ton und hart in der Sache zu sein. 

Welcher der Stressfaktoren nervt Sie am meisten?
Ich finde es unnötig, zu später Stunde zu diskutieren, wenn klar ist, dass es dafür keine Öffentlichkeit mehr gibt.

Sie spielen wieder auf die AfD an?
Bei der Partei geht es gar nicht um den parlamentarischen Schlagabtausch. Ihre Abgeordneten halten Schaufensterreden für ihre Kanäle in den sozialen Medien. Dafür ist die Uhrzeit natürlich völlig egal. Es geht nur um den kleinen Film, und dem sieht man nicht an, wann er gedreht wurde. Das ist natürlich auch eine Stilfrage: Ist das ein angemessener Umgang mit dem Parlament? 

Kann es sein, dass das Gejammer um die Arbeitsbelastung in Wirklichkeit Ausdruck eines Mangels an Wertschätzung ist?
Ich kann da nur für mich sprechen. Ich habe nicht das Gefühl, dass meine Arbeit nicht anerkannt wird. Wenn ich in die Politik gehe, weiß ich, dass es Menschen gibt, die meine Arbeit ganz fürchterlich finden und darüber schimpfen – und dass es andere gibt, die sie gut finden. Solange ich von meiner Partei aufgestellt und von der Bevölkerung in meinem Wahlkreis gewählt werde, bekomme ich die Wertschätzung, die ich brauche. 

Auch von den Medien?
Die sind immer kritisch gewesen, aber das gehört zu den Arbeitsbedingungen dazu. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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